Der Zukunftskongress von Bündnis 90/Die Grünen ist vorbei, und was habe ich mitgenommen? Ein paar Impressionen.
Stimmung: der ganze Kongress fand in einer – gerade im Vergleich zu den oft sehr stressvollen Parteitagen – offenen und lockeren Stimmung statt. Das äußerte sich zum Beispiel darin, dass es kaum Sicherheitsvorkehrungen gab (die letzten Parteitagen hatten „dank“ Regierungsbeteiligung und Joschka Einlasskontrollen, Absperrungen vor der Bühne, und auch tiefe mentale Gräben zwischen z.B. den Parteivorsitzenden und den Delegierten). Das war hier ganz anders. Trotzdem wurde ernsthaft, ehrlich und engagiert diskutiert. „Harmoniesülze“ als Gegenextrem gab’s auch nur selten (ein Negativbeispiel war das Panel Bildung, s.u.).
Präsentation der Ergebnisse
auf dem Markt der Möglichkeiten
Ergebnisse: Den Hauptteil des Kongresses machten sechs Themenblöcke mit je acht bis zehn Workshops aus. Zum Abschluss am Sonntagmorgen präsentierte sich jeder dieser Themenblöcke mit einem Marktstand (von nett-bunt-handgestrickt bis last-minute-Professionalität). Da wurde schon deutlich, dass es gar nicht so einfach ist, die großen Themen Ökologie, Globalisierung, Bildung, Integration, Arbeit & Soziales und Europa jeweils auf einen kleinen Nenner zu bringen. Gemacht wurde es trotzdem; und ganz am Schluss dann richtig zugespitzt: ein Satz für jeweils zweieinhalb Stunden Paralleldiskussion in vielfältigsten Workshops (manche eher mit informativem Charakter, andere richtig kontrovers). Klar, dass um diese Sätze (die taz heute druckt sie alle ab; siehe dazu auch hier) von denjenigen, die in der Nacht noch am Aufarbeiten und Vorbereiten waren intensiv gestritten wurde. Im Themenblock Arbeit & Soziales („Zukunft sozialer Teilhabe und Arbeit“), in dem auch „mein“ Workshop lag, haben wir uns letztlich auf einen Satz geeignet, der sich, wie ich finde, als Leitlinie grüner Politik in diesem Feld durchaus sehen lassen kann, auch wenn er sicher nicht alle Workshops zusammenbringt: „Befähigen statt Bevormunden: Erwerb ist nicht genug“.
Brainstorming dazu, was die
Partei zur Förderung eines
Lebensstilwandels tun kann,
im Workshop der BAG Energie
Streitkultur: War der alte grüne Begriff für die Form intensiver konstruktiver Auseinandersetzung auch mit Leuten, die ganz anders denken. Wurde hier gelebt statt eingefordert, auch wenn der Streit der Runde kritisierender Journalisten noch nicht weit genug ging.
Medienaufmerksamkeit: War da.
Harmoniesülze: Am Beispiel des Panels Bildung. Ein Mensch aus dem finnischen Zentralamt erläutert, dass das finnische Bildungssystem auf der Grundregel aufbaut, Qualität, Effizienz und Gerechtigkeit gleichzeitig optimieren zu wollen, was unter anderem heißt, darauf zu achten, dass es den Kindern auch gut geht („Wohlbefinden“) und dass die finnische Einheitsschule erst mit sieben Jahren anfängt. Ein Mensch aus dem Deutschen Institut für Wirtschaft sagt: die Wissenschaft habe festgestellt, Menschen lernen zwischen vier und fünfzehn Jahren am besten, deswegen müsse der auf Bildungserwerb ausgerichtete Kindergarten zur Pflicht gemacht werden und alle Kinder ab fünf eingeschult werden. Außerdem sei er dafür, mit der Selektion nach Hauptschule/Realschule/Gymnasium erst etwas später zu beginnen. Fazit der Grünen: Wir sind uns ja alle einig. Fand ich nicht, und hier hätte ich mir ein ausdiskutieren von Kontroversen sehr gewünscht.
Lebhafte Debatte in der
Pause im Atrium des Energieforums
Alles wie früher: Ja, insofern es darum geht, sich wieder darauf zu besinnen, dass inhaltliche Radikalität (beharrlich, nicht borniertheit!) auch eine Stärke sein kann. Wenn z.B. Reinhard Loske sich in einen Workshop zu ökologischen Lebensstilen begibt und dort durchaus dafür ist, dass Grüne das wieder zu einem Thema machen müssen. Aber auch das äußere: Ja, insofern der Inszenierungsanteils des Kongresses weniger stark zur Geltung kam als bei Parteitagen (Markt der Möglichkeiten, das durchaus nach „öko“ aussehende Essensareal draußen). ((Oder darauf hin inszeniert war, spontan und uninszeniert auszusehen)). Ja: wir sind bunt und vielfältig. Nein, weil in einem hypermodernen Glasbau getagt wurde. Nein, weil die Welt sich verändert hat, und Grüne das begriffen haben. Und nein, weil der Schatten der Regierungszeit in der einen oder anderen Ecke durchaus zu finden war.
