Zitterpartie?

In einem Dresd­ner Wahl­kreis fällt die Bun­des­tags­wahl aus [sie­he Spie­gel online] – bzw. fin­det eini­ge Wochen spä­ter statt. Das kann gar nichts bedeu­ten, kann aber schlimms­ten­falls hei­ßen, dass erst irgend­wann im Okto­ber klar ist, ob es eine schwarz-gel­be Mehr­heit, eine gro­ße Koali­ti­on oder doch allen Vor­aus­sa­gen zum Trotz eine Fort­füh­rung der Regie­rung aus SPD und Grü­nen geben wird. Mög­lich wäre das dann, wenn das tat­säch­li­che Wahl­er­geb­nis ähn­lich knap­pe Mehr­hei­ten wie in den letz­ten Umfra­gen mit sich bringt.

> Update: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,373716,00.html

> Aus­führ­li­ches State­ment zu mög­li­chen Kon­se­quen­zen (inklu­si­ve der Mög­lich­keit, dass die SPD bei der nach­träg­li­chen Wahl in Dres­den dazu auf­ru­fen könn­te, für die CDU zu stim­men …): http://www.wahlrecht.de/news/2005/24.htm

Schach?

Eine inter­es­san­te Spe­ku­la­ti­on fin­det sich im Hei­se-Forum zu einem Tele­po­lis-Arti­kel [1]: Nach­dem die CDU sich jetzt auf Mer­kel als Kan­di­da­tin für die Kanz­le­rin fest­ge­legt hat, muss Schrö­der nur noch her­aus­fin­den, dass sein Plan zu vor­zei­ti­gen Neu­wah­len lei­der nicht umsetz­bar ist und bis 2006 wei­ter­re­gie­ren … gegen eine dann ziem­lich dumm daste­hen­de CDU.

((Aller­dings glau­be ich nicht an der­art ver­we­ge­ne Schach­zü­ge – inter­es­sant wär’s.))

Das Ende der SPD

Okay – das letz­te rot-grün regier­te Bun­des­land ist ver­lo­ren gegan­gen. Es ist deu­lich, dass es für die aktu­el­le Regie­rungs­po­li­tik kei­ne Mehr­heit gibt. Auch wenn mir nicht klar ist, war­um Leu­te CDU wäh­len, weil ihnen die SPD zu unso­zi­al ist, aber das scheint der Fall zu sein. Was tut die SPD? Der Kanz­ler erklärt sein Pro­jekt für geschei­tert und möch­te des­we­gen im Allein­gang die Bun­des­tags­wahl vor­zie­hen und dann erneut antre­ten – mit dem sel­ben Per­so­nal und dem sel­ben Pro­gramm. Ein Jahr wäre noch Zeit gewe­sen, um zu zei­gen, dass die Bot­schaft der Wäh­le­rIn­nen ver­stan­den wur­de und die Bun­des­po­li­tik doch etwas anders aus­se­hen kann. Nicht ein­fach, mit einer CDU-Bun­des­rats­blo­cka­de. Aber auf­ge­ben? Was kann es für eine schlech­te­re Bot­schaft geben als zu sagen: wir trau­en uns das nicht zu, wir sind mit unse­rem Latein am Ende, wählt uns doch ab? Vor­ge­zo­ge­ne Bun­des­tags­wah­len sind kein Befrei­ungs­schlag, son­dern – zumin­dest, wenn Schrö­der noch ein­mal antritt – ein kla­res Signal für den Back­lash zurück ins Schwarz-gel­be, die Fort­set­zung der Regie­rung Kohl, als wäre nichts gewe­sen. Wenn die SPD jetzt frei­wil­lig alles hin­schmeißt, dann sind unter 25 Pro­zent für die SPD vor­stell­bar; aus den Irra­tio­na­li­tä­ten des bun­des­deut­schen Wäh­le­rIn­nen­ver­hal­tens her­aus wer­den die­se feh­len­den Stim­men zu einem gro­ßen Teil nicht an pro­gres­si­ve Kräf­te gehen – son­dern gleich ans Ori­gi­nal einer fata­len Poli­tik. Der Herbst wird heiß; und viel­leicht tat­säch­lich der Beginn eines Wan­dels des deut­schen Par­tei­en­sys­tems und poli­ti­schen Ver­hal­tens. Oder aber der Beginn einer fros­ti­gen Ära der Kon­ser­va­ti­ven und Neo­li­be­ra­len, ohne gro­ße Hoff­nun­gen auf ein bal­di­ges Ende. Wo bleibt die inner­par­tei­li­che Revol­te in der SPD – statt jetzt unter Anlei­tung von Schrö­der und Mün­te­fe­ring kol­lek­tiv Selbst­mord zu begehen?

