Beteiligt euch! Oder: die Angst der deutschen Behörde vor dem Unkalkulierbaren

Tunnel of power I

Ein Auf­re­ger­the­ma der letz­ten Tage war im poli­ti­schen Baden-Würt­tem­berg die Betei­li­gungs­platt­form. Eigent­lich war klar, dass es die­se Ergän­zung des Lan­des­por­tals geben soll­te – weni­ge Tage vor dem Start mel­de­te sich dann die SPD-Frak­ti­on in Per­son ihres Anfüh­rers pres­se­öf­fent­lich mit Beden­ken. Es müs­se doch erst ein­mal einen Pro­be­lauf geben – und zwi­schen den Zei­len habe ich auch Beden­ken gele­sen, dass (orga­ni­sier­te) Bür­ge­rIn­nen eine Betei­li­gungs­platt­form dazu nut­zen könn­ten, sich (orga­ni­siert) zu betei­li­gen. Und auf die­se popu­lä­ren Mei­nungs­äu­ße­run­gen müss­te dann ja reagiert – und mög­li­cher­wei­se gegen den geäu­ßer­ten Volks­wil­len – regiert werden.

Heu­te ist das Betei­li­gungs­por­tal der Staats­rä­tin für Zivi­li­ge­sell­schaft und Bür­ger­be­tei­li­gung Gise­la Erler jetzt doch gestar­tet. Im Pro­be­be­trieb, d.h. mit gerin­ge­rer Ver­pflich­tung für die ein­zel­nen Häu­ser, mit­zu­ma­chen, und mit dem Ziel einer Eva­lua­ti­on. Aber: es läuft! 

„Betei­ligt euch! Oder: die Angst der deut­schen Behör­de vor dem Unkal­ku­lier­ba­ren“ weiterlesen

Kurz: Schlachtet das Wahlprogramm

Blood redSeit knapp einer Woche ist er online, der grü­ne Wahl­pro­gramm­ent­wurf. Und jetzt geht das gro­ße Schlach­ten los. BAGen und Par­tei­glie­de­run­gen dis­ku­tie­ren das Pro­gramm und schrei­ben flei­ßig Ände­rungs­an­trä­ge. Dead­line ist Anfang April, vom 26. bis zum 28. April fin­det der gro­ße Pro­gramm­par­tei­tag statt. Dazwi­schen tagt die Antrags­kom­mis­si­on und erstellt Ver­fah­rens­vor­schlä­ge. Der aller­größ­te Teil der beim letz­ten Mal mei­ner Erin­ne­rung nach 1500 Ände­rungs­an­trä­ge wird in die­sen Ver­fah­rens­vor­schlä­gen (modi­fi­ziert) über­nom­men oder für erle­digt erklärt. Nur ein klei­ner Teil kommt zur Abstim­mung auf dem Par­tei­tag. Den­noch sind die etwa 800 Dele­gier­ten drei Tage lang damit beschäf­tigt, das Wahl­pro­gramm zu dis­ku­tie­ren und abzustimmen.

Wir in der BAG Wis­sen­schaft, Hoch­schu­le, Tech­no­lo­gie­po­li­tik wer­den das am Sams­tag auch machen, das Stel­len von Ände­rungs­an­trä­gen. Denn der Antrag BTW-B-01 ist zwar gut, kann aber noch bes­ser werden.

Wer sich an der Schlacht ums Pro­gramm betei­li­gen will, und mit dar­über dis­ku­tie­ren will, was Bünd­nis 90/Die Grü­nen for­dern, und was mit etwas Glück dann auch in einem Koali­ti­ons­ver­trag lan­det, ist herz­lich ein­ge­la­den, Mit­glied zu wer­den. Und nicht zuletzt: Neben der Pro­gramm­de­bat­te wird es – eine Neue­rung in die­sem Jahr – im Som­mer auch eine Art dezen­tra­le Urwahl der Pro­gramm­schwer­punk­te geben.

P.S.: Über den Weg von der Idee ins Pro­gramm habe 2010 mal aus­führ­li­cher geschrie­ben. Dazu pas­sen auch mei­ne Noti­zen zum Dele­gier­ten­prin­zip und zum Zeit­be­darf der Demo­kra­tie.

