Die Zukunft vorherzusagen, ist bekanntermaßen schwierig. Das gilt umso mehr, wenn es um die ferne Zukunft geht. Dagegen lassen sich über die nahe Zukunft – also zum Beispiel das Jahr 2020 – recht zuverlässige Aussagen treffen. Mal abgesehen von dem Fall, dass ein unvorhersehbares Ereignis eintritt – schwarze Schwäne mit Gischt und Verwirbelung. (Es gab eine Zeit, in der die Zahl 2020 mal für die richtig weit in der Zukunft liegende Zukunft stand. Aber hey – heute sind das weniger als eineinhalb Jahre.)
Historische Tage? Doch nur groß inszeniertes bayerisches Singspiel
Vor ein paar Tagen bloggte ich kurz etwas, dass das derzeit vielleicht historische Tage sein könnten. Heute kommt der Schwank dann zu seiner vorläufigen Auflösung: nach Ultimaten, Drohungen, Verhandlungen, Erpressungen, Finten, einem angedrohten Rücktritt, Gütegesprächen, dem Rücktritt vom Rücktritt und einem geheimen Masterplan, der zugleich von der CSU und von Bundesinnenministerium stammt – also nach all den Elementen, die eher auf eine Bühne als in die Politik passen sollten – bleibt alles beim alten. Jedenfalls dann, wenn die SPD mitmacht. Gegenstimmen dazu habe ich noch keine gehört.
Im Endeffekt, materiell, geht es in dem jetzt vorliegenden „Kompromiss“ – über den zwei der drei Regierungsparteien verhandelt haben – darum, dass Seehofer an der Grenze zwischen Bayern und Österreich, Asylbewerber*innen zurückweisen kann, die aus Drittstaaten wie Österreich einreisen. Dazu sollen „Transitzentren“ an der österreichischen Grenze errichtet werden, das ist etwa das, was die USA an der Grenze zu Mexiko hat. Die SPD lehnte das bisher ab. Das ganze soll auf der Grundlage von Abkommen mit den Ersteinreiseländern der Asylsuchenden geschehen, wenn diese Abkommen – das wäre Merkels europäische Komponente – nicht zustande kommen, werden die Asylbewerber*innen eben nach Österreich geschickt, auf der Grundlage einer noch zu verhandelnden Vereinbarung mit der schwarz-blauen Regierung dort. (Anders gesagt: Seehofer geht und ging es wohl immer darum, in Bayern den starken Mann markieren zu können.)
Damit ist es der Union gelungen, die theatralische Spaltung zu verhindern und die heiße Kartoffel bei der SPD abzuladen. Entweder verweigert sie sich mit Verweis auf den Koalitionsvertrag dem „Kompromiss“ – dann ist es nicht mehr die CSU, sondern plötzlich die SPD, die schuld daran ist, wenn die Regierung Merkel scheitert, oder wenn es wochenlange Auseinandersetzungen gibt. Oder sie stimmt zu, dann rutscht das Glaubwürdigkeitskonto der SPD weiter ins Negative. Beides eher unschön, und auch insgesamt macht das ganze Hin und Her eher wütend. Mit einer humanen Flüchtlingspolitik hat es jedenfalls nichts mehr zu tun.
Für die Zukunft der großen Koalition stimmt mich das auch nicht gerade positiv. Verkürzt gesagt, hat Seehofer sich gerade damit durchgesetzt, „irgendwas für Bayern“ zu fordern, ohne Rücksicht auf den Koalitionsvertrag und die Koalitionspartner. Das wirkte lange so, als würde es mit ihm heimgehen – im Endeffekt hat er sich aber hinsichtlich seines Kernanliegens durchgesetzt. Und das zählt am Schluss. Nebenbei ist er damit durchgekommen, Merkel bloß zu stellen (mit dieser Frau könne er nicht zusammenarbeiten) und ihre Richtlinienkompetenz in Frage zu stellen („Ich lasse mich nicht von einer Kanzlerin entlassen, die nur wegen mir Kanzlerin ist.“). Merkel wiederum bleibt Kanzlerin. Sollte das ganze ein versuchter Putsch gewesen sein, ist dieser gescheitert.
