Noch ist alles rot und gelb, wenn ich aus dem Fenster schaue, aber allmählich neigt sich der Herbst seinem Ende zu. Zeit, um noch einmal das Zusammenspiel von Sonne und den sich verflüchtigenden Nebelresten vor einigen Tagen ins Bild zu holen, die den Waldspielplatz in Gundelfingen unter ein Spotlight gerückt haben.
Zombie-Debatten und formative Schnippsel
Ich bin schon seit geraumer Zeit dabei, die Ordner, die ich von Umzug zu Umzug mitgeschleppt habe, zu digitalisieren. Andere Menschen würden vermutlich eher zu „kann doch weg“ tendieren, ich habe, und wenn ich mir unseren Keller anschaue: durchaus familiär beeinflusst – eher eine Tendenz zum Aufheben. Also: Ordner digitalisieren, alles mögliche kommt in den Doppelseiteneinzugsscanner (lang lebe DIN A4), und viel Volumen hat natürlich die Studienzeit eingenommen.
In den letzten Wochen bin ich nun im Gang rückwärts in der Zeit um 1993 angekommen. 1994 habe ich Abi gemacht, danach Zivildienst und dann im Herbst 1995 angefangen zu studieren. Parallel war ich zu dieser Zeit auf Landesebene in der damaligen Grün-Alternativen Jugend (GAJ) aktiv, es gab auch eine Freiburger Ortsgruppe (zusammen mit den letzten Resten von JungdemokratInnen/Junge Linke), und Schülerzeitung, SMV – mit lokalpolitischen Bezügen, eine Meinungsumfrage zum Bürgerentscheid „Litzfürst“ schaffte es sogar in die Schulkonferenz – und 1994 gründete sich das Grün-Alternative Jugendbündnis GAJB, der Vorläufer der heutigen Grünen Jugend. Viel los in dieser Zeit also. Und vieles, was ich vergessen hatte …
1993 habe ich angefangen, systematisch Zeitungsausschnitte zu sammeln (und das bis Ende 1995 fortgeführt, danach wurde es dann in Bezug auf die Zeitungsausschnitte unsystematischer und in Bezug auf alles, was soziologisch oder digitalpolitisch interessant war, systematischer – schließlich fing dann mein Studium an, und ich kam mit Bibliografien und der Idee von Literaturverwaltungssoftware in Kontakt). Und dieser Ordner Presse von 1993 bis 1995 ist in mehrfacher Hinsicht interessant.
Biografisch, weil er einen ganz guten Überblick gibt, was mich damals, in einer sicherlich sehr prägenden Zeit, interessiert hat. Und zum anderen auch mit Blick auf die Wiedergänger. Viele Debatten tauchen heute, dreißig Jahre später, wieder auf. Ich will das an ein paar Beispielen verdeutlichen:
1993, gleich der erste aufgehobene Artikel, ist aus der Badischen Zeitung und berichtet über eine „Schüler-Demo gegen Fremdenhaß“ mit gut 1000 Teilnehmenden („Enttäuschung über die geringe Teilnehmerzahl“). Interessant in dem Zusammenhang auch ein Flugblatt des Freiburger Kreisverbands der Grünen, das ich als Konzeptpapier zum Aufkleben der Presseschnippsel verwendet hatte. Das dürfte ebenfalls aus dem Jahr 1993 oder 1994 stammen und trägt den Titel: „Der Feind steht rechts!“ (ein Zitat des Reichskanzlers Wirth, 1922). Sammelunterkünfte für Asylsuchende ebenso wie die politische Annäherung der CDU an die damaligen „Republikaner“ werden thematisiert. Klingt leider alles brandaktuell.
