Zukunft wird aus Mut gemacht – eine erste Einschätzung

„Lie­be wird aus Mut gemacht“, heißt es bei Nena (und spä­ter bei Jan Delay). Dass der ges­tern vor­ge­leg­te Ent­wurf für das grü­ne Bun­des­tags­wahl­pro­gramm 2017 unter dem Mot­to „Zukunft wird aus Mut gemacht“ steht, dürf­te damit durch­aus etwas zu tun haben. Wie dem auch sei: die­se fünf Wor­te kon­zen­trie­ren aus mei­ner Sicht sehr gelun­gen die Hal­tung, mit der wir Grü­ne in die Bun­des­tags­wahl zie­hen (soll­ten) – zukunfts­ori­en­tiert, auf Lösun­gen aus, opti­mis­tisch, unver­zagt – und mit Hirn und Herz.

Wer sich selbst über den Ent­wurf des Wahl­pro­gramms infor­mie­ren will, kann das auf der grü­nen Web­site tun. Beschlos­sen wird das Pro­gramm auf einer Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz im Juni. Wie immer wird es dafür Ände­rungs­an­trä­ge geben; dies­mal mit Vor­lauf und der Not­wen­dig­keit, sie über das Tool Antrags­grün ein­zu­brin­gen. Ich bin gespannt, ob die Zahl der Ände­rungs­an­trä­ge ähn­li­che Höhen erreicht wie bei den letz­ten Bun­des­tags­wahl­pro­gram­men, oder ob sie dies­mal hand­hab­ba­rer und damit demo­kra­ti­scher ausfällt.

Denn eini­ges ist anders: mutig und mit fri­schem Grün ist nicht nur das Mot­to, mit dem Pro­gramm­ent­wurf vor­ge­stellt wur­de, son­dern auch die Ton­la­ge und der Auf­bau des Pro­gramms unter­schei­den sich deut­lich von frü­he­ren Jah­ren. Das Pro­gramm ist spür­bar kür­zer. Der Anspruch ist nicht Voll­stän­dig­keit, und erst recht nicht – wie 2013 – die bis aufs letz­te Kom­ma durch­ge­rech­ne­te Kon­zept­prä­sen­ta­ti­on, son­dern es geht dar­um, zum einen grü­ne Zie­le dar­zu­stel­len, und zum ande­ren um ganz kon­kre­te, in der nächs­ten Bun­des­re­gie­rung umsetz­ba­re Pro­jek­te, die dazu bei­tra­gen, die­se Zie­le zu verwirklichen. 

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Niemand braucht eine grüne Wildwasserfahrt

Dark sun

Irgend­wie hat­te ich ja die Hoff­nung, dass 2017 bes­ser begin­nen wür­de, als 2016 ende­te. Vor­weih­nachts­stress, Weih­nach­ten, Nach­weih­nachts­ur­laub mit den Kin­dern, dann noch ein paar Tage kin­der­frei, die ich zum Aus­ku­rie­ren einer Erkäl­tung und zum Umde­ko­rie­ren mei­ner Woh­nung genutzt habe. Ab Mon­tag geht dann der Arbeits­all­tag, d.h. für mich auch, die Poli­tik, wie­der los. Ziem­lich viel Zeit, um das Netz (und die Poli­tik) mal weit­ge­hend zu ignorieren.*

Nach die­ser Pau­se kommt mir die poli­ti­sche Lage schrill, laut und absto­ßend vor. Zum Teil liegt das an den objek­ti­ven Fak­ten, etwa an den Umfra­ge­zah­len für die AfD, an diver­sen poli­ti­schen Vor­ha­ben der Bun­des­re­gie­rung, oder auch an der sich rapi­de nähern­den Prä­si­dent­schaft Donald Trumps, die bis­her nicht so aus­sieht, als wür­den sich irgend­wel­che Hoff­nun­gen auf „Nor­ma­li­sie­rung“ erfül­len. (Sie­he auch Charles Stross’ Pro­gno­se für 2017). Zum Teil liegt es aber auch an Ton­art und Laut­stär­ke. Die ist nicht nur auf Twit­ter und Face­book schlim­mer, als ich sie in Erin­ne­rung hat­te, son­dern auch in dem, was die Mas­sen­me­di­en dann dar­aus machen. 

