Das Blau eines der letzten richtig sommerlichen Spätsommertage. Mal wieder ein heißestes Jahr, global gesehen. Das verdirbt einem dann doch die Laune, aber abgesehen davon war es nett, einen richtigen Sommer zu haben.
Kurz: Außergewöhnlich notwendig
Wie gebannt habe ich in den letzten Tagen die Nachrichten aus Ungarn verfolgt, und war damit wohl nicht alleine im global vernetzten Auf und Ab der Gefühle. Große Freude darüber, wie warmherzig die Flüchtlinge aus Budapest in Wien und München aufgenommen wurden, wie viele Freiwillige (auch in Ungarn) sich engagiert haben, wie unbürokratisch die Bahnen auf einmal handelten, und wie einfach es plötzlich war, das Dublin-Abkommen auszusetzen. Einerseits. Und auf der anderen Seite dann Verzweiflung darüber, wie ein ungarischer Regierungschef sich stur an Regeln hält, wie Flüchtlinge dabei als lästiges Problem behandelt werden, was dann auch das Vortäuschen falscher Tatsachen und unmenschliche Zustände legitimiert, und wie Merkel dann doch wieder das „ausnahmsweise“ betont, auf Einhaltung der Regeln pocht und erklärt, dass das Dublin-Abkommen eben doch nicht ausgesetzt sei.
Politiktheoretisch ließe sich jetzt hier ein Essay anhängen über das Verhältnis von Regeln und Ausnahmezuständen, über humanitäre Hilfe und die sich daraus manchmal ergebenden Notwendigkeit, Regeln zu brechen und das Richtige zu tun. Ich lasse das an dieser Stelle, will aber doch die Beobachtung in den Raum werfen, dass möglicherweise ein Abkommen, das nur dann menschenwürdig ist, wenn es nicht eingehalten wird, kaputt sein könnte. Vielleicht ließe sich da was tun – und eine bessere europäische Gemeinschaft neu erschaffen.
Photo of the week: Balcony garden
Zu den positiveren Aspekten des Sommers gehört, dass mein Balkon dann grünt und blüht. Inzwischen sind die Kartoffeln geerntet (eher magere Ausbeute), die größeren und langsamer wachsenden Tomaten fangen allmählich an, rot zu werden, und die Sonnenblumen sind fast schon wieder verblüht.
Lesenswert: Terry Pratchetts letztes Buch
Im März diesen Jahres ist Terry Pratchett gestorben. Vor wenigen Tagen ist nun sein letzter Scheibenwelt-Roman erschienen. Dieser gehört zur Tiffany-Aching-Serie und trägt den Titel The Shepherd’s Crown – wörtlich die Hirtenkrone, aber zugleich auch ein Name für ein Seeigel-Fossil, das in der englischen Kalklandschaft gefunden werden kann. Fiktionalisiert sind wir dann im „Chalk“, am Meer, bei grünen Hügeln mit Schafherden, die in Urzeiten Grund eines Ozeans waren.
Es ist nicht ganz einfach, ein posthum erschienenes Werk zu rezensieren. Im Nachwort schreibt Rob Wilkins, dass Manuskript zum Zeitpunkt von Pratchetts Tod vollständig war, dass Pratchett aber üblicherweise seine Manuskripte immer und immer wieder überarbeitet hat. Im Vergleich dazu ist The Shepherd’s Crown eine gewisse Rauheit anzumerken – Ecken und Kanten, die weggeschliffen worden wären, wenn Pratchett noch dazu gekommen wäre, aber auch eine Struktur, die noch nicht ganz so verästelt ist wie in seinen anderen Romanen. (Insbesondere die Geschichte um das Baby Tiffany [nicht die Tiffany, sondern eine andere Tiffany] bleibt am Schluss in der Luft hängen, und auch die mysteriöse Katze You bleibt ein Rätsel [Spoiler!]). Dennoch ist das Buch auf jeden Fall zu empfehlen, und zwar in dreierlei Hinsicht.