> Wahl­er­geb­nis­se NRW 2005
> Schrö­ders Erklärung
> Die Wirt­schaft freut sich

„Visa-Affäre“

Da machen grü­ne Poli­ti­ke­rIn­nen das, wofür sie unter ande­rem gewählt wor­den sind, näm­lich als Anti­ab­schot­tungs­po­li­ti­ke­rIn­nen: sie erleich­tern die Rei­se­frei­heit (zumin­dest ein klei­nes biß­chen). Und schon gibt es eine vom CDU-Unter­su­chungs­aus­schuss ange­feu­er­te wochen­lan­ge Medi­en­de­bat­te, eine Affä­re. Kon­kre­te Zah­len lie­gen kei­ne vor, um wor­um es eigent­lich geht, ist den meis­ten auch egal. Selbst die sonst ja manch­mal recht ver­nünf­ti­ge taz hat eini­ge Wochen lang gemeint, es sei am bes­ten, sich auf die Sei­te der CDU zu stel­len (seit die Leit­ar­ti­kel zum The­ma nicht mehr von Chris­ti­an Fül­ler geschrie­ben wer­den, ist die Hal­tung wie­der etwas rea­lis­ti­scher und weni­ger skan­dal­hei­schend gewor­den). Jeden­falls scheint mir lang­sam der Mit­te-Links-Öffent­lich­keit und ihren Sprach­roh­ren deut­lich zu wer­den, dass Anga­ben der CDU viel­leicht zumin­dest über­prüft wer­den soll­ten, bevor sie als Wahr­heit abge­druckt wer­den. In der letz­ten Zeit (und ver­ein­zelt, ver­steckt auch schon zuvor) gab es dann auch ein paar emp­feh­lens­wer­te Arti­kel zum Thema:

> Spie­gel-Inter­view mit Wla­di­mir Kami­ner („Rus­sen­dis­ko“)
> Kom­men­tar von Phil­ipp Dudek aus der taz von heute
> Kom­men­tar aus der taz vom 5.3. von Ulri­ke Herrmann
> Kom­men­tar aus der taz vom 1.3. von Chris­ti­an Semler
> Ana­ly­se der Spie­gel­be­richt­erstat­tung in der taz vom 9.2. von Bet­ti­na Gaus

Die fetten Jahre sind vorbei: Antiglobalistas vs. Alt-68er

Wie bei jedem gutem Film lässt sich der grund­le­gen­de Plot von Die fet­ten Jah­re sind vor­bei in weni­gen Sät­zen zusam­men­fas­sen. Jan und Peter sind Teil der Ber­li­ner Sze­ne und seit lan­gem gut befreun­det. Nachts machen sie „ihr Ding“, bre­chen als die Erzie­hungs­be­rech­tig­ten in Gru­ne­wäl­der Vil­len ein, um dort deut­li­che Spu­ren zu hin­ter­las­sen, und die Aus­sa­ge: Die fet­ten Jah­re sind vor­bei, du hast zuviel Geld – mach Dir mal Sor­gen! Jule zieht für ein Tagen bei den bei­den ein, weil sie aus ihrer Woh­nung gewor­fen wird – Miet­rück­stän­de und ein gro­ßer Schul­den­berg, der nur wütend machen kann. Bei einem Ein­bruch (soviel darf ver­ra­ten wer­den), bleibt den drei­en dann nichts ande­res übrig, als den über­ra­schend auf­tau­chen­den Besit­zer der Vil­la, Jus­tus Har­den­berg, zu ent­füh­ren. Wohin jetzt? Auf der Tiro­ler Berg­hüt­te ler­nen die vier sich näher kennen.

Hans Wein­gart­ners Film sind eigent­lich zwei Fil­me, die sich deut­lich in Stil und Atmo­sphä­re unter­schei­den. Der Wen­de­punkt ist die Fahrt nach Tirol. Vor­her ist der Film ein Film über die aktu­el­le anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Sze­ne, und hat hier ziem­lich genau hin­ge­schaut, zumin­dest was das Sty­ling angeht. Sozi­al­be­richt­erstat­tung. Die Fron­ten zwi­schen Gut und Böse sind klar ver­teilt, Möbel­rü­cken als revo­lu­tio­nä­rer Akt liegt nahe. Bis zur Fahrt nach Tirol ist der Film span­nungs­ge­la­den – von anfäng­li­chen Prü­ge­lei­en bei einer Demo und kur­zen Bli­cken ins Inne­re der Prot­ago­nis­tIn­nen über haut­na­he Ihr-da-oben-wir-da-unten-Wut bis zu den schon erwähn­ten Ein­brü­chen. Und dazwi­schen bahnt sich auch noch eine Drei­ecks­ge­schich­te an. Die­ser ers­te Teil dreht sich viel­leicht um die Fra­ge: „Ich wür­de ger­ne an was glau­ben und revo­lu­tio­när sein, aber es gibt ja kei­ne Jugend­be­we­gung mehr.“ 

