Moorsiedlungen und Dörfer in Dörfern in Dörfern


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Ein inter­es­san­ter Aspekt beim Blick auf die Fami­li­en­ge­schich­te ist die Fest­stel­lung, dass Orts­an­ga­ben ver­än­der­lich sind. Müt­ter­li­cher­seits kom­men mei­ne Vor­fah­ren aus „OHZ“, Oster­holz-Scharm­beck. Der Dop­pel­na­me und die gebräuch­li­che Abkür­zung über das Auto­kenn­zei­chen deu­ten schon an, dass der Ort nicht immer so hieß. Und wenn ich etwas wei­ter zurück­ge­he, wird es noch komplizierter. 

Zunächst zur Oster­holz-Scharm­beck. Die­se Stadt im Land­kreis Oster­holz hat laut Wiki­pe­dia knapp 30.000 Einwohner*innen. Sie ist Kreis­stadt – und es gibt sie erst seit 1927, als die Gemein­den Oster­holz und Scharm­beck zusam­men­ge­legt wur­den. Aber nicht genug damit – neben der aus Oster­holz und Scharm­beck zusam­men­ge­wach­se­nen Kern­stadt gibt es neun wei­te­re Ort­schaf­ten (u.a. Pen­nig­büt­tel, Sand­hau­sen und Scharm­becksto­tel, größ­ten­teils erst 1974 zu „OHZ“ dazu gekom­men) und bei einer wei­te­ren „Ver­grö­ße­rungs­stu­fe“ dann noch topo­gra­fi­sche Namen wie Mus­kau oder Busch­hau­sen – die alle eben­falls in bio­gra­fi­schen Anga­ben auf­tau­chen kön­nen. Dabei stellt sich dann auch die Fra­ge nach der rich­ti­gen Benen­nung – wenn jemand im 17. Jahr­hun­dert in Pen­nig­büt­tel gebo­ren wur­de, dann ist das zwar heu­te „OHZ“, aber damals war es das nicht. 

Ich pro­bie­re gera­de mit „Gramps“ her­um, einer Open-Source-Lösung für Genea­lo­gie, auch weil ich von MyHe­ri­ta­ge (wo sich jede mög­li­che Orts­na­men­kom­bi­na­ti­on fin­den lässt) weg­kom­men will. Bei Gramps gibt es eine inter­es­san­te Lösung für die­ses Pro­blem, näm­lich hier­ar­chisch geord­ne­te Orte. Aus Mus­kau wird dann „Mus­kau, Oster­holz, Osterholz-Scharmbeck“. 

Ähn­lich varia­bel wie die inne­re Ein­tei­lung ist auch die äuße­re Zuord­nung. Heu­te gehört Oster­holz-Scharm­beck im Nord­os­ten Bre­mens zu Nie­der­sach­sen („Mus­kau, Oster­holz, Oster­holz-Scharm­beck, Nie­der­sach­sen, Deutsch­land, EU“?), his­to­risch war „Oster­holz“ im 12. Jahr­hun­dert ein Klos­ter im Erz­bis­tum Bre­men, davor gab es ein­zel­ne früh­mit­tel­al­ter­li­che Höfe (sowie das rit­ter­li­che „Gut Sand­beck“), aus denen Scharm­beck ent­stand – und Grab­hü­gel aus der Jung­stein­zeit. Dann „Erz­stift Bre­men“, ab 1648 „Her­zog­tum Bre­men“, nach dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg gehör­ten Oster­holz und Scharm­beck ab 1648 zu Schwe­den (mit einem hes­si­schen Gra­fen als Ober­haupt der bei­den Orte), kurz­zei­tig wird die Oster­hol­zer Geest dänisch (1712–1715), ab 1715 kommt sie dann zum Her­zog­tum Han­no­ver (Kauf­preis: sechs Ton­nen Gold), ab 1757 wird das Gebiet fran­zö­sisch, ab ca. 1800 fällt es an Preu­ßen, dann wie­der Frank­reich, ab 1815 erneut Teil des (nun) König­reichs Han­no­ver (zunächst in Per­so­nal­uni­on mit dem bri­ti­schen König), ab 1866 wie­der­um preu­ßisch, ab 1885 dann inner­halb Preu­ßens im Rah­men einer Ver­wal­tungs­re­form Schaf­fung des Land­krei­ses Oster­holz. 1933 Natio­nal­so­zia­lis­mus (dazu aus­führ­lich lokal­ge­schicht­lich in der Wiki­pe­dia), dann bri­ti­sche Besatzungszone. 

