Kurz: Klassenfrage

Als Bahn-Viel­fah­rer bin ich fast immer in der 2. Klas­se unter­wegs – weil mir die Bahn­Card 100 für die 2. Klas­se mit über 4000 Euro pro Jahr schon teu­er genug ist, aber auch, weil ich es ein­fach nie anders ken­nen­ge­lernt habe: Als Kind war es natür­lich immer die 2. Klas­se in IC und Nacht­zug, wenn wir von Süd- nach Nord­deutsch­land gefah­ren sind. Und spä­ter, als das anfing damit, zu Jugend­ver­bands­kon­gres­sen und Par­tei­ta­gen, noch etwas spä­ter: zu Uni­dienst­rei­sen, quer durchs Land zu fah­ren, war eben­so selbst­ver­ständ­lich, dass die Fahrt­kos­ten­er­stat­tung sich auf die 2. Klas­se bezog. 

Wenn ich, wie jetzt gra­de, dank eines Upgrade-Gut­scheins für treue Kun­den, dann doch ein­mal in der 1. Klas­se sit­ze, hat das was von frem­den Ter­rain. Ver­traut und zuge­hö­rig fühlt sich das nicht an. Beque­me­re Sit­ze und mehr Platz – das hät­te ich auch ger­ne bei mei­nem Pen­del­all­tag. Kos­ten­lo­se Zei­tun­gen, auch nett. Schwe­rer tue ich mich da schon mit der Ser­vice­kul­tur und der damit ver­bun­de­nen auf­ge­setz­ten Ultrafreund­lich­keit, der emsi­gen und stän­di­gen Sor­ge um das Wohl­be­fin­den der Rei­sen­den – Sie wer­den am Platz bedient, eine klei­ne Auf­merk­sam­keit viel­leicht, hät­ten Sie noch einen Wunsch? (Ähn­lich frem­delnd ergeht es mir, wenn ich in viel­ster­ni­ge Hotels gerate …).

Das ist schlicht nicht mei­ne Welt. Mit einer bour­dieu­schen Bril­le zu beob­ach­ten, wie die Ange­hö­ri­gen der 1. Klas­se die­ses Bedi­ent­wer­den ganz selbst­ver­ständ­lich fin­den, ja über­haupt: wie sie sich geben, und dabei eine fei­ne, inkor­po­rier­te Ele­ganz aus­strah­len – das ist durch­aus inter­es­sant und zugleich ein schö­ner Beleg für milieu­spe­zi­fi­schen Habi­tus und für die Exis­tenz einer gewis­sen Klas­sen­ge­sell­schaft auch in Deutsch­land. Was weit über Fra­gen der Zuge­hö­rig­keit hin­aus Kon­se­quen­zen hat.

In eigener Sache: Parlamentarische Beratung als Beruf

Unter ande­rem mein Blog­bei­trag dazu, was ein par­la­men­ta­ri­scher Bera­ter so macht (aus dem Sep­tem­ber 2011) führ­te dazu, dass ich gefragt wur­de, ob ich das nicht auch noch ein­mal für die Poli­ti­cal Sci­ence Appli­ed (PSCA) – eine Online-Zeit­schrift für ange­wand­te Poli­tik­wis­sen­schaft – auf­schrei­ben möch­te. Habe ich in etwas sys­te­ma­ti­sche­rer Form als im Blog­bei­trag getan, und es noch mit einem ver­glei­chen­den Blick auf die Anga­ben der ein­zel­nen Frak­tio­nen im Land­tag zu ihrem jewei­li­gen par­la­men­ta­ri­schen Bera­tungs­stab versehen. 

Das Ergeb­nis lässt sich jetzt in Heft 5 der PSCA nach­le­sen – gemein­sam mit zwei poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen Auf­sät­zen und einer gan­zen Rei­he wei­te­rer Erfah­rungs­be­rich­te ver­schie­de­ner aktu­el­ler und ehe­ma­li­ger Mit­ar­bei­te­rIn­nen von Par­la­men­ten und Frak­tio­nen. Wer sich für sowas inter­es­siert, fin­det hier reich­lich Lese­stoff.