Dann beschäftigen sich 1993 einige Artikel mit dem Jugendumweltfestival Auftakt in Magdeburg, an dem ich auch teilgenommen hatte. Umweltthemen nehmen in der Sammlung einen großen Raum ein – Presseberichte zu diversen Protesten (Castortransporte!) ebenso wie zum 1995 in Freiburg stattfindenden Jugendumweltkongress Jukß mit 1200 Jugendlichen aus ganz Deutschland. Für eine autofreie Rempartstraße wurde ebenfalls demonstriert … auch das ein Thema, das sich trotz Verbesserungen in der Verkehrsführung noch nicht erledigt hat. Oder wie hier zu sehen im September 1995 eine Demo zu den damaligen Atomtests Frankreichs auf dem Mururoa-Atoll. (Und ja, der junge Mann mit den langen Haaren links bin ich … da hat sich in den 30 Jahren seitdem auch ein bisschen was geändert …).
Atomtests ist so ein Wiedergänger-Thema, denn gerade jetzt hat Trump ankündigt, die amerikanischen Atombomben-Tests wieder aufnehmen zu wollen. Nicht nur in dieser Hinsicht gibt es gewisse Parallelen. Und auch wenn „Klima“ Mitte der 1990er Jahre noch nicht das beherrschende Thema war, so kommt die Klimakrise doch vor; 1997 wird es dann zum Kyoto-Protokoll kommen, als erster Schritt auf dem Weg hin zu globalen Reduzierung der Treibhausgasemissionen.
Dabei deutet sich in der Sammlung der Presseausschnitte auch schon eine Hinwendung zur Wissenschaft an: sind es anfangs eher die aktivistischen Themen, kommt – auch durch den Zivildienst im Öko-Institut – nach und nach auch der eine oder andere Bericht zu Umweltbilanzen, Ökolabels und ähnlichen Fragen in den Pressespiegel.
Jugendpolitische Aktivitäten im engeren Sinne spielen natürlich eine große Rolle. So geht es um die damals anstehende Abschaffung des 13. Schuljahrs (Baden-Württemberg führt es dieses Jahr wieder ein) – die „Regionale SchülerInnen-Versammlung“ mit Alexander Bonde (dann Vorsitzender des Landesschülerbeirats, später MdB und dann Landwirtschaftsminister in Baden-Württemberg, heute Generalsekretär der Deutschen Bundesstiftung Umwelt) organisiert dazu einige Aktionen. Und Franziska Brantner (heute MdB und grüne Bundesvorsitzende) gibt ein erstes Interview als 15-jährige, in der sie erklärt, was die Jugendkonferenz der Stadt Freiburg bringen soll, und warum es wichtig ist, Jugendlichen selbst Gehör zu schenken. Die Gründung des Grün-Alternativen Jugendbündnisses nimmt Raum ein (die FAZ guckt genau, ob es eine Abgrenzung zur damaligen „PDS“ gibt, oder ob hier linksradikale Umtriebe zu befürchten sind), und ebenso finden sich Ausrisse zu Querelen bei den Jusos, einem Empfang der Landesregierung unter Ministerpräsident Teufel für Jugendorganisationen und dergleichen mehr.
Aber nicht alles ist Politik. Zwischen Fotos von Demos und Randnotizen zu Verbänden kommen zunehmend mehr Artikel, die sich mit Digitalisierung beschäftigen (auch hier half der Zivildienst und der Zugang zu diversen Zeitschriften, der damit verbunden war). Erörterungen über Unzulänglichkeit der Metapher der Datenautobahn, Hacker-Porträts und ein Interview mit Joseph Weizenbaum sind nur einige der Fundstücke. Und passend zur vor wenigen Tagen erschienenen letzten Papierausgabe der wochentäglichen taz habe ich auch die damalige Ankündigung der ersten „digiTaz“ aufgehoben – samt Erläuterung, was dieses Internet eigentlich ist, und der eingängigen Adresse http://www.prz.tu-berlin.de/taz zum Aufruf der digitalen Zeitung. Parallel dazu wird in anderen Zeitungsausrissen darüber spekuliert, ob mit dem baldigen Ende der Zeitung auf Papier und dem papierlosen Büro zu rechnen sei. Hat etwas länger gedauert …
Ein oder zwei Artikel zum Thema Science Fiction waren auch in der Gemengelage vorhanden. Dass mir viele der Dinge, die ich damals interessant fand, weiterhin interessant erscheinen, würde ich ja durchaus positiv werten – dass viele der politischen Probleme, die damals relevant waren, heute immer noch oder wieder relevant sind, erscheint dann schon besorgniserregender. Hier habe ich zunehmend das Gefühl, dass der Fortschritt, wenn es ihn den gibt, sich in Wellen bewegt. Und allein für diese Erkenntnis lohnt es sich doch, das eine oder andere aufzuheben, und sei es platzsparend digital.
