Kurz: Aufbruch ins 21. Jahrhundert

Seit rund zwan­zig Jah­ren leben wir im 21. Jahr­hun­dert. (Und fast alle Nega­tiv­pro­gno­sen, die 1997 in WIRED ver­öf­fent­lich wur­den, sind ein­ge­trof­fen). Jetzt end­lich habe ich die Hoff­nung, dass wir eine Regie­rung bekom­men, die im 21. Jahr­hun­dert ange­kom­men ist. Ich habe den Ent­wurf des Koali­ti­ons­ver­trags noch nicht im Detail gele­sen, und bin mir sicher, dass sich neben vie­len gesellschafts‑, digi­tal- und umwelt­po­li­ti­schen Fort­schritts­mo­men­ten auch Din­ge dar­an fin­den, bei denen ich schlu­cken muss. 

Dass das Ver­kehrs­mi­nis­te­ri­um an die FDP geht – und der Ver­kehrs­teil viel Kon­ti­nui­tät ent­hält, und wenig Auf­bruch – ist so etwas. In der Sum­me ist mein Ein­druck aber bis­her ein posi­ti­ver. Und zu die­sem posi­ti­ven Ein­druck hat wesent­lich auch der Sound und der Stil der Pres­se­kon­fe­renz bei­getra­gen, auf der heu­te der Koali­ti­ons­ver­trag vor­ge­stellt wur­de. Viel­leicht liegt’s dar­an, dass ich die han­sea­ti­sche Zurück­hal­tung mag. Aber ins­ge­samt war das ein Auf­takt, der ehr­lich, demü­tig und zurück­hal­tend wirk­te – und gleich­zei­tig unter dem Mot­to „Mehr Fort­schritt wagen“ den Mut aus­strahl­te, die gro­ßen Auf­ga­ben anzu­ge­hen, und dabei auch Zumu­tun­gen in Kauf zu neh­men. Viel Ver­an­ke­rung in Euro­pa, viel Kli­ma­schutz (ja!), ein Bekennt­nis zu den not­wen­di­gen Inves­ti­tio­nen, zu einem moder­nen und moder­ni­sier­ten Staat und einer viel­fäl­ti­gen Gesell­schaft. Das hat mir gefallen. 

Und beein­druckt hat mich auch, dass alle Redner*innen – Scholz, Habeck, Lind­ner, Baer­bock, Wal­ter-Bor­jans, Esken – den Stil der Zusam­men­ar­beit betont haben, das gemein­sa­me, viel­leicht auch für zwei Legis­la­tur­pe­ri­oden ange­leg­te Pro­jekt, um den not­wen­di­gen Wan­del anzu­ge­hen. Es wur­de nicht ver­schwie­gen, dass es Kon­flik­te gab – und es wur­de nicht ver­schwie­gen, dass jede der drei Par­tei­en etwas auf­ge­ge­ben hat und an dem einen oder ande­ren Punkt dazu­ge­lernt hat. Poli­tik als ler­nen­des Sys­tem, in dem Feh­ler kor­ri­giert wer­den, statt sich ein­zu­gra­ben und die eige­ne Hal­tung als immer schon rich­tig zu ver­tei­di­gen – wenn das in die kom­men­de Regie­rung mit­ge­nom­men wird, dann bin ich nicht ban­ge, dass hier etwas gelin­gen kann. Mit Demut und Zurück­hal­tung statt mit Pomp und Geschrei.

Ich wer­de mir den Koali­ti­ons­ver­trag jetzt im Detail anschau­en und aus der Bewer­tung her­aus dann ent­schei­den, ob ich in unse­rer grü­nen Urab­stim­mung zustim­me. Aktu­ell bin ich heu­te jeden­falls deut­lich posi­ti­ver gestimmt als noch vor ein paar Tagen. 

Koalitionsvertragswordles

wordle.net ist ein Tool, dass die häu­figs­ten Wör­ter aus Tex­ten in einer Wort­wol­ke (Grö­ße ent­spricht häu­fig) visua­li­sie­ren kann. Ich habe Word­le mal für die 200 häu­figs­ten Wör­ter über die Koali­ti­ons­ver­trä­ge aus Baden-Würt­tem­berg (Grün-Schwarz), Rhein­land-Pfalz (Rot-Grün-Gelb) und Sach­sen-Anhalt (Schwarz-Rot-Grün) drü­ber­lau­fen lassen. 