Und zum aktu­el­len Pro­gramm kann ich noch auf unser Bun­des­vor­stands­mit­glied Mal­te Spitz ver­wei­sen, der in sei­nem Blog mal auf­lis­tet, was alles an Netz­po­li­tik im Pro­gramm­ent­wurf steckt.

Kurz: CARTA zählt mal eben durch

Eigent­lich schät­ze ich CARTA ja sehr. Und bin auch froh, dass eini­ge mei­ner Blog­tex­te dort zweit­ver­öf­fent­licht wur­den. Aber der Arti­kel „Oppo­si­ti­on aus SPD, Grü­nen und Lin­ken ver­hilft LSR zum (vor­läu­fi­gen) Sieg“ von Wolf­gang Mich­al hat was von einer Pro­to­ver­schwö­rungs­theo­rie. Inhalt (ich fas­se zuspit­zend zusam­men): Weil Spit­zen­po­li­ti­ke­rIn­nen der Oppo­si­ti­on das Erschei­nungs­bild in der Sprin­ger-Pres­se so wich­tig ist, im Wahl­kampf das The­ma Leis­tungs­schutz­recht warm­hal­ten wol­len [sie­he Kom­men­tar von Wolf­gang Mich­al unten, und mei­ne Replik dar­auf], haben sie bewusst die heu­ti­ge End­ab­stim­mung zum ver­murks­ten Leis­tungs­schutz­recht geschwänzt. Und wenn sie da gewe­sen wären, und noch ein paar mehr auch, dann wäre das Leis­tungs­schutz­recht gescheitert.

Passt irgend­wie nicht dazu, dass in den letz­ten Tagen u.a. von Bünd­nis 90/Die Grü­nen im Bun­des­tag ver­sucht wur­de, mit ver­schie­de­nen Mit­teln mehr Zeit für Auf­klä­rung über die Feh­ler in die­sem Gesetz zu gewin­nen – wei­te­re Anhö­run­gen und GO-Anträ­ge auf Ver­ta­gung wur­den aber abge­lehnt. Passt nicht dazu, dass es die Oppo­si­ti­on war, die eine nament­li­che Abstim­mung woll­te. Passt nicht dazu, dass es – auch wenn Doro Bär (CSU) davon nichts wis­sen will – sowas wie Pai­ring gibt, also Ver­ein­ba­run­gen zwi­schen den Frak­tio­nen, kei­ne Zufalls­mehr­hei­ten ent­ste­hen zu las­sen. Es gibt ja auch noch sowas wie einen Wäh­ler­wil­len. Und es gibt gute Grün­de, war­um gera­de Par­tei­vor­stän­de mit Bun­des­tags­man­dat (bei uns Clau­dia Roth) oder Spit­zen­kan­di­da­tIn­nen (Jür­gen Trit­tin, Kat­rin Göring-Eckardt) häu­fi­ger als ande­re Abge­ord­ne­te nicht im Bun­des­tag sein kön­nen (heu­te: weil der grü­ne Wahl­pro­gramm­ent­wurf ver­öf­fent­lich wur­de). Was, neben­bei gesagt, für die Tren­nung von Amt und Man­dat spricht. 

Wer will, kann ja mal bei den nament­li­chen Abstim­mun­gen schau­en, wie oft ähn­li­che Kon­stel­la­tio­nen zu fin­den waren. Und wer heu­te die Legen­de ins Netz setzt, dass die Oppo­si­ti­on das Leis­tungs­schutz­recht im Par­la­ment hät­te ver­hin­dern kön­nen, dies aber mut­wil­lig nicht getan hat (ganz dumm ist die Regie­rung übri­gens nicht – da wird durch­aus durch­ge­zählt, und zur Not halt mal eine Abstim­mung ver­scho­ben oder es wer­den noch Leu­te ran­ge­karrt), darf sich nicht wun­dern, dass die­se Legen­de von den Netz­af­fi­ne­ren in CDU, CSU und FDP flei­ßig wie­der­holt wird. In sechs Mona­ten wird dar­aus dann der Wahl­kampf­schla­ger „Grü­ne, SPD und LINKE hat­ten ja damals das Leis­tungs­schutz­recht ein­ge­führt“. Nein Leu­te, so ist es nicht – und wenn die – acht! – Netz­po­li­ti­ke­rIn­nen in CDU, CSU und FDP zu schwach sind, und den Rest ihrer Frak­tio­nen nicht über­zeu­gen kön­nen, dann ist das ganz ein­fach deren Problem.