Ent­spre­chend fin­den sich – je nach Jahr­zehnt – ganz unter­schied­li­che geo­gra­fi­sche Zuord­nun­gen. Mal liegt in Oster­holz in Preu­ßen, mal in Han­no­ver – und das ist nur die poli­ti­sche Glie­de­rung, die der Kir­chen­krei­se (seit der Refor­ma­ti­on weit­ge­hend pro­tes­tan­tisch) ist noch­mal eine ganz ande­re Fra­ge. Die inso­fern rele­vant ist, als lan­ge Zeit Gebur­ten und Todes­fäl­le genau da, näm­lich in kirch­li­chen Regis­tern, fest­ge­hal­ten wurden.

Wie ange­spro­chen, wird das gan­ze noch­mal kom­pli­zier­ter, wenn nicht nach Oster­holz-Scharm­beck, son­dern auf die Nach­bar­ge­mein­den Lili­en­thal und Worps­we­de (wei­ter im Osten) sowie auf das Bre­mer Borg­feld geschaut wird. Da kommt dann das Teu­fels­moor und wei­te­re Moo­re im Bre­mer Umland ins Spiel. Die Wiki­pe­dia lis­tet das hier am Bei­spiel Lili­en­tahl über­sicht­lich auf:

Beim Gebiets­tausch von 1827 zwi­schen der Frei­en Han­se­stadt Bre­men und dem König­reich Han­no­ver im Rah­men der Grün­dung Bre­mer­ha­vens erhielt Lili­en­thal den Ortsteil
Butendiek.

Bei der Gebiets­re­form von 1929 kamen

  • Lüning­see und Lüning­hau­sen zu Westerwede
  • Feld­hau­sen und Tru­per­deich zu Trupe.

Bei der Gebiets­re­form vom 1. April 1937 kamen zu Lilienthal:

  • Fal­ken­berg
  • Moor­hau­sen
  • Tru­pe
  • Tru­per­moor

zu Sankt Jürgen:

  • Fran­ken­burg
  • Nie­de­r­en­de-St. Jür­gen (mit Höft­deich, Moor­hau­sen, Nie­de­r­en­de, Sankt Jür­gen und Vierhausen)
  • Ober­en­de
  • Wühr­den (mit Mittelbauer)

zu Worphau­sen:

  • Moo­ren­de
  • Moo­r­in­gen
  • Wes­ter­we­de

Bei der Gebiets­re­form vom 1. März 1974 wur­den nach Lili­en­thal eingemeindet:

  • Heid­berg
  • Sankt Jür­gen
  • See­ber­gen
  • Worphau­sen

Und es wird noch kom­pli­zier­ter. Das mit den Ururur…großeltern ist ja immer so eine Fra­ge der Zuver­läs­sig­keit, aber wenn die Ver­bin­dun­gen stim­men, die in MyHe­ri­ta­ge, Fami­ly­se­arch usw. vor­zu­fin­den sind, dann habe ich z.B. einen Ururur…großvater (11. Gene­ra­ti­on) namens Harm Well­b­rock. Der wur­de ca. 1580 in „Ned­de­r­end­er­moor 01“ gebo­ren. Genau­so wie des­sen Urgroß­va­ter Mar­ten „op de Beek“ Well­b­rock. Harms Sohn Claus Well­b­rock kommt 1627 in Ober­end­er­moor zur Welt, er hei­ra­tet Anna Ger­ken aus Ned­de­r­end­er­moor. Und so geht es von 1520 bis ins 19. Jahr­hun­dert mun­ter wei­ter … mal nur mit Orts­an­ga­be, mal die genau­en Anga­ben wie „Ned­de­r­end­er­moor 04“, „Ober­end­er­moor 18“ – z.B. mei­ne Ururur…großmutter Hib­bel Lüt­jen (geb. Wen­del­ken) – oder „Lin­tel 06“, mal nur mit „Lili­en­thal“ oder „Nie­de­r­en­de“ als Orts­an­ga­be. In eini­gen Fäl­len gab es auch 06A und 06B, hier sind wohl im Lauf der Zeit meh­re­re Gebäu­de an einer Hof­stel­le entstanden. 