Erstens ist es der krönende Abschluss der heroischen wie pragmatischen Coming-of-Age-Geschichte der jungen Hexe Tiffany Aching, um die sich einige frühere Romane – angeblich für die Zielgruppe Young Adults – drehten. In The Shepherd’s Crown tritt Tiffany Aching in große Fußstapfen. Sie ist noch jung, aber muss nun „An Argument of Witches“ anführen, um großen Schaden (eine Invasion der Feen) zu verhindern. Trotz aller Selbstzweifel versucht sie, die ihr zugewiesene Rolle auszufüllen – um festzustellen, dass es nicht in erster Linie darum geht, vorhandenen Fußstapfen zu folgen, sondern dass sie jetzt diejenige ist, die den Weg weisen muss. (Und nebenbei noch all das tun muss, was eine Hexe tun muss, die gleichzeitig Hebamme, Heilerin und Sterbebegleiterin ist …)
Zweitens ist dem Roman anzumerken, dass Pratchett ihn im Wissen darum geschrieben hat, wie wenig Zeit ihm noch bleibt. Deswegen ist er immer wieder auch eine Auseinandersetzung mit Leben und Tod, mit Älterwerden und dem Ende. Im Klappentext heißt es dazu, dass es um „endings and beginnings“ geht, und das ist genau richtig. Denn wie bei allen Discworld-Romanen gibt es neben der eigentlichen Geschichte Themen, die den Roman durchziehen. Sterblichkeit ist eines davon.
Ein anderes Thema – womit wir bei drittens wären – ist die Scheibenwelt im Zeitalter des Zuges (hier bezieht sich Pratchett auf das direkt vorhergehende Buch, in dem die Eisenbahn erfunden wird). Mit Telegrafie und Zeitungen, mit der Eisenbahn und dem städtischen Zusammenleben ganz unterschiedlicher Wesen, mit dem Ende der absoluten Monarchie hat die Moderne Einzug in die Scheibenwelt gehalten. Damit stellt Pratchett auch die Frage nach Geschlechterrollen – Können Jungen Hexen werden? Können Feegle-Töchter Kämpferinnen werden? Was ist mit dem drittgeborenen Mädchen? – und nach dem gesellschaftlichen Fortschritt zwischen den Polen sozialer Kontrolle und Hilfsbereitschaft einerseits und Anonymität und Freiheit andererseits.
Kurzum: Allein wegen des würdigen Andenkens an Terry Pratchett muss dieses Buch gelesen werden – und humorvoll und hintergründig ist es noch dazu.
Terry Pratchett (2015): The Shepherd’s Crown. London: Doubleday.
Kurz: 26. August 2015
Wenn es keine Nachrichten gäbe, könnte man in der Sonne am See sitzen, Reneclauden essen, und alles wäre wunderbar. So aber ist nix gut, und ich sitze hier und grüble darüber nach, wie es so ist mit dem Rassismus, der Stimmung und der Politik. Warum es Wochen und Monate, einen Anschlag und mahnende Worte braucht, bis Merkel sich einmal in einer Flüchtlingsunterkunft sehen lässt. Warum ich und viele andere das Gefühl nicht loswerden, dass „linke“ Aktivitäten nach wie vor schneller und härter polizeilich verfolgt werden als die Anschläge und Volksverhetzungen der „besorgten Bürger“. Wo hier – selbst wenn es mehr eine symbolische Geste wäre – Sonderermittlungsgruppen und Polizeistaffeln bleiben. Wie großartig das Engagement vieler Einzelner ist, und wie beschämend, dass es dieses braucht. Wieso in der bundesweiten Debatte nicht ankommt, dass Kretschmann sehr deutlich gesagt hat, dass das Boot nie voll ist. Ob sich 1993 wiederholt, und was dagegen getan werden kann. Wieso in manchen Köpfen der Grundrechtsstatus des Asyls partout ignoriert wird. Ob die EU nicht eine Art Evakuierung Syriens organisieren müsste. Warum manche jetzt sehr viel Wert auf Theoriedebatten legen. Und auch darüber, ob die Landkarten und Berichte, die als Ursache für Anschläge und Ausschreitungen die unvollständige Integration Ostdeutschlands suggerieren, Recht haben. Und wenn ja, was daraus eigentlich für politische Konsequenzen zu ziehen wären.