Teil II des Fil­mes fängt mit der unge­plan­ten und hilf­lo­sen Ent­füh­rung an. Danach „kön­nen wir nicht mehr zurück in unser altes Leben, soviel ist klar“. Aber was tun mit dem Ent­füh­rungs­op­fer? Die­ser Teil ist lang­sa­mer, theo­rie­ge­la­den. Lan­ge Gesprä­che am Küchen­tisch, und irgend­wann erzählt Har­den­berg von sei­ner revo­lu­tio­nä­ren Jugend im SDS. So inter­es­sant der Aus­tausch über die Gene­ra­tio­nen hin­weg sein kann: etwas muss pas­sie­ren. In der enge der Berg­hüt­te blüht die Drei­ecks­ge­schich­te auf, bis zum sinn­lo­sen Ende. Bei genaue­rem Hin­se­hen nicht ganz unschul­dig dar­an: Har­den­berg, habi­tu­ell zur K‑Grup­pen-Intri­ge ver­an­lagt. Der ers­te Schluss des Films ist erwart­bar, jeden­falls scheint es so. Doch das Sys­tem wird aus­ge­trickst, am Ende hängt ein Zet­tel da – man­che Men­schen ändern sich nie – und wer will, kann die­sen zwei­ten Teil des Films zusam­men­fas­sen zu „Wie kann ein Men­schen mit sol­chen Idea­len heu­te so ein Leben füh­ren?“ Es bleibt uns Zuschau­en­den über­las­sen, uns für „Fami­lie, Kin­der, Schul­den, Sicher­heit, Arbeit, Arbeit, Arbeit, CDU“ zu ent­schei­den, oder für den mäch­ti­gen Vor­wurf gegen die Alt-68er von den Kin­dern der Revo­lu­ti­on, der der Schluss­punkt des Fil­mes eben auch ist. 

Bei aller Schwarz-Weiss-Male­rei ist es dann auch die­se Unent­schlos­sen­heit, die sich bei genaue­rem Hin­se­hen durch den Film durch­zieht. Die kla­re, mora­li­sche Bot­schaft: „Revol­te ist rich­tig, die guten Ideen über­le­ben“ steht auf der einen Sei­te – und der Rück­schlag in Form der Auf­ar­bei­tung der nähe­ren Ver­gan­gen­heit (wie ja auch schon in der Serie an RAF-Fil­men der letz­ten Jah­re gesche­hen) auf der ande­ren. Jan, Peter und Jule trick­sen, wie gesagt, das Sys­tem aus. Nach dem Schluss kommt noch ein Schluss, hap­py Kapitalismuskritik.

Was lässt sich über die­sen stre­cken­wei­se dann doch theo­rie­lan­gen (aber in der Theo­rie teil­wei­se inter­es­san­te­ren), stre­cken­wei­sen in ein­fa­chen Kli­schees gehal­te­nen Film noch sagen? Auf­ge­fal­len ist mir der Stil: vie­les wirkt impro­vi­siert und zugleich sehr echt – von Jules kick­sen­dem Lachen über die Abgrün­de der all­täg­li­chen Revol­te bis zu den Türen der lin­ken WG. Hand­ka­me­ra­wa­ckeln, Brü­che zwi­schen Dun­kel­heit und Licht, ganz nor­ma­le Leu­te: all das trägt sicher­lich dazu bei. Ganz auf­schluss­rei­che wäre es viel­leicht, Die fet­ten Jah­re sind vor­bei mal mit Die Träu­mer, dem Film über das pri­va­te Leben im revo­lu­tio­nä­ren 1968er-Paris par­al­lel zu set­zen. Und sich Fra­gen dar­über zu stel­len, ob hin­ter den vor­der­grün­di­gen Ähn­lich­kei­ten von Jugend­be­we­gung, Revol­te und pri­va­tem Drei­eck nicht doch selbst in die­sen bei­den Kunst­wel­ten gra­vie­ren­de Unter­schie­de zwi­schen der Chan­ce zu nai­ver Kri­tik damals und der viel­fa­chen Refle­xi­ons- und Bre­chungs­not­wen­dig­keit des „Revo­lu­tio­nä­ren“ heu­te sicht­bar werden. 

http://www.diefettenjahre.de/ (nur mit Flash)

Nach­trag: auch in u‑as­ta-info #727 vom 2.12.2004, S. 7.