Was ich mir – unter ande­rem nach Dis­kus­sio­nen auf Mast­o­don, mein Dank gilt hier ins­be­son­de­re msch­fr, und dem Blick auf alte Kar­ten sowie den Denk­mal­at­las Nie­der­sach­sen zusam­men­rei­me: Nie­de­r­en­de (auf platt­deutsch „Ned­de­r­en­de“) und Ober­en­de sind was, was frü­her als „Ned­de­r­end­er­moor“ und „Ober­end­er­moor“ bezeich­net wur­den. Beim Blick auf die Kar­ten wird deut­lich: das ist jeweils eine Stra­ße durchs Moor, bzw. ein Teil einer lan­gen Stra­ße, von der aus schma­le Abschnit­te ins Moor gehen, begrenzt jeweils durch Entwässerungsgräben. 

Am Stra­ßen­en­de gibt es eine Art Warf­ten oder Anhö­hen (ganz kor­rekt wohl: Wurt), auf denen dann jeweils ein – oder manch­mal auch meh­re­re Gebäu­de – ste­hen, frü­her wohl eher Katen als Höhe. Die sind durch­num­me­riert, und „Ned­de­r­end­er­moor 04“ dürf­te dann eben der Hof Nr. 4 in der Ort­schaft Nie­de­r­en­de sein. Auf einer topo­gra­fi­schen Kar­te wird noch bes­ser sicht­bar, dass die Höfe jeweils auf einem klei­nen Hügel liegen.

Und Nie­de­r­en­de ist ein Teil von St. Jür­gen, das wie­der­um – sie­he oben – 1937 aus diver­sen klei­nen Ort­schaf­ten im St. Jür­gens­land zusam­men­ge­wor­fen wur­de. St. Jür­gen gehört heu­te zur Gemein­de Lili­en­thal, genau­so wie Ober­en­de oder Tru­pe. Lin­tel ist dage­gen Teil von Oster­holz-Scharm­beck geworden. 

Bleibt die Fra­ge, wie die Leu­te in die­ses sehr feuch­te Gebiet zwi­schen Ham­me und Wüm­me gekom­men sind, und war­um sie im Moor geblie­ben sind. Laut die­sem Bericht war die­ses Gebiet bis in die 1930er Jah­re regel­mä­ßig im Win­ter geflu­tet und nur mit Torf­käh­nen oder über zuge­fro­re­ne Was­ser­flä­chen erreich­bar. Im Som­mer wur­de Torf gesto­chen und wohl Land­wirt­schaft betrie­ben, so gut das eben mög­lich war. In der Mast­o­don-Debat­te wur­de dann auch klar, dass die Sied­lun­gen im St. Jür­gens­land wohl bereits ab dem 12. Jahr­hun­dert ent­stan­den sind, wäh­rend die Moor­ko­lo­ni­sie­rung des Teu­fels­moors wei­ter im Süd­os­ten (Worps­we­de) erst ab Mit­te des 18. Jahr­hun­derts statt­fand. Schön zu sehen ist das auf die­ser Kar­te aus dem Jahr 1795 aus dem Wiki­pe­dia-Arti­kel zu den Fin­dorff-Sied­lun­gen:

Rund um Worps­we­de (auf dem stol­ze 54 m hohen Wey­er­berg gele­gen) sind hier die sehr klein­tei­lig erschlos­se­nen Sied­lun­gen wie Wey­er­moor oder Nord- und Süd­we­de zu sehen. Das Prin­zip die­ser neue­ren Moor­ko­lo­ni­sa­ti­on ist wohl nicht ganz anders als die der älte­ren, wohl mit hol­län­di­scher Hil­fe ange­leg­ten Orte im St. Jür­gens­land: Anla­ge von einem Netz­werk von Ent­wäs­se­rungs­grä­ben, zugleich Torf­ab­bau, und so Gewin­nung von Acker­land und Vieh­wei­den. Aus dem 18. Jahr­hun­dert sind Berich­te der Siedler*innen über­lie­fert, die nach ziem­lich erbärm­li­chen Lebens­be­din­gun­gen klingen. 

Kein Wun­der, dass auch mei­ne Mut­ter einen gewis­sen Bezug zum Torf­kahn aus dem Teu­fels­moor hat­te. Und das eine oder ande­re gesam­mel­te oder (im Fall des geweb­ten Torf­kahns) selbst erstell­te Stück heu­te noch an das Moor erinnert.

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