Wes­ter­may­er, Till (2015): „Par­la­men­ta­ri­sche Bera­tung als Beruf – Ein­bli­cke aus der Bera­ter­pra­xis im Land­tag von Baden-Würt­tem­berg“, in Poli­ti­cal Sci­ence Appli­ed (PSCA), Heft 5, April 2015, S. 36–39, URL: http://www.psca.eu/index.php?page=olume‑5–04-2015.

In eigener Sache: Swap, share, experience

2014-swap-share-experienceDie Vor­trä­ge der Degrowth 2014 sind inzwi­schen in einem Online-Doku­men­ta­ti­ons­sys­tem verfügbar. 

Dazu gehört auch der Vor­trag, den ich im letz­ten Sep­tem­ber zusam­men mit Jen­ny Lay zum The­ma „Swap, share, expe­ri­ence“ geschrie­ben und gehal­ten habe. Genau­er gesagt: Sowohl unse­re hüb­sche Power­point-Datei (eng­lisch) als auch das (deutsch­spra­chi­ge) Manu­skript „Tau­schen, tei­len, Erfah­run­gen sam­meln: Das trans­for­ma­ti­ve Poten­ti­al sozi­al-öko­lo­gi­scher Pra­xis­for­men“ sind jetzt online abruf­bar (bei­des sind PDF-Dateien).

Inhalt­lich geht es dar­um, mal aus­zu­pro­bie­ren, wie weit ein pra­xis­theo­re­ti­sches Voka­bu­lar hilf­reich dabei sein kann, sich unter­schied­li­chen Pra­xis­for­men der – im wei­te­ren Sin­ne – Share Eco­no­my – zu nähern, und mit Bezug auf u.a. Eliza­beth Sho­ves Ras­ter aus stuff, images und skills zu unter­su­chen, wo das trans­for­ma­ti­ve Poten­zi­al die­ser Pra­xis­for­men liegt. Aus­pro­biert haben wir das an den Bei­spie­len urba­ner Gär­ten und Umsonstläden. 

Das gan­ze ist ein ers­ter Ent­wurf, aber viel­leicht trotz­dem inter­es­sant für alle, die sich umwelt­so­zio­lo­gisch der­ar­ti­gen Phä­no­me­nen nähern wollen. 

Lay, Jen­ny; Wes­ter­may­er, Till (2014): »Swap, share, expe­ri­ence: the trans­for­ma­ti­ve poten­ti­al of socio-eco­lo­gi­cal forms of prac­ti­ce«, in Fourth Inter­na­tio­nal Con­fe­rence on Degrowth for Eco­lo­gi­cal Sus­taina­bi­li­ty and Social Equi­ty, Leip­zig, 2014, URL: http://degrowth.co-munity.net/conference2014/scientific-papers/3543. (Bzw. per­sis­ten­te URL bei SSOAR: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-420416).

Kurz: Kompass am Fenster

Zuversicht & Reflexive ModernisierungAls Anfang des Jah­res die Nach­richt des Todes des gro­ßen Sozio­lo­gen Ulrich Beck bekannt wur­de, waren es – zumin­dest in mei­ner Time­line – auf­fäl­lig vie­le Grü­ne, die sich mit Erin­ne­run­gen und Bezü­gen zu Wort mel­de­ten. Die im Tscher­no­byl­jahr 1986 erschie­ne­ne Risi­ko­ge­sell­schaft ist in gewis­ser Wei­se auch ein pro­gram­ma­tisch grü­nes Buch, und das betrifft nicht nur die öko­lo­gi­schen Risi­ken, son­dern auch die Indi­vi­dua­li­sie­rungs­the­se und den Blick auf eine sich ver­än­dern­de Arbeits­welt. In die­sem Zusam­men­hang fiel mir dann auch noch ein­mal auf, dass am Fens­ter der grü­nen Frak­ti­ons­sit­zungs­saals im Land­tag Baden-Würt­tem­berg die Wor­te „Refle­xi­ve Moder­ni­sie­rung“ (und „Zuver­sicht“) kle­ben. Wäh­rend der Saal der CDU von einem Kru­zi­fix geschmückt wird, und bei der SPD Leder­ses­sel ste­hen, hängt bei uns der poli­ti­sche Kom­pass am Fenster.

