So gefällt mir der Herbst. Apropos Herbst: Luxus ist für mich, vor dem Arbeiten morgens erst noch mal eine halbe Stunde mit dem Rad durch den Herbstsonnenschein fahren zu können, Krähen, Gänse, Eichhörnchen und Schmetterlinge zu beobachten und ein paar Walnüsse einzusammeln.
Klassentreffen
Es waren durchaus gemischte Gefühle, mit denen ich zum 20-jährigen Treffen meines Abiturjahrgangs gegangen bin. Das hat ja doch immer was von Bilanzpressekonferenz. Wobei, soweit sich das feststellen ließ, meine Abiklasse keine Berühmtheiten hervorgebracht hat. Berlin, Leipzig, Hamburg, USA, aber viele sind doch hier in der Gegend geblieben oder wieder zurückgekehrt. Eine ganze Reihe bodenständiger, respektabler Berufe. Geradlinigkeit. Fast überall Kinder, zwischen ganz klein und schon aus dem Gröbsten raus. Babyfotos werden herumgezeigt, Hochzeiten als Meilensteine berichtet. Zwischen den Zeilen: mit der Vereinbarkeit, das ist so eine Sache. Ererbte, gekaufte oder neu gebaute Häuser. Im Großen und Ganzen haben wir uns eingerichtet.
In der Abizeitung hatten wir Fragebögen ausgefüllt. Was sind deine Zukunftspläne? Wir waren kurzsichtig. Zivildienst. Erstmal Urlaub. Und zielstrebig. Realistisch. Da stehen keine Träume, in dieser Zeile, da stehen Fächerkombinationen. Die dann auch eingetreten sind. Und heute? Haben wir Ziele über den Tag hinaus?
Sind wir eine Generation Mittelmaß, die nicht so gerne ein Risiko eingeht? Oder eine mit Maß, die ohne überzogene Ansprüche durchaus zufrieden ist mit den Verhältnissen? Politik interessiert uns nicht (naja, mich schon). Landtag, was machst du da? Kein Abgeordneter, ach so. Und wie ist der Kretschmann so? Aber die Bildungspolitik!
Spannend ist, wer nicht da ist. Wer den Kontakt aufrecht erhalten hat, und wer in neue Welten aufgebrochen ist, abgehauen ist, rausgegangen ist. Zurückgekommen ist? Wer Dinge gesucht hat, die es in der heilen Welt des ‚Gymi‘ so nicht gab. Wer was davon mitgenommen hat.
Zwanzig Jahre, aber haben wir uns überhaupt verändert? Mit treuherzigem Soziologenblick, institutionalisiertem Außenseitertum, wundere ich mich darüber, wie stabil unsere Persönlichkeitsmuster sind, wie schnell eingeübte Gruppendynamiken aus Jahren gemeinsamer Schulzeit abrufbereit sind. (Und auch im Schulgebäude hat noch vieles den gleichen alten Charme der 1970er Jahre aus Sichtbeton und Knallfarben – bis wir dann vor dem Smartboard stehen). Hat gar die Schule, diese Schule, uns zu dem gemacht, was wir sind? Und was ist dann in den zwanzig Jahren danach mit uns passiert?
Klar dutzen wir uns alle. Auch wenn wir das sonst nicht tun würden. Und wir wissen noch immer, wie wer und wer wie reagieren wird. Für einen Tag, für einen Abend passt das schon. Alle zwanzig Jahre mal. Wir verstehen uns.
Wie viel kann dieser Oberfläche zugemutet werden? Was liegt dahinter? Trägt der Schein, oder täuscht er? Sind wir vielleicht am Ende gar nicht so langweilig und vorhersehbar, wie zuerst gedacht? Verstellt mir meine wohl gepflegte Fremdheit den Blick?
Wir erzählen uns Biografien. Zufall und Verletzlichkeit kommen ins Spiel. Da und dort schräge Wege, Glück und Pech. Diesen Roman muss ein anderer schreiben – aber ihn zu lesen, das wäre was.
Warum blogge ich das? Wegen der eigenen Welten.
Photo of the week: Sunflower spider II
Schottland bleibt abhängig, die Wahlen in Thüringen, Brandenburg und Schweden sind ausgegangen, heute auch die aus grüner Sicht deutlich erfreulicheren in Vorarlberg, die Piratenpartei explodiert in einem furiosen Finale, und beim grünen Freiheitskongress (siehe auch hier) ritt ein Cowgirl über die karge Steppe. Und bei mir fast eine Woche Berlin, mit Fraktionsklausur und eben diesem Kongress.
