Als Roderich heute seine Maus in die Hand nehmen wollte, entdeckte er einen Elfenflügel. Den hob er ganz vorsichtig ins Licht – bei jedem Atemhauch drohte er ihm zu entfliehen – und sah die feinen Strukturen, die in die glasige Substanz hineingewirkt waren. Er seufzte. So wie ein Flügel eines Ahornsamens, aber viel kleiner und durchsichtiger und feiner. So wie eine Feder, aber eben doch ganz anders. Jemand anderes hätte diesen Flügel für den eines Insekts halten können. Aber wieso sollte ein Insekt ausgerechnet auf seiner Maus einen Flügel verlieren, und wozu? Roderich war sich sicher, dass er einen Elfenflügel gefunden hatte, und um das zu verstehen, braucht es eine Vorstellung davon, wie sein Schreibtisch aussieht.
Nicht jeder Schreibtisch ist so vollgepackt wie der von Roderich. Organisch gewachsene Papierberge bilden das Rohmaterial dieser Architektur, gebändigt durch mehrere inzwischen tief in der Schreibtischstadt verborgene Bücher, Bürowerkzeuge, die lange vermisste Kleiderbügel, die Metallverstrebung der Schreibtischlampe – so eine, die Ingenieure an ihren Zeichentischen haben – und natürlich durch den Schreibtisch selbst. Die fein ziselierte Stadt aus Papier erstreckt sich über mehrere Stockwerke. Unterirdisch – also unterhalb der Schreibtischplatte – finden sich übereinander gelagerte Aktenordner, die aus der Perspektive sehr kleiner Lebewesen wie Kellergewöble wirken würden. Darüber türmen sich, wohl auf zwei Dritteln der Schreibtischfläche, kompakt verschachtelte Bauwerke mit barocken Ausbuchtungen, Erkern und behauenen Seiten.
Ein Drittel des Tisches bleibt Roderich, aber mit den ganzen digitalen Medien braucht er ja nicht mehr viel Platz. Da steht der Bildschirm, da liegt die Tastatur, und für die Maus ist auch noch Platz. Mit einiger Sorge betrachtet Roderich allerdings den sich nach und nach entwickelnden Überhang, der hinter dem Mauspad in die Höhe ragt. Wenn der so weiterwächst, dann wird das Mauspad in nicht allzuferner Zukunft in einer Höhle liegen.
Von dieser Klippe aus musste der Elfenflügel auf die Maus hinabgefallen sein. Als Botschaft? Es wäre nicht das erste Mal. Schon vor einigen Wochen war Roderich auf Widerstand gestoßen, als er versucht hatte, einen der Papierstapel umzugraben, auf der Suche nach einem Buch, das bereits vor Wochen wieder in der Bibliothek hätte stehen sollen. Inzwischen nahm Roderich lange Umwege in Kauf, um das Provisorium zu umgehen, in dem die Bibliothek derzeit untergebracht war. Er fand es erstaunlich, dass Mahngebühren einen zu solchen Schritten zwingen können, aber so war es halt. Aber lieber der Bibliothek aus dem Weg gehen als noch einmal zu erleben, wie eine harmlos aussehende Aktenmappe sich beim Versuch, sie hochzuheben, als zentnerschwer erwies. Auch der Weg von der anderen Seite war versperrt. Zwar konnte er einige Blätter umschichten – und meinte dabei, ein Grollen und leises Fluchen zu hören – aber dann hätte er fast in die offene Schere gegriffen. Und er war sich sicher, dass hier wenige Minuten zuvor noch kein geöffnetes Scherenblatt in die Höhe geragt hatte. Als er erneut nach dem Stapel griff, trafen drei Stecknadeln seine Finger. Das tat weh und ging zu weit.
Roderich klebte ein Pflaster auf den Handrücken, setzte sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl und wunderte sich darüber, dass der Bildschirm schwarz blieb. Bei genauerem Hinsehen leuchte keine der Leuchtdioden. Und als er unter den Schreibtisch kroch, um nach der Ursache zu forschen, fand er die Steckdosenleiste ausgesteckt. Er fürchte schon um seine Festplatte, fasste sich dann aber mit einem Schmerzenschrei an den Kopf. Die spitze Kante eines der hier gestapelten Aktenordner hatte ihn gerammt! Auch hier eine blutende Wunde, und ein weiteres Pflaster, dieses direkt am Haaransatz. Danach lief der Rechner wieder, als wäre nichts gewesen, und auch die Tage und Wochen darauf hatte sich sein Schreibtisch wie ein Schreibtisch und nicht wie eine wehrhafte Elfenstadt verhalten.
Doch jetzt: der winzigkleine Elfenflügel, der so harmlos glänzend auf seiner Maus gelegen war. Roderich ahnte, was das zu bedeuten hatte. Ja, er brauchte gar nicht mal die Wikipedia aufrufen oder ins Rollenspiel-Handbuch zu schauen: ein derartiges Opfer einer der Elfen konnte nur eine – womöglich tödliche? – Drohung aus der Schreibtischstadt sein. Er seufzte noch ein zweites Mal.
Wenn er die Maus vor die Tastatur schob – das Mauspad als Baugrund musste er natürlich an seinem Platz liegen lassen – ja, so konnte es gehen. Das Schreiben am Computer war auf diese Weise zwar ein wenig unbequem; aber doch besser, als sich mit den Elfen aus der papierernen Stadt anzulegen. Vielleicht war es an der Zeit, den Tisch ganz aufzugeben.