Photo of the week: Spider web – I
Sprachverwirrung

Die 1978 ausgestrahlte BBC-Hörspielserie The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy von Douglas Adams hat uns nicht nur die Idee eines freundlichen, von überall aus zugreifbaren Lexikons in die Welt gesetzt – sehr viel besser als die galaktische Enzyklopädie, das sicherlich eines der Vorbilder für die Wikipedia wurde, sondern auch den Babelfisch. Das ist ein kleiner gelber Fisch, der ins Ohr gestopft wird und übersetzt. Oder, um aus dem Buch zu zitieren:
‚What’s this fish doing in my ear?‘
‚It’s translating for you. It’s a Babel fish. Look it up in the book if you like.‘
He tossed over The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy […]
‚The Babel fish,‘ said The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy quietly, ‚is small, yellow and leach-like, and probably the oddest thing in the Universe. It feeds on brainwave energy received not from its own carrier but from those around it. It absorbs all unconscious mental frequencies from this brainwave energy to nourish itself with. It the excretes into the mind of its carrier a telepathic matrix […] The practical upshot of all this is that if you stick a Babel fish in your ear you can instantly understand anything said to you in any form of language. […]
Dank „AI“ sind wir jetzt ungefähr da. Google Translate und Google Lens, DeepL etc. etc. machen es möglich: Texte und inzwischen auch gesprochene Sprache lassen sich weitgehend beliebig von einer Sprache in eine andere übersetzen, jedenfalls dann, wenn genügend Material zur Verfügung steht. Das Ergebnis ist nicht immer optimal, reicht aber für viele Zwecke aus.
Douglas Adams setzt seine Beschreibung des Babelfischs nicht nur mit einem Beweis der Nicht-Existenz Gottes fort, sondern kommt auch zum Schluss, dass der „arme Fisch“ dadurch, dass er alle Kommunikationsbarrieren niedergerissen hat, mehr Kriege verursacht hat als jedes andere Wesen. (Wer sich das ganze in der BBC-Fernsehserie aus den 80ern mit wunderbar handgezeichneten Computeranimationen anschauen will, findet auf Youtube einen sehenswerten Ausschnitt).
Politische Blasen, Umfragen und dergleichen mehr
Am 8. März 2026 findet in Baden-Württemberg die Landtagswahl statt, die Spitzenkandidaten im Kampf um das Amt des Ministerpräsidenten heißen Cem Özdemir (Grüne) und Manuel Hagel (CDU). Der Bundeskanzler Merz (CDU) hat in einem öffentlichen Gespräch sinngemäß – und klar rassistisch – geäußert, dass ihn etwas am Stadtbild störe und mehr „Rückführungen“ hier helfen würden.
Beide Fakten haben zunächst einmal nicht so viel miteinander zu tun, auch wenn sich trefflich über die Strategie und die Optionen der CDU diskutieren ließe. Das will ich aber hier und jetzt nicht machen.
Beiden Aussagen gemeinsam ist, dass sie für mich komplett selbstverständliche Wissenselemente sind: Das weiß doch jede*r, dass im nächsten März Landtagswahl ist. Die Frage, ob/wie die persönlichen Umfragewerte von Cem (viel, viel besser als Hagel) mit den Parteiwerten (da liegt die CDU deutlich vor uns Grünen) so in Verbindung gebracht werden können, dass die aktuell noch neun Prozent Differenz zur CDU geschlossen werden, treibt das „politische Stuttgart“ um. Und über Merz regen sich seit Tagen „alle“ auf Mastodon, in den politischen Kommentarspalten und in der Teeküche der Fraktion auf.