2017 ist ein Bun­des­tags­wahl­jahr. Die inner- wie zwi­schen­par­tei­li­che Meta­pher des Jah­res scheint Auf­rüs­tung zu wer­den. An Laut­stär­ke und Schrill­heit der For­de­run­gen. Mit einem gewis­sen Touch „AfD“. Ist es denn wirk­lich so, dass die inne­re Sicher­heit das Top-The­ma sein wird, dass die Bun­des­tags­wahl 2017 ent­schei­det? Und wenn es so ist (ich bin nicht über­zeugt), wäre das nicht gera­de ein The­ma, in dem es wenig hilft, wenn alle das glei­che for­dern? Haben wir Grü­ne innen­po­li­ti­sche Kon­zep­te, die unse­re poten­zi­el­len links­li­be­ra­len bis mit­ti­gen Wähler*innen über­zeu­gen, uns im Herbst 2017 die Stim­me zu geben?

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Was ich mir von der BDK wünsche

Sunflower trio

Am nächs­ten Wochen­en­de fin­det von Frei­tag bis Sonn­tag die 40. ordent­li­che Bun­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz von Bünd­nis 90/Die Grü­nen (kurz: BDK) in Müns­ter statt, also unser Bun­des­par­tei­tag. Ich bin einer von rund 750 Dele­gier­ten, die an die­sem Wochen­en­de über die grü­ne Posi­ti­on zu Ener­gie- und Ver­kehrs­wen­de, zur Welt­an­schau­ungs­po­li­tik, zum sozia­len Zusam­men­halt und zur Euro­pa­po­li­tik bera­ten, die Urwahl-Kandidat*innen anhö­ren, in Work­shops über Schlüs­sel­pro­jek­te zur Bun­des­tags­wahl 2017 dis­ku­tie­ren wer­den, das grü­ne Frau­en­sta­tut fei­ern und vie­les mehr. Zu den Leit­an­trä­gen gibt es unzäh­li­ge Ände­rungs­an­trä­ge, und ein paar Dut­zend V‑Anträge zu allen mög­li­chen The­men wur­den auch eingereicht.

Am Wochen­en­de danach fin­det die Lan­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz der baden-würt­tem­ber­gi­schen Grü­nen statt. Nur Sams­tag und Sonn­tag, und vor allem mit Wah­len voll­ge­stopft – diver­se Nach­wah­len zum Lan­des­vor­stand und ins­be­son­de­re die Wahl der baden-würt­tem­ber­gi­schen Lan­des­lis­te für die Bun­des­tags­wahl 2017. Es zeich­net sich ab, dass es sehr viel mehr Bewerber*innen als aus­sichts­rei­che Plät­ze gibt. Unter ande­rem will die kom­plet­te baden-würt­tem­ber­gi­sche Lan­des­grup­pe wie­der antre­ten, diver­se ehe­ma­li­ge MdB hof­fen auf einen erneu­ten Ein­zug, und aus den Kreis­ver­bän­den und Regio­nen gibt es wei­te­re star­ke Kandidat*innen. Wer nach­le­sen möch­te, wie das abläuft, kann das in mei­nem Bericht zur Lis­ten­auf­stel­lungs-LDK 2012 tun. Und ja: auch dies­mal steht wie­der ein heiß dis­ku­tier­tes hoch­schul­po­li­ti­sches The­ma im Raum, und es ist durch­aus mög­lich, dass es dazu kon­tro­ver­se Anträ­ge geben wird.

Die LDK (die­ses Jahr in Schwä­bisch Gmünd) ist deut­lich klei­ner als die BDK, hier sind es nur rund 200 Dele­gier­te. Viel­leicht trägt das dazu bei, sie per­sön­li­cher zu machen. Viel­leicht ist es auch die gemein­sa­me Erfah­rung eines Lan­des­ver­ban­des mit rund 9000 Mit­glie­dern, der sich auf­ge­macht hat, das baden-würt­tem­ber­gi­sche Par­tei­en­sys­tem umzu­krem­peln, die hier Zusam­men­halt aus­drückt. Jeden­falls: mein Gefühl gegen­über der LDK – da wur­de ich eben­falls dele­giert – ist ein ganz ande­res als das gegen­über der BDK. Die LDK wird nicht ein­fach wer­den, aber ich bin sehr zuver­sicht­lich, dass am Schluss eine gute Lan­des­lis­te dasteht und bei den Dele­gier­ten das Gefühl vor­herrscht, gemein­sam pro­fes­sio­nell und mit gro­ßer Geschlos­sen­heit etwas geschafft zu haben. Bei der BDK bin ich mir da nicht so sicher. Es gibt sowas wie einen Kater nach dem Event – mit Gäs­ten und Journalist*innen über 1000 Men­schen in einer rie­si­gen Hal­le, Schein­wer­fer, grell­bun­te Back­drops, knal­li­ge Reden, Pro­mi­nenz aus dem Fern­se­hen live und in Far­be. Das kann ganz schön hoch­pu­shen. Um am Tag danach steht dann in den Schlag­zei­len der Zei­tun­gen etwas von Zer­würf­nis (oder alter­na­tiv: Ideen­lo­sig­keit), es wird dar­über spe­ku­liert, wer sich durch­ge­setzt hat, und es fin­det die­ses oder jenes Nach­tre­ten statt.

