Immer wieder hübsch anzuschauen: die nächtlichen Spiegelungen der Gebäude – hier das Neue Schloss – rund um den Eckensee in Stuttgart in demselben. Wobei der See ja mehr eine schnell veralgende Wasserlache ist. Aber sei’s drum, nett sieht’s trotzdem aus, auf dem Weg zum Bahnhof.
Kurz: Keine Überraschung, trotzdem schlecht
Die Tagesschau berichtet, dass der EU-Klimadienst Copernicus für Februar 2023 bis Januar 2024 zum ersten Mal durchgehend eine 1,5 Grad über dem vorindustriellen Schnitt liegende Temperatur festgestellt hat (das Jahr 2023 insgesamt lag mit 1,48 Grad knapp unter dieser Marke).
Oder anders gesagt: das 1,5‑Grad-Ziel wurde gerissen, und zwar schon ein paar Jahre vor dem dafür vorhergesagten Zeitpunkt. Politisch heißt das: selbst mit einem Rekordzubau an erneuerbaren Energien weltweit sind wir weit davon entfernt, unter 2 Grad Erderhitzung zu bleiben.
Adieu, Wildnis vor der Haustür
Zwischen unserem Haus (also dem Haus, das meine Eltern 1990 gekauft haben, und in dem wir jetzt wieder wohnen, und das in einer Stichstraßen neben vielen identischen Reihenhäusern liegt) und dem Gundelfinger Schulzentrum liegt ein Privatgrundstück, das nicht bebaut ist.
Auf Fotos aus den 1990er Jahren ist das Grundstück eine Wiese, auf der ein paar Bäume stehen. Da sah das ungefähr so aus.
Das war, wie gesagt, 1990 – also jetzt etwa ein Dritteljahrhundert her. Wobei es das Wort Dritteljahrhundert vielleicht gar nicht gibt, passt hier aber gut. Eine Generation. Jedenfalls: beim Einzug lag eine Wiese vor dem Haus, ein paar wenige Bäume, das damals noch etwas kleinere Schulzentrum war zu sehen, und ebenso die Bahnlinie.
Im Lauf der Zeit sind aus den damaligen kleinen Bäumen große Bäume geworden. Weitere sind dazu gekommen. Und: Gestrüpp, Brombeerhecken, Schilf (warum auch immer), all sowas. Das Grundstück ist nach und nach zugewuchert.
Leider finde ich jetzt kein Foto, das diesen Zustand der Wildnis zeigt, fast schon ein kleiner Wald. Das liegt daran, dass auf allen Fotos spielende Kinder zu sehen sind. Denn ein kleiner Wald vor der Haustür eignet sich natürlich hervorragend, um sich zu verstecken – das fanden immer wieder auch Teenager von den Schulen gegenüber -, um Piratenschiffe und Baumhäuser zu imaginieren und so weiter.
Und neben Kindern und Katzen waren da beim Blick aus dem Küchenfenster auch Eichhörnchen und Elstern zu sehen. Einen Igel habe ich da schon getroffen, und natürlich die üblichen Stadtvögel – Meisen, Amseln, Krähen.
Das Grundstück blieb ein Privatgrundstück, das irgendwem gehörte. Warum es nicht bebaut wurde, weiß ich nicht. So lag es über Jahrzehnte brach. Ab und zu wurde der Randstreifen von der Gemeinde gemäht. Vor ein paar Jahren gab es eine Baustelle, ein Teil des Grundstücks wurde genutzt, um Baumaterial zu lagern. Im Großen und Ganzen blieb aber alles so, und wucherte weiter.
Ein kleiner Trampelpfad führte durch das Wäldchen. Wild ausgesät hatten sich nicht nur Haselnüsse, sondern auch Mirabellen, Pflaumen, Birnen, und – ich sagte es schon – Brombeeren. Alles gut gedüngt durch Grünschnitt der Anwohner*innen. Aus einem ausgesetzten Weihnachtsbaum (nicht von uns) wurde eine stattliche Tanne. Und Sicht- und Lärmschutz zur Schule, zur Bahnlinie, zur Straße bot dieses Grundstück auch.
Letzte Woche dann eine kleine Notiz in den Gundelfinger Nachrichten – das Landratsamt wird Bäume fällen, um Container für die Schulsanierung aufzustellen.
Ich hatte damit gerechnet, dass das ähnlich sein wird wie vor ein paar Jahren, beim Baum eines der vielen Anbauten für das Schulzentrum. Damals – auf dem Google-Satellitenfoto gut zu sehen – wurde etwa ein Drittel dafür genutzt. Aber nein: erst wurde gemäht, dann fuhr ein Roboterschaf durchs Unterholz, und gestern früh Motorsägengeräusche. In nicht mal einem Tag wurden unzählige Bäume gefällt, manche davon mit 30, 40 oder mehr cm Durchmesser. Ein Traktor mit Greifarm, ein Mann mit Kettensäge – und aus dem wilden Grundstück wurde ein leere Fläche, am Rand ein riesiger Haufen Stämme und Äste. Ein einziger Nussbaum ganz in der Ecke des Grundstücks durfte stehenbleiben.
