Vor einigen Tagen sorgte die Veröffentlichung einer empirischen Studie zum Linksextremismus – begleitet von einigen Presseartikeln – für Furore. Mir liegt bisher nur die Pressemitteilung (hier die recht ausführliche Langfassung) der FU Berlin zu der Studie von Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder vor; die Studie selbst ist als Buch für rund 30 Euro erhältlich. Ich nutze sie als Einstieg für eine Debatte über Ideale, Zivilgesellschaft und Parlamente.
Kurz: Was mündige BürgerInnen wissen – und was nicht
Vor ein paar Tagen bin ich über einen Guardian-Bericht zu einer Umfrage* darüber gestolpert, was die (in diesem Fall britische) Öffentlichkeit an sozialen Problemlagen gravierend falsch einschätzt. Beispielsweise wird die Zahl der Teenagerschwangerschaften um den Faktor 25 überschätzt, die sinkende Kriminalitätsrate fälschlich als steigend bewertet und der missbräuchliche Bezug von Sozialleistungen sogar um den Faktor 34 überschätzt (Ergebnis der Umfrage ist die Annahme, dass ein Viertel der Sozialleistungen missbräuchlich ausgezahlt wird, tatsächlich sind es wohl 0,7 Prozent). Und so geht es munter weiter – Details sind auf der Seite des Umfrageinstituts nachlesbar.
Ob das in Deutschland genau so aussehen würde, weiß ich nicht – vermutlich spielen der Bildungsgrad der Bevölkerung ebenso wie die Relevanz des Boulevard-Journalismus eine wichtige Rolle dafür, wie verzerrt das öffentliche Bild der sozialen Wirklichkeit ist. Tendenziell vermute ich aber, dass hierzulande ähnliche Fehleinschätzungen nachzuweisen wären – der berühmte „Stammtisch“ existiert. Aber es ist nicht nur der Stammtisch (zumindest fehlt auf der Umfrageseite eine Aufschlüselung der Abweichungen nach Klasse, Bildungsgrad oder ähnlichen Variablen), sondern eben doch die öffentliche Meinung, die dann journalistisch wiedergekäut und weiterverbreitet wird. Ressentiments und Vorurteile finden sich eben auch in „bildungsbürgerlichen“ Talkshows. Und das lässt mich einigermaßen ratlos zurück.**
Denn, wenn dem so ist, dass ein großer Teil der öffentlichen Relevanzsetzung an den tatsächlichen Fakten vorbeigeht, was ist dann davon zu halten? Wahlrecht hängt nicht am Informiertsein, und das ist aus demokratischer Sicht zunächst einmal auch gut so. Aber sowohl Wahlkampfschwerpunkte als auch Wahlergebnisse bauen natürlich auf derartigen verfälschen Problemwahrnehmungen auf – absichtlich manipulativ, oder deswegen, weil eben auch in Parlamenten und Parteien Fehleinschätzungen der realen sozialen Problemlagen existieren. Politisch gewichtig ist, was wichtig scheint. Abgeordnete, Medien und BürgerInnen tragen dann oft gemeinsam dazu bei, gefühlte Problemlagen so zu verfestigen, dass der öffentliche Diskurs plötzlich das Handeln in einem Feld als alternativlos erscheinen lässt. Und schon scheint das Boot voll zu sein.
* Ipsos MORI hat 1015 Personen zwischen 16 und 75 Jahren online befragt und die Ergebnisse so gewichtet, dass sie zum soziodemographischen Profil der Gesamtbevölkerung passen. Nicht wirklich eine Repräsentativbefragung, aber auch nicht ganz vom Tisch zu wischen …
** Eigene Fehlwahrnehmungen natürlich nicht ausgeschlossen – was die Sache nicht besser macht
Kurz: Diäten nach Tarif
Alle paar Monate erhöht das eine oder andere Parlament die Diäten für die Abgeordneten (oder verzichtet, wie gerade das Kabinett, weitgehend auf eine Erhöhung der Bezüge der BundesministerInnen). Gerade im Kontext des Sparpakets liegt es natürlich jetzt nahe, sich die Frage zu stellen, wie hoch den eigentlich die Bezüge für Abgeordnete und MinisterInnen sein dürfen, ohne ungerecht zu werden. Darauf will ich jetzt aber gar nicht eingehen, sondern schlicht die Frage stellen, warum Parlamente eigentlich selbst über die Diäten der ParlamentarierInnen entscheiden. Einerseits klingt das erstmal sinnvoll – Haushaltshoheit des Parlaments usw. Andererseits liegt da aber die Assoziation Selbstbedienungsladen nahe.
Keine Ahnung, ob so etwas politisch durchsetzbar ist: aber wenn wir Abgeordnete als „DienerInnen“ des Volkes betrachten, dann sind sie eigentlich sowas wie Angestellte der öffentlichen Hand oder BeamtInnen auf Zeit. Was spricht dagegen, das dann auch hinsichtlich der Diäten umzusetzen – und festzulegen, dass die Abgeordneten (faktisch ja eher Selbstständige …) und die MinisterInnen in Anlehnung an BAT bzw. heute TV‑L/TVöD etc. bezahlt werden? Und zwar dynamisiert – also gebunden an die Ergebnisse der jeweiligen Tarifverhandlungen zwischen öffentlichen Arbeitgebern und den Gewerkschaften?
Damit würde die Notwendigkeit entfallen, dass Parlamente fortlaufend neu über die Diäten entscheiden. Gleichzeitig wäre ein großer Anreiz dar, die öffentlichen Tarifverhandlungen mit sinnvollen Ergebnissen zu führen.
P.S.: Ja, ich weiss, dass Abgeordnete nicht „Dienst nach Vorschrift“ machen, eher 50–60 Stunden pro Woche arbeiten, und erhebliche Aufwendungen für ihre Büros haben. Deswegen steht da oben auch nicht „nach TVöD“, sondern „in Anlehnung an ..:“.
P.P.S.: Anja Schillhaneck hat für Berlin und Andrea Lindlohr hat für Baden-Württemberg darauf hingewiesen, dass dort die Diäten jeweils an die Entwicklung der allgemeinen Löhne und Gehälter gekoppelt sind. In BaWü scheint dafür der Zeitraum ein Jahr zuvor herangezogen zu werden – was dazu führt, dass die baden-württembergischen Diäten „zum 1. Juli 2010 von derzeit 5.125 Euro um 1,53 Prozent auf 5.047 Euro pro Monat gekürzt werden“. Klingt nach einem sinnvollen System – trotzdem bleibe ich dabei, dass eine Kopplung an die öffentlichen Tarifverträge auch eine interessante Anreizwirkung hätte.