Inzwi­schen habe ich erfah­ren, dass die­se Begrif­fe ca. 2006 von der dama­li­gen Frak­ti­ons­ge­schäfts­füh­re­rin Hedi Chris­ti­an auf­ge­klebt wor­den sind. Der Bezug zu Ulrich Beck ist nur ein indi­rek­ter – die Frak­ti­on hat­te 2006 einen Road­map-Pro­zess (»Road­map 2016«) lau­fen (wer im Archiv der Frak­ti­on sucht, fin­det die­ses his­to­ri­sche Doku­ment von Ralph Bürk und Bir­git Locher-Fin­ke auch heu­te noch). Ein Ele­ment die­ser aus heu­ti­ger Sicht durch­aus wir­kungs­vol­len Road­map ist das Set­zen auf „refle­xi­ve“ statt auf „addi­ti­ve“ oder „line­ar-expan­si­ve“ Moder­ni­sie­rung: Nicht immer mehr, nicht Neu­es zusätz­lich zum Bestehen­den, son­dern eine stän­di­ge Anpas­sung und Ver­än­de­rung bestehen­der Struk­tu­ren an neue Her­aus­for­de­run­gen, um mit begrenz­ten Res­sour­cen klar­zu­kom­men. Auf die­sem Weg ist die „refle­xi­ve Moder­ni­sie­rung“, die Ulrich Beck in die Welt getra­gen hat, ans Fens­ter der Land­tags­frak­ti­on gekom­men, immer im Blick­feld des Frak­ti­ons­vor­stands und der Regie­rungs­mit­glie­der am run­den Tisch der Fraktionssitzungen. 

Aneignung, Macht und kultureller Wandel

Rieselfeld culture

Win­ter­son­nen­wen­de – ein Fest, das in ziem­lich vie­len Religionen/Kulturen gefei­ert wird. Aus­gangs­punkt ist eine beob­acht­ba­re Tat­sa­che: die Tage wer­den wie­der län­ger, es wird hel­ler; gleich­zei­tig setzt oft der „rich­ti­ge“ Win­ter ein. Was dar­aus gemacht wird, wie gefei­ert wird, all das ist Kul­tur. Und die ist bekannt­lich extrem wandlungsfähig. 

Ich mag das Kon­zept der kul­tu­rel­len Aneig­nung. Men­schen sind in der Lage dazu, sich Stü­cke aus unter­schied­li­chen Tra­di­tio­nen her­aus­zu­bre­chen und in ihre eige­nen Tra­di­tio­nen zu über­neh­men. Bei die­ser Über­nah­me ver­än­dern sich Ideen und Ritua­le, es ent­steht etwas Neu­es. Inso­fern ist kul­tu­rel­le Aneig­nung ein Motor für kul­tu­rel­len Wan­del, für Inno­va­ti­on, ganz pathe­tisch gesagt auch für Fortschritt.

Was genau von wem wann erfun­den wur­de, inter­es­siert viel­leicht His­to­ri­ke­rIn­nen, spielt aber eigent­lich kei­ne Rol­le. Fin­de ich jeden­falls. Oder ist das zu ein­fach? Wie weit müs­sen Tra­di­ti­ons­li­ni­en und his­to­ri­sche Asso­zia­tio­nen mit­ge­dacht wer­den, wenn ein Ritu­al, ein Fest, eine kul­tu­rel­le Ange­wohn­heit, kurz, eine Prak­tik, ange­eig­net, ver­än­dert und über­nom­men wird? 

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