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Kurz: Vor dem Regierungsprogrammparteitag

Green cardMor­gen ab 11 Uhr star­tet unser Pro­gramm­par­tei­tag (aka „Lan­des­de­le­gier­ten­kon­fe­renz“ oder LDK) in Reut­lin­gen. Der Ent­wurf für das grü­ne Wahl­pro­gramm zur Land­tags­wahl 2015 in Baden-Würt­tem­berg wur­de im Vor­feld inten­siv dis­ku­tiert, ins­ge­samt wur­den über 400 Ände­rungs­an­trä­ge ein­ge­reicht. Für mich ist’s inso­fern ein beson­ders span­nen­der Par­tei­tag, als ich an der Redak­ti­ons­grup­pe betei­ligt war, die den ers­ten Ent­wurf für das Pro­gramm geschrie­ben hat. Der lief dann durch vie­le Gre­mi­en, und wird auch den Par­tei­tag noch ein­mal in deut­lich ver­än­der­ter Form ver­las­sen. Nach zwei Wochen inten­si­ver Ver­hand­lun­gen im Vor­feld des Par­tei­tags gibt es, aus­ge­hend von den 400 Ände­rungs­an­trä­gen, jede Men­ge Kom­pro­mis­se und Eini­gun­gen – und ein paar weni­ge, übrig­ge­blie­be­ne Abstim­mun­gen. Im Hoch­schul­ka­pi­tel wird es bei­spiels­wei­se um die Fra­ge einer Mas­ter­platz­ga­ran­tie und dar­um, ob es eine Aus­sa­ge zu Stu­di­en­ge­büh­ren für Stu­die­ren­de aus dem Nicht-EU-Aus­land geben soll. Bei ande­ren The­men – etwa mehr Trans­pa­renz hin­sicht­lich der Hoch­schul­haus­hal­te oder der Mög­lich­keit eines Teil­zeit­stu­di­ums – hat es (modi­fi­zier­te) Über­nah­men gege­ben. Wer es genau­er wis­sen will, fin­det alle Ver­fah­rens­über­sich­ten mit dem aktu­el­len Stand unter dem Link oben. Eini­ges wird sicher­lich auch erst auf dem Par­tei­tag aus­ver­han­delt werden.

Ich ken­ne mich da nicht so genau aus, aber ich glau­be, ande­re Par­tei­en gehen mit Ände­rungs­an­trä­gen anders um. Das fängt schon dabei an, dass bei uns nicht nur Kreis­ver­bän­de und Lan­des­ar­beits­ge­mein­schaf­ten antrags­be­rech­tigt sind, son­dern auch min­des­tens zehn ein­zel­ne Mit­glie­der (egal, ob dele­giert zur LDK oder nicht). Auch das erklärt die gro­ße Zahl an Ände­rungs­an­trä­gen. Die Antrags­kom­mis­si­on kann zu die­sen Anträ­gen letzt­lich nur drei Din­ge emp­feh­len: Über­nah­me (d.h. Auf­nah­me in den Pro­gramm­text ohne Ein­zel­ab­stim­mung), „modi­fi­zier­te Über­nah­me“ (nach Ver­hand­lun­gen mit den Antragsteller*innen wird nicht der eigent­li­che Ände­rungs­an­trag, son­dern z.B. eine gekürz­te und abge­schwäch­te Ver­si­on, die aber die Inten­ti­on der Antragsteller*innen trifft, in das Pro­gramm auf­ge­nom­men) sowie Abstim­mung (die rund 200 Dele­gier­ten ent­schei­den, ob der Ände­rungs­an­trag ins Pro­gramm kommt oder nicht). In die­sem Pro­zess kann es dazu kom­men, dass Anträ­ge als „erle­digt“ gekenn­zeich­net wer­den kön­nen, weil z.B. ein ähn­li­cher Ände­rungs­an­trag über­nom­men wur­de, und dass Antragsteller*innen ihre Anträ­ge zurück­zie­hen (die Grün­de dafür sind indi­vi­du­ell höchst unter­schied­lich). Was die Antrags­kom­mis­si­on nicht kann, was aber z.B. bei der SPD gang und gebe ist, ist eine Nicht­be­fas­sung oder eine Über­wei­sung an ein ande­res Par­tei­or­gan oder an die Frak­ti­on zu erzwingen. 