Allerdings ist jetzt auch klar: wer Maximalkrawall macht, theatralisch damit droht, zu gehen, ja, wirklich, zu gehen, bittschön!, der kann in dieser Regierung im Endeffekt durchsetzen, was er will. Jedenfalls, wenn er zugleich Minister und Parteichef einer der Koalitionsparteien ist. Die SPD wird versuchen, das auch hinzukriegen, und damit auf die Nase fallen. Die CSU, und insbesondere Seehofer, wird nachlegen – anscheinend hat er auch als Gesundheitsminister in der Regierung Kohl schon ähnlich „verhandelt“.
Ich hatte ja von Anfang an den Verdacht, dass es hier eigentlich um die bayerischen Landtagwahlen im Oktober ging. Ob sich das Singspiel da auszahlt, bleibt abzuwarten. Bisher sind die Werte für die CSU hinunter gegangen. Aber der bayerische Wähler und die bayerische Wählerin goutiert vielleicht keinen Streit; wenn sich einer, mit welchen bauernschlauen Tricks und Dickköpfigkeiten auch immer, durchsetzt, dann sieht’s („A Hund!) schon wieder anders aus.
Ein an der Sache orientierter, rationaler Politikstil sieht anders aus. Und dieses Theater trägt definitiv nicht dazu bei, dass das Vertrauen in die Politik steigt.
Kurz: Historische Tage
Weil dieses Blog ja auch ein bisschen sowas wie ein öffentliches Tagebuch ist, und vielleicht irgendwann ein Rückblick spannend sein könnte: heute liegt die Große Koalition in den Umfragen unter 50 Prozent. SPD, AfD und Grüne rücken nahe aneinander. Aber auch die CDU hat nach den Kindergartenaktionen von Horst Seehofer (CSU) und einem insgesamt eher schwierigen Bild Umfrageeinbrüche zu vermelden.
Kann sein, dass das in zwei Monaten schon wieder ganz anders aussieht. Kann sein, dass übermorgen die Große Koalition platzt. Kann sein, dass es der CSU eigentlich nur um die Bayernwahl geht und als Nebeneffekt davon das politische System der Bundesrepublik seinen letzten Rest an Stabilität verliert. Bleiben Sie dran. Und falls es in der Rückschau historische Tage sind: auch hier wurde es notiert.
Kurz: Merkels Minister*innen
Inzwischen hat Angela Merkel die CDU-Minister*innen für die mögliche Neuauflage der Großen Koalition vorgestellt, und es ist doch einiges anders, als vorher spekuliert wurde. Insgesamt beweist das Personalpaket, dass Merkel weiterhin über ein ausgeprägtes strategisches Geschick verfügt – das fängt bei Noch-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer aus dem Saarland als Generalsekretärin der CDU an und endet nicht bei der Einbindung von Jens Spahn in die Kabinettsdisziplin. Auch die Frauenquote ist positiv hervorzuheben.
Eine Personalie aber irritiert mich, weil ich sie nicht einordnen kann. Das ist die designierte neue Bildungsministerin Anja Karliczek. Die Bundestagsabgeordnete aus Nordrhein-Westfalen (nein, keine „Frau aus dem Osten“, wie BILD noch vor ein paar Tagen vermutete) war bisher im Finanzausschuss tätig und kommt aus einem als Familienbetrieb geführten Traditionshotel. Von ihrer Ausbildung her ist Karliczek Bankkauffrau, Hotelfachfrau und hat ein berufsbegleitendes BWL-Studium abgeschlossen.
Bildungs- oder wissenschaftspolitisch ist sie mir bisher nicht begegnet. Eine Promotion (Schavan) oder eine Professur (Wanka) sind aus meiner Sicht keine Voraussetzungen, um Bildungsministerin zu werden – Theresia Bauer zeigt das in Baden-Württemberg sehr erfolgreich. Aber gewisse Berührungspunkte zum Feld halte ich doch für sinnvoll, und seien sie aus der politischen Tätigkeit heraus erwachsen, etwa als Fachsprecherin für das Themenfeld. Eine gute Minister*in muss aus meiner Sicht Dinge einschätzen können (dazu ist fachliche Expertise notwendig) und politisch durchsetzungsfähig sein. Letzteres kann ich bei Karliczek nicht beurteilen, für ersteres sehe ich bisher keine Indizien.