Ach ja, und dann war da noch der „Asylkompromiss“. Über den ich eigentlich ausführlicher schreiben müsste. Dazu habe ich gerade keine Zeit, weswegen ich mein „Photo of the week“ nutze, um wenigstens ein paar Gedanken loszuwerden.
Das Habeck-Interview dazu fand ich gar nicht schlecht. Hinweisen möchte ich auch auf die Info des Landesverbands, inkl. Resolution und Brief des MP, auf die Positionierung der Landtagsfraktion sowie auf die persönliche Stellungnahme von Daniel Lede Abal MdL. Und was sage ich dazu?
Ich finde die Entscheidung sehr schwierig, in der Abwägung aber die Zustimmung Baden-Württembergs letztlich falsch. Die Weichen dafür wurden jedoch nicht vorgestern, sondern vor einigen Wochen mit der Aufnahme von Verhandlungen gestellt – wer Verhandlungen anfängt, muss diese auch bis zum möglichen Ende denken. (Und gegebenenfalls beizeiten über Krisenmanagement nachdenken – ja, liebe Bundestagsfraktion, liebe Bundespartei, damit seid durchaus ihr gemeint).
Jetzt ist die Entscheidung gefallen, damit hat sich die Situation verändert, aber nicht die grüne Grundhaltung. Damit muss die Partei umgehen. Wie, wird in den nächsten Wochen und auf den nächsten Parteitagen Thema sein. Ich sehe vor allem, dass mit dieser Entscheidung für uns Grüne die Pflicht einhergeht, sich intensiv auf allen Ebenen für eine Verbesserung des Asylrechts einzusetzen, und dass wir mit der Zustimmung, die Westbalkanstaaten als sichere Herkunftsländer anzuerkennen, auch eine Verpflichtung eingehen, uns um die Lebenssituation der Roma und Sinti dort (und hier) zu kümmern. Und darauf zu pochen, dass die versprochenen Verbesserungen bei der Residenzpflicht und dem Zugang zum Arbeitsmarkt jetzt auch tatsächlich kommen.
Zehn Bücher
Während andere sich Eiswasser über den Kopf schütten, geht auch ein Kettenbrief herum, bei dem dazu aufgefordert wird, zehn Bücher zu nennen, die eine/n begleitet oder besonders berührt haben. Christel Opeker hat mich gebeten, dieser Aufforderung Folge zu leisten, was ich hiermit tun will. Wobei ich schon merke: Spontan zehn Bücher zu nennen, das ist gar nicht so einfach. Weil’s ja doch ein bisschen ein Selbstportrait zeichnet. Und weil es einfach zu viele Bücher gibt.
Ich lasse mal das auf dem Straßenflohmarkt gefundene Außerirdische-kommen-heimlich-auf-die-Erde-Buch weg, das mich als Zehn- oder Zwölfjährigen über einige Wochen ernsthaft verunsichert hatte und denke eher über Bücher nach, die mich in einem positiven Sinne beeindruckten. Wer möchte, darf in den Kommentaren über übergreifende Leitmotive spekulieren.
Die Sachbücher
1. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, dt. 1969 – eine Darlegung des Sozialkonstruktivismus, die mein Verständnis von Welt ziemlich klar geprägt hat. Wenn es das eine praxistheoretische Buch gäbe, und nicht ganz viele Bücher und Aufsätze, würde ich die jetzt auch noch nennen (Pickering, Shove, Hörning, Reckwitz, Foucault, …). Und als ähnlichen, aber ungleichen Kontrapunkt Luhmann, etwa die Realität der Massenmedien.
2. Victor Papanek, Design for the real world. Human Ecology and Social Change, 1985 – stellvertretend für eine ganze Reihe von Büchern, die sich damit auseinandersetzen, wie ein anderes, leichteres Leben mit Technik möglich ist. Und überhaupt, eigentlich müsste ich hier die ganze Fischer-„anders leben“-Reihe aus den 1970ern und 1980ern aufführen, die ich meinen Eltern geklaut habe. Und Jungk. Und eine ganze Reihe neuerer „Öko-Bücher“.
3. Manuel Castells, Das Informationszeitalter, dt. 2003, 3 Bd. – eine in ihren Grundzügen immer noch gültige Diagnose unserer globalisierten Gesellschaft im vernetzten Informationskapitalismus. Und auch das pars pro toto.