Die Aus­sa­ge­kraft der Ergeb­nis­se mögen ande­re beur­tei­len – auf­fäl­lig ist, dass das mit Abstand häu­figs­te Wort jeweils der Lan­des­na­me ist, und dass Ver­ben wie „unter­stüt­zen“, „för­dern“, „stär­ken“ (in Baden-Würt­tem­berg auch „ermög­li­chen“ und „wei­ter­ent­wi­ckeln“) eine gro­ße Bedeu­tung zukommt. Bei den Sub­stan­ti­ven sind vor allen poli­ti­schen The­men­fel­dern die „Men­schen“, das „Land“ und (in Sach­sen-Anhalt und Rhein­land-PFalz) die „Koali­ti­ons­part­ner“ zu nen­nen. Erst danach tau­chen dann „Unter­neh­men“ und „Hoch­schu­len“, „Schu­len“ und „Kom­mu­nen“ sowie The­men wie „Inte­gra­ti­on“, „Digi­ta­li­sie­rung“ (BW) und „Arbeit“ (RLP) auf.
Wordle Baden-Württemberg

Wordle

Wordle Sachsen-Anhalt

(Etwas auf­wän­di­ger wäre die Fra­ge, was pas­siert, wenn alle Begrif­fe weg­ge­nom­men wer­den, die in allen drei Koali­ti­ons­ver­trä­gen auf­tau­chen. Ob dann ein Pro­fil übrigbleibt?)

Kurzeintrag: CDU-Grüne-Koalition steht (vielleicht) (Update 7: taz)

Jeden­falls mel­det z.B. der NDR Details der Koali­ti­ons­ver­ein­ba­rung und mög­li­che Per­so­nen für mög­li­che Minis­te­ri­en. Wenn das gan­ze stimmt, fra­ge ich mich, war­um die Grü­nen bei der Wis­sen­schafts­be­hör­de nicht zuge­grif­fen haben. Wäre doch eigent­lich der idea­le Pos­ten für Kris­ta Sager, die hat das ja auch schon­mal gemacht …

Mini­blog­schau dazu: Julia kom­men­tiert das (iro­nisch? psycho-ana­ly­tisch? ernst­ge­meint?) mit „Das Mons­ter steht vor der Tür“, bei Grü­nes­Frei­burg gibt’s eine Erör­te­rung der Vor- und Nach­tei­le einer sol­chen Koali­ti­on, und mein Maß­stab steht wei­ter­hin hier. 

War­ten wir mal ab, was jetzt wirk­lich im Ver­trag steht, und was die bei­den Par­tei­ta­ge dazu sagen.

Update: (17.04.2008) John­ny Häus­ler von Spree­blick macht sich Sor­gen um das nach­las­sen­de Wäh­le­rIn­nen-Inter­es­se an den Grü­nen, soll­te es zur Koali­ti­on kom­men. Robert eben­so (pdf). Hen­ning sieht’s als Roman­ze. Für Dany ist’s eher ein Expe­ri­ment als eine Ehe. Jür­gen Trit­tin will mehr davon – bzw. auch nicht, war nur der tro­cke­ne Humor der Nord­deut­schen. Eben­so geht’s der CSU. Und prompt fin­det Kat­ja das Baye­ri­sche in Ham­burgs Poli­tik.
Soweit der heu­ti­ge Pressespiegel.

Update 2: (17.04.2008) Julia weist dar­auf hin, dass der Koali­ti­ons­ver­trag (pdf) inzwi­schen online ist. Viel­leicht pos­te ich noch ein paar Gedan­ken dazu. Zumin­dest die Prä­am­bel fin­de ich ganz beein­dru­ckend, wenn es dort heißt:

