Links, zwei, drei

2014 pol compass

Die Debat­te dar­um, ob Bünd­nis 90/Die Grü­nen eine lin­ke Par­tei sind – was für mich lan­ge eine Selbst­ver­ständ­lich­keit war – dreht mal wie­der auf. In die­sem Blog­bei­trag will ich zunächst ver­su­chen, die unter­schied­li­chen Ebe­nen zu sor­tie­ren, auf denen die­se Fra­ge dis­ku­tiert wird.

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Wahlwerbung im Briefkasten

Wahlwerbung

Nicht die schi­cken Spots, nicht die vie­len Köp­fe, die an Stra­ßen­la­ter­nen hän­gen – nein, wenn ich hier von Wahl­wer­bung spre­che, mei­ne ich das, was mein Brief­kas­ten so her­gibt. Es ist ja umstrit­ten, ob ein Auf­kle­ber „Kei­ne Wer­bung“ vor Wahl­wer­bung schützt. Par­tei­en und kom­mu­na­le Lis­ten sind ja schließ­lich – bekann­ter­ma­ßen – etwas ganz ande­res als schnö­de Wasch­mit­tel, Fit­ness­stu­di­os oder Billigangebote. 

Aus pro­fes­sio­nel­lem Inter­es­se sam­me­le ich ja, was ich in mei­nem Brief­kas­ten – der übri­gens kei­nen Auf­kle­ber trägt – so an Wahl­wer­bung fin­de. Bei die­ser Wahl ist es beson­ders viel. Ich habe mal durch­ge­zählt, geord­net nach Papierverbrauch:

  • Ein post­kar­ten­gro­ßes Zet­tel­chen (Fly­er­alarm oder so) von Jun­ges Frei­burg, auf dem sich die ers­ten vier Kan­di­da­tIn­nen vor­stel­len. Erin­nert an Wer­bung, die vor der Men­sa unter den Fahr­rad­ge­päck­trä­ger geklemmt wurde.
  • Ein bil­lig wir­ken­der A4-Wasch­zet­tel der AFD, ver­mut­lich deutsch­land­weit ver­teilt, erin­nert in der Hap­tik und Farb­ge­bung an Wer­bung für Auto­fens­ter oder Wasch­an­la­gen. „Nur wir sen­den die Bes­ten nach Euro­pa.“ Äh, nein.
  • Ein C6-lang-Fly­er von Frei­burg Lebens­wert, in dem vie­le Schlag­wor­te und Fotos der ers­ten zehn Plät­ze zu fin­den sind.
  • Ein C6-lang-Lepo­rel­lo der KULT mit Fotos aller Kan­di­da­tIn­nen und immer­hin fünf Sei­ten pro­gram­ma­ti­schem Text.
  • Ein Rechen­schafts­be­richt der FDP-Frak­ti­on im For­mat C6-lang-quer, dickes Papier, pro­fes­sio­nell gestaltet.
  • Ein gro­ßer Pro­spekt (A3) der Frei­en Wäh­ler, die umfang­reich über Pro­gramm und Kan­di­da­tIn­nen für die Wahl in Frei­burg infor­mie­ren. Dazu noch ein Ein­zel­fly­er (C6-lang) zwei­er Hand­wer­ker auf der FW-Liste.
  • Zwei Zei­tun­gen (Zei­tungs­druck auf Zei­tungs­pa­pier, viel rote Signal­far­be) der LINKE (Euro­pa) bzw. der Lin­ken Lis­te (Kom­mu­nal­wahl).
  • Zwei inno­va­tiv gefal­te­te Pro­duk­te der CDU (ein­mal ein dop­pel­tes Post­kar­ten­for­mat, das ist ein Kan­di­da­ten­fly­er, und ein­mal eine Art Stadt­plan, auf dem in äußerst pro­fes­sio­nel­ler Auf­ma­chung, auf Recy­cling­pa­pier, matt gedruckt, sämt­li­che Bewer­be­rIn­nen der CDU plus pro­gram­ma­ti­sche Aus­sa­gen zu fin­den sind).
  • Eine Post­kar­te eines Bewer­bers, ein C6-lang-Zet­tel­chen mit drei Kan­di­da­tIn­nen aus dem Stadt­teil und – wenn ich mich rich­tig erin­ne­re – schon vor eini­ger Zeit eine edel auf­ge­mach­te Bilanz­bro­schü­re der grü­nen Kom­mu­nal­frak­ti­on.
  • Und dann gibt es noch den eigent­li­chen Aus­lö­ser die­ses Blog­ein­trags – die SPD. Von der ich sage und schrei­be zehn Wer­be­kar­ten im Brief­kas­ten gefun­den habe. Dabei tritt die SPD nie als Lis­te ins­ge­samt auf, kann sie wohl auch nicht, son­dern es gibt einen klei­nen Pro­spekt (A5), in dem sich Kan­di­da­tIn­nen aus den umgren­zen­den Stadt­tei­len vor­stel­len, und dann noch ein­mal acht Sam­mel­post­kar­ten (C6-lang) und ein C6-lang-Fly­er, die jeweils einen Bewer­ber oder eine Bewer­be­rin vor­stel­len. Ich habe Platz 3 und Platz 18 jeweils dop­pelt, falls jemand tau­schen will. Ansons­ten noch 9, 11 und 14 (auf dicke­rem Papier), alle im Wahl­kampf-CI der SPD, sowie 13 in radi­kal abwei­chen­dem Design. Ach ja, und den Ein­zel­fly­er für Platz 6 nicht zu ver­ges­sen, der scheint beson­ders wich­tig zu sein.