Ich verstehe, dass eine Sanierung Platz für Container braucht, und abstrakt betrachtet eignet sich die Fläche dafür sicherlich. Trotzdem bin ich traurig darüber, dass dieser über Jahrzehnte gewachsene kleine Wald jetzt Geschichte ist. Gundelfingen hat leider keine Baumschutzsatzung. Ob die in dem Fall etwas geholfen hätte, weiß ich nicht. Vielleicht wäre es bei einer anderen Planung möglich gewesen, einzelne Bäume zu erhalten. Containerklassen zwischen Bäumen statt Schachtelstapel. Aber: zu spät.
Die Schule ist ein Kreisgymnasium, insofern war das Landratsamt und nicht die Gemeinde zuständig. Formal haben wir mit dem Grundstück direkt vor unserer Haustür nichts zu tun. Trotzdem hätte ich mich gefreut, wenn wir Anwohner*innen vorab informiert worden wären, was da passiert, statt machtlos mit anzusehen, wie nach und nach Baum um Baum und Hecke um Hecke abgeholzt werden.
Photo of the week: Signalorange, Esslingen
Ereignis statt Struktur
Schon wieder ein Demotag, in Freiburg bis zu 40.000 Menschen auf der Straße, ein Bündnis von 400 Organisationen. Und das ist nur Freiburg. Großartig!
Trotzdem bei der Demo – die orga-mäßig, wenn ich das richtig sehe, massiv auf die Infrastruktur vor Fridays for Future zurückgriff, in anderen Orten Parteien oder Gewerkschaften – das Gefühl, dass es ein Risiko gibt, dass dieses Bündnis, das jetzt ein Zeichen gegen die AfD, gegen Rassismus, gegen Ausgrenzung, für Vielfalt und Demokratie setzt, fragil ist. Und dass es keine gute Idee wäre, jetzt massiv Energie dafür einzusetzen, aus dem Ereignis der möglicherweisen größten Demonstrationen der deutschen Geschichte eine Struktur zu machen.
Wir – die wache Zivilgesellschaft – haben gezeigt, dass wir im Zweifel da sind. Wir sind in der Lage, in kürzester Zeit mit vielen, vielen Menschen auf die Straße zu gehen und damit Politik und öffentliche Meinung zu beeinflussen. Das ist extrem wichtig – und das wird gesehen, so jedenfalls meine Innenperspektive aus grüner Partei und Fraktion.
Wichtiger als die nächste Demo, bei der dann sofort die Frage gestellt wird, ob’s diesmal noch mehr Menschen waren, oder ob die „Bewegung“ schon wieder einschläft, ist es, diese Energie jetzt in die existierenden Strukturen zu gießen.
Das sind Parteien und Gewerkschaften, Initiativen und Verbände. All die gibt es. All die stehen für Demokratie – in den mühsamen Ebenen des Alltags. Und all diese Einrichtungen brauchen Menschen, die mitmachen, die sich einbringen, die dabei sind. Und die diese Haltung auch in ihr persönliches Umfeld tragen. Die widersprechen und ihre Meinung sagen.
Ereignis und Struktur ist eine der Grundunterscheidungen der Soziologie. Etwas, das regelmäßig passiert, das dann seine eigenen Regeln ausbildet, Erwartungen bündelt und Praktiken begründet, das ist eine Struktur. Und ohne Strukturen würde nichts funktionieren. Aus einem Ereignis, einem einmaligen und neuen Ding, eine Struktur zu machen, kostet Kraft. Was als Bündnis für den Moment funktioniert, zeigt bei jeder Strukturbildung sofort Fliehkräfte, führt zu Auseinandersetzungen über den richtigen Weg, über das „das machen wir so“. Und Aufmerksamkeit gibt es für das Ereignis, nicht für die dauerhafte Anstrengung.
Das Signal ist da und so stark, wie es nur sein kann. Ich hoffe, es ist angekommen und hilft, die gesellschaftliche Mitte nach links zu verschieben. Im Wechselspiel aus Ereignis und Struktur bewegt sich etwas. Das einmalige Ereignis mit den Großdemos dieser Tage – und die mühsame Alltagsarbeit in Parteien, Initiativen, Verbänden. Zusammen bringt das was, zusammen verändert das was. Deswegen: großartig, dass es diese Demos gab – aber lasst uns jetzt den Modus wechseln.