4. Andrea Baier, Christa Müller und Karin Werner, Wovon Menschen leben, 2007 – Soziologie zum Anfassen, hier suffizienzorientiert. Ähnlich auch Ulrich Beck und Ulf Erdmann Ziegler, Eigenes Leben – Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, 1997, da geht’s dann eher um den Einstieg in ganz unterschiedliche Lebenswirklichkeiten. Individualisierung, Lebensstile, und all sowas.
Science Fiction
5. Ursula K. Le Guin, The Dispossessed, 1974 – eine realistische Utopie, eine Annäherung an den, sagen wir mal, Anarchosyndikalismus (oder, in neuerer Terminologie, an freie Kooperationen im Sinne Christoph Spehrs) mit allen Vor- und Nachteilen im Gewand einer Science-Fiction-Geschichte. Und die Leute haben zwar Geschlechter, aber am Namen zu erkennen sind sie nicht. (Wie überhaupt das ganze Thema Zweigeschlechtlichkeit, Queering, … hier eher fehlt, weil wissenschaftliche Aufsätze und Kinofilme beides keine Bücher sind. Evtl. könnte ich Charles Stross’ Glasshouse aufführen. Aber diese Liste ist eh schon männerlastig genug. Nachtrag: Oder, aber das ist mir zu spät wieder eingefallen, dass ich das eigentlich in die Liste packen wollte – Marge Piercy, He, She and It,1991).
6. Kim Stanley Robinson, Forty Signs of Rain / Fifty Degrees Below / Sixty Days and Counting, 2004–2007 – Eine Klimawandel-Politik-Science-Fiction-Trilogie, ebenfalls mit einer gehörigen Prise utopischen Realismus. Auch Robinsons Mars-Trilogie könnte an dieser Stelle stehen.
7. William Gibson, Neuromancer, 1984, dt. 1987 – Wenn ich mich richtig erinnere, das erste richtige und ganz andere Science-Fiction-Buch, das ich gelesen habe. Das Buch, in dem der Cyberspace auf der Schreibmaschine erfunden wurde, und das ein Genre begründet hat. Schön auch der in meiner Ausgabe vorne drin klebende Zettel, „Der Schüler Till Westermayer, Klasse 9c, erhält für gute Leistungen im Schuljahr 1989 / 90 einen Preis.“ (Runner-ups für diese Kategorie: Bruce Sterlings Schismatrix+, einiges von Michael Swanwick und John Shirley sowie Neal Stephensons Snow Crash). Und Idoru etc. fand ich auch sehr wichtig.
8. Neal Stephenson, The Diamond Age or, A Young Lady’s Illustrated Primer (dt. Diamond Age – Die Grenzwelt), 1995, dt. 1996 – Auch wenn ich Snow Crash davor gelesen habe, war das hier das wichtigere Buch für mich (ein Mädchen in einer u.a. neoviktorianischen Zukunft lernt mit Hilfe einer als Fibel getarnten AI genügend Strategie, um die Welt zu retten oder so). Auch aus Stephensons Anathem und aus seinem Baroque Cycle habe ich viel gelernt. Seine konventionelleren Thriller-Waffen-Geheimdienst-Bücher mag ich dagegen nicht so gerne.
9. Terry Pratchett, Wintersmith, 2006 – Weil Pratchetts Magie viel mit Realität zu tun hat.
10. Gudrun Pausewang, Die letzten Kinder von Schewenborn, 1983 – Ein Atomschlag auf Fulda – und dann? Wie auch ein paar ähnliche Bücher (auch die Wolke) ziemlich gruselige und vermutlich sehr realistische Jugendliteratur, die einiges zu meiner politischen Prägung beigetragen haben dürfte.
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Soweit meine zehn Bücher. Was fehlt? Dune, den Herr der Ringe, den Anhalter, Games of Thrones sowie einige Bücher von Robert Anton Wilson hätte ich auch noch nennen können. Aber das wäre dann eher das Standardprogramm geworden. Und ja, es ist jetzt neben Soziologie und Ökologie nur Science Fiction geworden, und da auch nur ein winzigkleiner Ausschnitt; viele eher unterhaltsame als weltbewegende Bücher habe ich weggelassen. Aber selbst beim Nachdenken über „Hochliteratur“ fällt mir abgesehen vom Kanon bis in die 1980er Jahre (viel Böll, aber auch Kafka, Tucholsky, …) vor allem magischer Realismus ein. Oder Ecos Historienschinken. Was dann auch nicht so weit weg ist von Science Fiction und Fantasy. Was auch immer das über mich aussagt ;-)