Fundstück: Die Informationsgesellschaft ökologisch, sozial und demokratisch umgestalten (1996)

Dass DIE GRÜNEN in ihrer Anfangs­zeit ein eher apo­ka­lyp­ti­sches Ver­hält­nis zu Infor­ma­ti­ons­tech­nik hat­ten, ist bekannt. Irgend­wann hat sich das geän­dert. Ein wich­ti­ges Doku­ment die­ses Wan­dels ist mir heu­te wie­der in die Hand gefal­len – der im April 1996 von der 7. Ordent­li­chen Bun­des­ver­samm­lung (also dem Bun­des­par­tei­tag) getrof­fe­ne Beschluss „Die Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft öko­lo­gisch, sozi­al und demo­kra­tisch gestal­ten – Leit­ge­dan­ken zur Zukunft der Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft“. Wenn ich mich rich­tig dar­an erin­ne­re, war Manu­el Kiper maß­geb­lich dar­an betei­ligt. Wer möch­te, kann in die­sem Beschluss den Aus­gangs­punkt einer akti­ven und pro­gres­si­ven netz­po­li­ti­schen Posi­tio­nie­rung von Bünd­nis 90/Die Grü­nen sehen. Das ist jetzt fast 17 Jah­re her. Und vie­les von dem, was in die­sem Papier steht, ist auch heu­te noch aktuell. 

Unten gibt es – schlecht mit dem Han­dy abfo­to­gra­fiert – den Inhalt die­ses Beschlusses.

Update [03.03.2013]: @isarmatrose war so nett, beim Archiv Grü­nes Gedächt­nis der Hein­rich-Böll-Stif­tung nach dem Ori­gi­nal­be­schluss zu fra­gen. Der liegt ein­ge­scannt als PDF vor: Beschluss der 7. ordent­li­chen Bun­des­ver­samm­lung, 1.–3. März 1996: Die Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft öko­lo­gisch, sozi­al und demo­kra­tisch gestal­te­ten – und ist doch etwas lese­freund­li­cher als die Han­dy­fo­tos der dar­aus ent­stan­de­nen Bro­schü­re. Auch das dem Beschlus zugrun­de lie­gen­de Eck­punk­te­pa­pier der Bun­des­tags­frak­ti­on von Kiper et al. (1995) liegt damit digi­tal vor.

P.S.: Übri­gens ist in dem Beschluss auch die For­de­rung nach einer „steu­er­fi­nan­zier­ten Grund­si­che­rung“ ent­hal­ten – ein mit infor­ma­ti­ons­tech­ni­scher Ratio­na­li­sie­rung begrün­de­ter Griff nach dem Grund­ein­kom­men. 1996! Nehmt dies, Piraten! 

P.P.S.: @holgernohr weist dar­auf hin, dass es bereits 1995 ein ent­spre­chen­des Eck­punk­te­pa­pier der Bun­des­tags­frak­ti­on gege­ben haben muss, wie die Com­pu­ter­wo­che berichtete.

P.P.P.S.: Das gan­ze ist übri­gens zusam­men mit einem medi­en­po­li­ti­schen Pro­gramm (unter dem Titel „Die Zukunft der Medi­en ist Sache aller Bür­ge­rIn­nen“) in einer Bro­schü­re erschie­nen. Nur falls sich jemand wun­dert, war­um die Sei­ten­zah­len mit 18 anfangen.