Inso­fern sieht die Par­tei­tags­re­gie auch rund zehn Stun­den für die Aus­spra­chen und Abstim­mun­gen zu den ein­zel­nen Pro­gramm­tei­len vor. Im Ergeb­nis wird’s ein arbeits­rei­cher Par­tei­tag, bei dem am Schluss ein Pro­gramm steht, das auf Ideen aus einem Betei­li­gungs­pro­zess – intern wie extern – basiert, vie­le Run­den durch Par­tei­gre­mi­en gedreht hat und auch mor­gen und über­mor­gen noch ein­mal an vie­len Stel­len ergänzt, ver­än­dert und über­ar­bei­tet wird. Danach haben wir dann eine aus­führ­li­che und inhalt­lich gute Grund­la­ge für den Wahl­kampf und für hof­fent­lich anste­hen­de Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen. Und weil wir mit ruhi­ger Hand an das Anknüp­fen wol­len, was in die­ser Legis­la­tur­pe­ri­ode erreicht wur­de, hat sich die Tona­li­tät im Ver­gleich zum letz­ten Pro­gramm deut­lich ver­än­dert: Es geht jetzt eher dar­um, Begon­ne­nes fort­zu­set­zen und dar­auf auf­zu­bau­en als um das gro­ße Fens­ter­auf­rei­ßen, das in Baden-Würt­tem­berg vor fünf Jah­ren noch drin­gend not­wen­dig war.

Smarte Parteien? Um welches Problem geht es eigentlich?

Convention tools

In den Reve­la­ti­on-Space-Büchern des Sci­ence-Fic­tion-Autors Alas­ta­ir Rey­nolds tau­chen am Ran­de die „Demar­chists“ auf – eine Grup­pe von Men­schen, die das Ide­al direk­ter Demo­kra­tie ver­wirk­licht haben: Ein Implan­tat im Kopf legt jedem und jeder stän­dig Ent­schei­dun­gen zur Abstim­mung vor. Demo­gra­phie und Demo­kra­tie gehen inein­an­der über, der Wil­le des Vol­kes ist die stän­dig aktua­li­sier­te Sum­me des Wil­lens der Ein­zel­nen. Deli­be­ra­ti­on fin­det dage­gen, soweit das die­ser Fik­ti­on zu ent­neh­men ist, eher nicht statt. Aber, einem Sci­ence-Fic­tion-Buch ist das ange­mes­sen, eigent­lich erfah­ren wir auch nur etwas über das „Tool“ und wenig dar­über, wie die Prak­ti­ken, Pro­zes­se und Ver­fah­ren aus­se­hen, die die­se auf die Spit­ze getrie­be­ne Form direk­ter Demo­kra­tie so mit sich bringt.

Viel­leicht ist es die­ser Fokus auf die „Tools“, der mich bei eini­gen aktu­el­len Debat­ten an die­se Bücher den­ken ließ. Auch nach dem weit­ge­hen­den Schei­tern der – soweit das aus Außen­per­spek­ti­ve fest­zu­stel­len ist – sehr stark „tool“-zentrierten Liquid-Demo­cra­cy-Debat­ten der Pira­ten­par­tei bleibt der Ruf nach der „Smart Par­ty“ (Scho­ber et al. 2015) viru­lent. Fast drängt sich der Ein­druck auf, dass ver­zwei­felt am Glau­ben dar­an fest­ge­hal­ten wird, dass die­ser Netz­werk­tech­nik doch ein demo­kra­ti­sches Heils­ver­spre­chen zu ent­lo­cken sein muss. Jeden­falls wird nach wie vor dar­über gespro­chen, dass Par­tei­en bes­ser, schö­ner, effi­zi­en­ter und betei­li­gungs­ori­en­tier­ter wer­den könn­ten, wenn sie denn nur die rich­ti­ge Tech­nik ein­setz­ten. Bis­her haben die­se Ansät­ze den Rea­li­täts­test nicht bestan­den. Das liegt – behaup­te ich – nicht am feh­len­den Wil­len der Par­tei­en, son­dern schlicht dar­an, dass die glit­zern­den „Tools“ und die zu lösen­den Pro­ble­me nicht zuein­an­der passen.
„Smar­te Par­tei­en? Um wel­ches Pro­blem geht es eigent­lich?“ weiterlesen