Nur: ist halt nicht so. Wer nicht jeden Tag beruflich mit Politik zu tun hat, weiß – in Baden-Württemberg – vielleicht noch vage, dass demnächst Landtagswahlen sind und dass Kretschmann nicht mehr antritt. Auch das ist aber nicht sicher. Und wer sich nicht bewusst für Politik interessiert, wird vermutlich erst im Januar, wenn Plakate hängen und Anzeigen geschaltet werden, davon mitbekommen. Als ehemaliger Bundesminister und langjähriger Spitzenpolitiker der Grünen ist Cem Özdemir bekannt genug, dass viele trotzdem etwas zu „d’r Cem“ einfällt. Zu seinem Gegenkanddiaten, dem CDU-Fraktionschef und ehemaligen Bankangestellten aus dem Alb-Donau-Kreis, haben nur wenige Menschen ein Bild.
Was Grüne und CDU genau wollen, wo die inhaltlichen Unterschiede liegen, wer wen in den letzten Monaten der 17. Legislaturperiode ausmanövriert und blockiert – all das kommt im Alltag kaum vor. Dass im SWR über eine Landtagssitzung berichtet wird, hat zunehmend Seltenheitswert, und auch die baden-württembergischen Tageszeitungen greifen nur sehr begrenzt das politische Geschehen in Stuttgart auf – egal, ob es um das Polizeigesetz, die Umsetzung des Wechsels von G8 auf G9 im Gymnasium oder die Verknüpfung der beiden Teile des Nationalparks geht. Die schlechte Lage der Kommunen – davon mag der eine oder die andere schon mal gehört haben, erst recht, wenn es lokal dadurch zu Problemen kommt. Dass zwischen Land und Kommunen jetzt ein Verfahren ausgehandelt wurde? Weiß das jemand? Da geht es darum, dass 2/3 des Geldes, dass der Bund für den Ausbau und die Sanierung der Infrastruktur, also von Straßen, Schienen, Gebäuden usw., – durch neue Schuldenaufnahmen – zur Verfügung stellt, an die Kommunen weitergegeben wird, und zwar weitgehend bedingungslos. Das sind immerhin fast neun Mrd. Euro, die da in den nächsten Jahren an die Kommunen gehen. Dazu wird es im Landtag kurz vor der Wahl noch einen Nachtragshaushalt geben. Hochspannend, und gleichzeitig etwas, was den meisten Menschen vermutlich völlig unbekannt ist.
Und selbst Aufregerthemen wie die unsägliche Äußerung von Kanzler Merz gehen an sehr vielen Menschen schlicht vorbei. Klar, da wurde drüber berichtet – aber wer guckt noch regelmäßig in Nachrichtensendungen, auf entsprechende Websites oder in Zeitungen? Und wer dann nicht zufälligerweise auf sozialen Medien damit konfrontiert wird, wird das nicht einordnen können (genauso, wie gut gemachte Kommentierungen im Meme-Style, die auf diese Äußerung anspielen, halt nur denen verständlich sind, die davon schon mal gehört haben).
Es gibt auch in einer Demokratie keine Pflicht dazu, sich politisch zu informieren. Umso wichtiger, sich immer wieder klar zu machen, dass viele Mitbürger*innen im besten Fall nichts von der politischen Arbeit mitbekommen, die in Stuttgart, Berlin oder Brüssel läuft, und erst recht nichts von Insiderdebatten und zugespitzten Empörungswellen. Und im schlechteren Fall wissen sie davon, weil ihnen ein Algorithmus oder ein auf die falschen Quellen zurückgreifender Chatbot AfD-Propaganda und Desinformation auf die Bildschirme spült.
Soweit meine etwas ernüchternde sonntägliche Bestandsaufnahme. „Besser kommunizieren“ ist da nur ein halb guter Vorsatz, wenn der Resonanzraum, in dem erörtert wird, was politisch getan wird, immer kleiner und marginaler wird. Volks- bzw. Arbeiterbildung, hieß eine Antwort, die im 19. Jahrhundert auf eine ähnliche Problemdiagnose gefunden wurde, glaube ich – möglicherweise braucht es mehr davon. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, bei Volkshochschulen und Bibliotheken, und an vielen anderen Orten.