Der Ernst des Politischen

IMG_9070
Pho­to: Bünd­nis 90/Die Grü­nen Baden-Würt­tem­berg, CC-BY-SA 2.0

Fast schon wie­der ein Jahr ist es her, dass ich drü­ben beim Blog der baden-würt­tem­ber­gi­schen Grü­nen Ehr­lich­keit als her­aus­ra­gen­de Eigen­schaft Win­fried Kret­sch­manns beton­te. Das heißt jetzt nicht, dass er nicht in der Lage dazu wäre, Poli­tik auf Bot­schaf­ten hin zu „spin­nen“, und – man­che mögen mei­nen, mit fast schon traum­wand­le­ri­scher Sicher­heit – die Aspek­te her­aus­zu­pi­cken, die anschluss­fä­hig sind, haf­ten blei­ben, aus denen sich dann fast schon ste­hen­de Rede­wen­dun­gen erge­ben. Aber das ist nur die eine Sei­te Kret­sch­manns, der Charme, mit dem poli­ti­sche Erfah­ren­heit sich hier in der gelun­ge­nen Zuspit­zung Bahn bricht.

Es gibt eine zwei­te Sei­te, die heu­te beim poli­ti­schen Ascher­mitt­woch in Biber­ach (den ich im Stream ver­folg­te) sicht­bar wur­de. Eugen Schlach­ter hat eine lau­ni­ge Wahl­kampf­re­de gehal­ten, Thek­la Wal­ker eine gute Par­tei­tags­re­de, Rena­te Kün­ast gewohnt schnodd­rig-kaba­ret­tis­tisch den Stand der Din­ge Revue pas­sie­ren las­sen. Kat­rin Göring-Eckardt zeig­te sich als char­man­te Meis­te­rin im Aus­tei­len von Nadel­sti­chen (was mir sehr gut gefal­len hat). Und dann der gro­ße Moment, die Kreis­vor­sit­zen­de kün­digt ihn an – unser Lan­des­va­ter. Und was macht Kretschmann? 

Er ent­täuscht alle Erwar­tun­gen. Er hält kei­ne lau­ni­ge Büt­ten­re­de (dass er das auch kann, hat er wohl die Tage zuvor bei diver­sen Nar­ren­emp­fän­gen etc. gezeigt), son­dern – ein Medi­um hat es so bezeich­net – eine „Fas­ten­pre­digt“. The­ma der Pre­digt, und das ist die zwei­te Sache, die ihn aus­macht, für die der­zeit wohl nur Kret­sch­mann steht: Die Wut auf den Skan­dal. Poli­tik ist für ihn kein Spiel. Poli­tik ist nicht dazu da, Spaß zu machen. Wer sich dar­in über­bie­tet, Fuß­no­ten auf­zu­bla­sen, um einen Stich in der media­len Lau­ne zu machen, betreibt aus Kret­sch­manns Sicht kei­ne ernst­haf­te Poli­tik. Nein: Es soll hart um die Sache gerun­gen wer­den. Es soll gesagt wer­den, was Sache ist. Wo das zu Ärger führt, darf der Ärger geäu­ßert wer­den. Aber bei die­sem poli­ti­schen Rin­gen um die Sache ist Maß zu hal­ten mit dem Skan­da­li­sie­ren. Wenn jedes Ärger­nis zum Skan­dal auf­ge­bla­sen wird (und dazu fal­len mir nicht nur die von ihm genann­ten Bei­spie­le ein, son­dern auch das Stan­dard­ver­hal­ten unse­rer Land­tags­op­po­si­ti­on), dann ist der rich­ti­ge – poli­ti­sche – Skan­dal nicht mehr zu unter­schei­den von dem, was die Pira­ten als „Gate“ bezeich­nen. Und wenn alles Skan­dal ist, bleibt Poli­tik nur noch die Inszenierung. 

Ein aufs Drauf­hau­en pro­gram­mier­tes Publi­kum mit einer Pre­digt für das Maß­hal­ten auch in der Poli­tik zu ent­täu­schen – und dafür am Schluss tosen­den Bei­fall zu ern­ten: Das ist der­zeit etwas, das nur Kret­sch­mann kann. Etwas, das ihn beson­ders macht, in der Ver­bin­dung der Zuspit­zung in der Sache, durch­aus auch per­sön­lich, emo­tio­nal, volks­nah, und dem Ver­zicht auf den Zynis­mus des poli­ti­schen Thea­ters. Chapeau!

War­um blog­ge ich das? Weil ich die­ses Ernst­neh­men des Poli­ti­schen ein­drucks­voll fin­de. Und weil es mich dazu bringt, dar­über nach­zu­den­ken, wie viel Spiel ich in der Poli­tik sehe.