Ob die­se Mate­ri­al­schlacht was bringt? Oder eher zu Ärger führt? Jeden­falls habe ich einen extrem inno­va­ti­ven Ver­bes­se­rungs­vor­schlag: Die Stadt bringt bei der nächs­ten Kom­mu­nal­wahl ein Sam­mel­al­bum her­aus, das güns­tig im Bür­ger­amt erwor­ben wer­den kann. Und dann darf mun­ter gesam­melt und getauscht wer­den, bis alle Lis­ten, die einem oder einer wich­tig sind, im Sam­mel­al­bum voll­stän­dig ein­ge­klebt sind, samt den Glit­zer-Extra-Sti­ckern mit den Haupt­aus­sa­gen zum Wahl­pro­gramm, und den Logos der Lis­ten mit Geruchs­ef­fekt. Alter­na­tiv wäre auch eine städ­ti­sche (oder viel­leicht gleich eine EU-wei­te?) Wahl­wer­benorm denk­bar, in cm² je Per­son defi­niert, immer im glei­chen For­mat. Das wür­de für Fair­ness und einen Fokus auf Inhal­te sor­gen, da bin ich mir sicher. Oder, als letz­te Mög­lich­keit: der „Dan­ke, ich weiß schon, wen ich wäh­len werde“-Aufkleber für den Brief­kas­ten, ver­teilt mit der Wahlbenachrichtigung.

Kurz: Geht uns der Kompass verloren?

Vor­ne­weg: Ich bin defi­ni­tiv kein Außen­po­li­ti­ker. Natür­lich waren mir die gro­ßen frie­dens- und außen­po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen in mei­ner Par­tei in den letz­ten bei­den Jahr­zehn­ten nicht egal. Aber es ist nicht mein The­ma, kei­nes, in dem ich irgend­ei­ne Form von Exper­ti­se hät­te oder drauf bren­nen wür­de, die­se oder jene Posi­ti­on durchzusetzen. 

Umso mehr stellt sich bei mir ein Gefühl der Irri­ta­ti­on ein, wenn ich mir anschaue, wie sich Bünd­nis 90/Die Grü­nen beim The­ma Ukrai­ne ver­hal­ten. Ein The­ma, bei dem es kei­ne Wahr­heit zu geben scheint. Revo­lu­ti­on gegen­über einem kor­rup­ten Auto­kra­ten, oder ein von Rech­ten und Faschis­ten durch­setz­ter Volks­auf­stand? Euro­päi­sche Wer­te gegen Russ­land? Regio­na­les Selbst­be­stim­mungs­recht vor dem Hin­ter­grund lang­jäh­ri­ger Auto­no­mie­be­stre­bun­gen oder von außen gelenk­te Annek­ti­on? Ich kann und will das nicht beur­tei­len. (Auch wenn mich die Anbie­de­rung man­cher Poli­ti­ke­rIn­nen der LIN­KEn an „Russ­lands Ein­fluss­sphä­re“ erschau­ern lässt, und wenn es mir, anders­her­um, emo­tio­nal rich­tig erscheint, dass Janu­ko­witsch aus dem Amt gejagt wur­de). Beginnt hier der zwei­te Kal­te Krieg? Oder gar ein hei­ßer? Ein Bür­ger­krieg, ein Volks­auf­stand, ein Abgren­zungs­ge­fecht zwi­schen euro­päi­schem west­li­chem und rus­si­schem „Block“? Wer hat wel­che Interessen? 