Zukunft der Arbeit: Einer der großen Streitpunkte. Auf dem Panel zur Zukunft der Arbeit überzeugten mich Ska Keller von der FYEG und die Soziologin Jutta Allmendinger mit dem Hinweis auf flexiblere und unsichere Arbeitsverläufe als Regelfall der Arbeit der Zukunft weitaus mehr als der Herr Huber von der IG Metall, der den Kern der Arbeit weiterhin in der Industriearbeit sieht, sich für Normalarbeitsfiktionen verkämpft und auf Nachfrage „Industriearbeit“ so umdefiniert, dass damit die Verwaltungstätigkeiten in Industriebetrieben gemeint seien.
Grundeinkommen: Eng damit verbunden die Debatte ums Grundeinkommen. Was viele glaube ich noch nicht kapiert haben, sind zwei Dinge: Erstens die u.a. von Loske ins Spiel gebrachte Verknüpfung von Grundeinkommen als Existenzsicherung und nachhaltigeren Lebensstilen, die erst in dieser Verbindung für weite Bevölkerungskreise die Möglichkeit bieten, Erfüllung jenseits von Konsum zu finden. Zweitens wurde immer wieder „Ende der Arbeit + Grundeinkommen“ und „Arbeit wie bisher + neue Formen der sozialen Sicherung wie Kombilöhne und progressive Sozialabgaben“ gekoppelt. Was dabei überhaupt nicht deutlich wurde: ein Grundeinkommen muss nicht als Reaktion darauf diskutiert werden, „dass uns die Arbeit ausgeht“. Vielmehr ist es eine Möglichkeit, unterbezahlte oder nicht bezahlte Tätigkeitsfelder in Wert zu setzen (und so Arbeit zu schaffen), und zugleich in flexibleren und heterogenen Lebensläufen Phasen der Nicht-Arbeit zu überbrücken. Als Bildungsgeld, als Erziehungsgeld, oder auch für den – grade in der Zeitung zu lesenden Fall – dass zwischen Abschluss des Referendariats und Einstellung als LehrerIn in BaWü zwei Monate Arbeitslosigkeit liegen, für die Hartz-IV mit seinen komischen Vorstellungen von Förderung und Forderung eben nicht das richtige ist. Kurz gesagt: der Versuch, die Idee Grundeinkommen in alte Formen zu pressen, ist untauglich.
Zweite Runde im Workshop zur
Wissensgesellschaft
Wissensgesellschaft: Der von mir mitorganisierte Workshop zur Wissensgesellschaft war gut besucht, Katja Husen hat das ganze toll moderiert, und gelernt haben wir wohl auch einiges. Was mir letztlich dann weniger gut gefallen hat, als ich mir das gedacht habe, war die „inszenierte Kontroversität“. Der Workshop war zweigeteilt; im ersten Teil ging’s um OpenAccess und Zugang zum Wissen, im zweiten Teil um die Zukunft der Hochschule, insbesondere die Rolle der Lehre, unter dem Blickwinkel der Hochschule als Ort der Wissensproduktion. Eigentlich sollten beide Teile kontrovers angelegt sein, de facto war es – aus Zufällen der Zusagen etc. heraus – nur der erste Teil. Die Diskussion zwischen OpenAccess-Aktivist und Börsenverein war lebhaft, hat Spaß gemacht, hat aber letztlich v.a. bestätigt, was wir eh schon wussten. Der zweite Teil war für mich dafür viel spannender: sowohl Susanne Baer (Vizepräsidentin HU Berlin) als auch Sascha Spoun (Uni Lüneburg) kamen letztlich zu einer Neudefinition der Universität als Ort der Persönlichkeitsentwicklung – insofern Humboldt – aber gerade darin zugeschnitten auf die Anforderungen eines wissensgesellschaftlichen Arbeitsmarktes (insofern eben durchaus an „employability“ orientiert). Auch die beiden waren sich glücklicherweise nicht in allen Punkten einig – aber wie das diskutiert und entwickelt wurde, das fand ich überzeugend.
Sillerismus: Auffällig war die starke Präsenz unseres jüngsten Flügelnetzwerks, das sich um den Grundsatzkommissar Peter Siller scharrt. Die SilleristInnen (Eigenbezeichnung „Realismus & Substanz“) waren nicht nur in den Debatten präsent, sondern verteilten auch massiv die neuste Auflage des türkisgrünen Büchleins. Gelesen habe ich’s noch nicht, aber wahrscheinlich wird es mir damit ähnlich gehen wie mit vielen anderen Äußerungen: inhaltlich durchaus vieles, was ich auch so sehe, einiges, was ich ganz anders sehe, aber durchzogen von einer gewissen Besserwisserei und einem eigentlich nicht begründeten Anspruch auf Definitionsmacht. Im Auge behalten!
Gut: Slogan der Sparkasse, die den Kongress im Rahmen des Sponsorings mit Kaffee, Keksen und Schokolade versorgte.