Insofern bin ich gespannt und auch etwas besorgt, welches Gewicht Bildungs‑, Forschungs- und Wissenschaftspolitik in der zukünftigen Bundesregierung einnehmen wird – erst recht, weil dieses Feld oft (meiner Meinung nach – Wissensgesellschaft, Innovationsland, … – zu Unrecht) als eines angesehen wird, das politisch nicht zentral ist, und in dem weder große Konflikte zu erwarten noch große Meriten zu ernten sind. „Hier kann mal experimentiert werden.“
(Andere Meinung, durchaus lesenswert: Georg Löwisch in der taz)
Kurz: Phantomregierung
Vorneweg: Ich habe mir den Koalitionsvertrag der möglichen IV. Regierung Merkel noch nicht angeschaut, und es mag auch die eine oder andere positive Botschaft auf den 170 Seiten enthalten sein. Trotzdem war es heute nicht zu ignorieren, dass die Verhandlungsgruppen aus CDU, CSU und SPD zu einem Ergebnis gekommen sind. Jetzt steht noch die Hürde SPD-Mitgliederabstimmung im Raum, aber bis Mitte März sollte die auch durch sein – ich tippe auf 55 bis 60 Prozent Zustimmung. Und dann ist, rund ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl, eine neue Bundesregierung im Amt, der dann noch gut drei Jahre bleiben, um zu regieren. Bis dahin regieren Phantome.
Was mich etwas gewundert hat, ist das Durchsickern von Informationen. Eine erste Rohfassung des Vertrags mit letzten kritischen Stellen kursierte schon gestern, heute dann der finale Vertragsentwurf samt Liste der Ressorts und ihrer Zuschnitte. Und nach und nach fielen neben einzelnen Projekten und Textausschnitten dann auch Namen. Welche Minister*innen gehen, welche bleiben, wer vermutlich was wird. Aber irgendwie passt das zu der Lustlosigkeit, die dieses ganze Unternehmen ausstrahlt. Die möglicherweise letzte große Koalition ist keine Wunschkoalition.
Merkel bleibt Kanzlerin. Seehofer wird Innen‑, Heimat- und Bauminister, wobei „Heimat“ zwar für den meisten Trubel sorgte, ein CSU-Hardliner für „Innen“ mir aber die größeren Bauchschmerzen bereitet. Die SPD wechselt mal wieder ihren Parteivorsitz aus – Nahles scheint mir da gut für geeignet zu sein, und Schulz als Außenminister – naja. Im Bildungsbereich verdichten sich die Zeichen, dass Gröhe, bisher Gesundheit, jetzt für Bildung, Wissenschaft und Forschung zuständig sein wird. Ob das ohne Fachkompetenz in diesem doch etwas komplizierten Feld, mit divergierenden Länderinteressen und starken institutionellen Playern mit jeweils nochmals eigenen Eigenheiten gut gehen wird, werden wir sehen. Naheliegend ist diese Lösung nicht. Klöckner macht jetzt in Landwirtschaft, Weinbau und Wolfsjagd. Bär wird nicht Digitalministerin, nein, Digitales bleibt verstreut und Annex von Verkehr (also: Geld für Breitband und Straßen vorrangig nach Bayern?), sondern vielleicht für Entwicklungshilfe zuständig. Auch das passen Person und Portfolio nicht so wirklich zusammen. Auf SPD-Seite wenig überraschendes; ein Wechsel von Scholz hatte sich angedeutet, und dass er Finanzen übernehmen könnte, hat eine gewisse Logik. Insgesamt: wenig Charisma, kein Innovationsgeist, oder, etwas böser: auch hier eher eine Regierung von Geistern aus der Vergangenheit. So richtig wichtig erscheint das alles nicht. Phantomregierung, auch hier.