CDU und GAL legen mit die­sem Ver­trag ihr Regie­rungs­pro­gramm für Ham­burg vor, das sich auf die Schwer­punk­te und neu­en Akzen­te der gemein­sa­men Regie­rungs­ar­beit konzentriert.
CDU und GAL sind durch unter­schied­li­che poli­ti­sche Erfah­run­gen und Ideen geprägt. Wenn sie den­noch zusam­men­ar­bei­ten, müs­sen und wol­len sie sich auf Neu­es ein­las­sen. Unter­schie­de müs­sen nicht zu Wider­sprü­chen zuge­spitzt wer­den, sie kön­nen auch zu Ergän­zun­gen ver­bun­den wer­den, die neue Lösun­gen ermöglichen.
[…]
In die­sem Sin­ne wer­den die Koali­ti­ons­part­ner in den nächs­ten vier Jah­ren auf der Grund­la­ge die­ses Ver­tra­ges ver­trau­ens­voll zusam­men­ar­bei­ten. Ohne eige­ne Über­zeu­gun­gen der bei­den Par­tei­en auf­zu­ge­ben, wol­len wir das Gemein­sa­me suchen und ver­su­chen. Bei bestehen­den Diver­gen­zen wer­den wir ent­we­der ver­su­chen, die­se zu über­brü­cken oder sie im fai­ren Umgang mit­ein­an­der den Inter­es­sen der Stadt unterzuordnen.

Das ist zumin­dest mal eine kla­re Ansa­ge. Und ein ganz ande­rer Ton­fall als z.B. der Pathos des rot-grü­nen Ver­tra­ges von 19982002.

Per­so­nell heißt es ganz am Schluss des Ver­trags, dass die Sena­to­rIn­nen der Schul­be­hör­de, der Behör­de für Stadt­ent­wick­lung und Umwelt und der Jus­tiz­be­hör­de von der GAL gestellt wer­den. Das ent­spricht den NDR-Spe­ku­la­tio­nen von ges­tern, die als kon­kre­te Per­so­nen dafür (in die­ser Rei­hen­fol­ge) Chris­ta Goetsch, Anja Haj­duk und Till Stef­fen genannt haben.

Update 3: Die Per­so­na­li­en sind inzwi­schen bestätigt.

Update 4: (18.04.2008) Ario hat sei­nen Bei­trag dann doch iro­nisch iro­nie­frei „Über­ra­schung!“ beti­telt (und nicht „Es ist ein Mäd­chen“), schaut sich den Koali­ti­ons­ver­trag an und fin­det zwar das eine oder ande­re grü­ne Haar in der schwar­zen Sup­pe, kommt aber letzt­lich – wie geschätzt 75% der grü­nen Lin­ken, aber mög­li­cher­wei­se weni­ger als 50% der grü­nen Ham­bur­ge­rIn­nen – zur zwi­schen­zei­lig doch deut­lich her­aus­les­ba­ren Ein­schät­zung, dass jetzt nur eine Ver­trags­ab­leh­nung die Par­tei ret­ten könn­te. Etwas ernst­haf­ter: vie­les im Koali­ti­ons­ver­trag sind Prüf­auf­trä­ge, weit­hin sicht­ba­re grü­ne Erfol­ge gibt es weni­ge, und die Krö­ten­haf­tig­keit für CDU und Han­dels­kam­mer – da wür­de dann zumin­dest mal die meta­pho­ri­sche Far­be stim­men – muss sich auch erst noch zeigen.

Update 5: Der Tages­spie­gel berich­tet, dass 52 % der Bür­ge­rIn­nen, 73 % der Grü­nen-Anhän­ge­rIn­nen und immer­hin noch 58 % der CDU-Anhän­ge­rIn­nen schwarz-grün sinn­voll finden.

Update 6: (19.04.2008) Das eine schwarz-grü­ne Koali­ti­on stra­te­gisch in einem Fünf-Par­tei­en-Sys­tem durch­aus hilf­reich sein kann – und noch­da­zu dazu bei­tra­gen kann, die dunk­le­ren Sei­ten der SPD ins Licht zu zer­ren – zeigt sehr schön die Reak­ti­on von Kurt Beck und Sig­mar Gabri­el auf Ham­burg. Der eine spielt belei­dig­tes Arbei­ter­kind, der ande­re will das Kli­ma durch Koh­le ret­ten und sieht Moor­burg schon gefallen. 

Update 7: Lesens­wert die Ein­schät­zung der taz ham­burg – „Der schwarz-grü­ne Koali­ti­ons­ver­trag in Ham­burg ist uner­war­tet gut. Für die Elb­ver­tie­fung und die Inne­re Sicher­heit akzep­tiert die CDU vie­le grü­ne Posi­tio­nen, die kürz­lich noch als Teu­fels­zeug galten.“