Ich füh­le mich nicht in der Lage, hier zu einer infor­mier­ten Mei­nung zu kom­men. Ist ja, wie gesagt, auch nicht mein Spe­zi­al­ge­biet. Und es gibt in Par­tei­en ja immer eine gewis­se Arbeits­tei­lung. Die Exper­tin­nen und Exper­ten in der Par­tei äußern sich aller­dings, so mein Ein­druck, zuneh­mend dis­so­nant. Steht Frie­dens­si­che­rung im Vor­der­grund? Oder die ukrai­ni­sche Sache? Stim­men die Vor­wür­fe, Grü­ne wür­den sich geschichts­ver­ges­sen in die Rol­le der SPD 1914 manö­vrie­ren, wie sie Ant­je Voll­mer äußert? Wie kommt Rebec­ca Harms – immer­hin unse­re deut­sche Spit­zen­kan­di­da­tin für die EP-Wahl – auf die Idee, dass es eine gute Sache wäre, Ger­hard Schrö­der den Mund zu ver­bie­ten? Und mun­ter wei­ter so. Was pas­siert da eigentlich?

Ich mag ja kei­ne Son­der­par­tei­ta­ge, die all­zu oft nur Are­nen des Strö­mungs­streits sind. Aber in der Fra­ge, wo eigent­lich der grü­ne Kurs (zu dem ja auch die Bür­ger­rechts­be­we­gung gehört) in Sachen Ukrai­ne und Russ­land hin­führt, wäre eine sol­che Form der Mei­nungs­bil­dung viel­leicht bes­ser als der viel­stim­mi­ge Chor, der der­zeit ertönt.

Keine progressive Mehrheit im Novembernebel

Freiburg railway station landscape II

Nach dem Auf­stand des 17. Juni
Ließ der Sekre­tär des Schriftstellerverbands
In der Sta­lin­al­lee Flug­blät­ter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Ver­trau­en der Regie­rung ver­scherzt habe
Und es nur durch ver­dop­pel­te Arbeit
Zurück­er­obern kön­ne. Wäre es da
Nicht doch ein­fa­cher, die Regierung
Lös­te das Volk auf und
Wähl­te ein anderes? 

Das schrieb Ber­tolt Brecht 1953, also vor sech­zig Jah­ren. His­to­risch ist der Ver­gleich etwas hei­kel, aber irgend­wie kam mir das Gedicht heu­te in den Sinn. 

„Kei­ne pro­gres­si­ve Mehr­heit im Novem­ber­ne­bel“ weiterlesen

Kurz: Koalitionsspiele, taktische

Eigent­lich ist die Koali­ti­ons­si­tua­ti­on nach die­ser Wahl so offen wie noch lan­ge nicht. Aber die Welt spielt ver­rückt: Kon­ser­va­ti­ve Sozi­al­de­mo­kra­ten for­dern zu Schwarz-Grün auf. Füh­ren­de Rea­los und Rea­las sagen, dafür sei die Zeit noch nicht reif. Die domi­nie­ren­den Figu­ren des lin­ken Lagers bei uns hal­ten dage­gen die LINKE nicht für regie­rungs­fä­hig – es sei des­we­gen nicht sinn­voll, die rech­ne­ri­sche Opti­on Rot-Rot-Grün zu son­die­ren. Die LINKE wie­der­um scheint nicht ernst­haft an Koali­ti­ons­ge­sprä­chen Inter­es­se zu haben. Neu­wah­len wären auch eine Opti­on – wenn jemand aus der Stim­men­mehr­heit von CDU/CSU, AFD und FDP auch eine Sitz­mehr­heit machen will. Aber alle zusam­men gehen sie davon aus, dass es am Schluss selbst­ver­ständ­lich eine 80%-Koalition aus CDU/CSU und SPD geben wird, SPD-Basis­vo­tum hin oder her. Wenn über­haupt, ist 2017 im Blick. Was ins­ge­samt scha­de ist – weil fast alles ande­re, inklu­si­ve eine Min­der­heits­re­gie­rung Mer­kel, mehr bewe­gen wür­de als eine Gro­ße Koalition.