Die Debatte darum, ob Bündnis 90/Die Grünen eine linke Partei sind – was für mich lange eine Selbstverständlichkeit war – dreht mal wieder auf. In diesem Blogbeitrag will ich zunächst versuchen, die unterschiedlichen Ebenen zu sortieren, auf denen diese Frage diskutiert wird.
Wahlwerbung im Briefkasten
Nicht die schicken Spots, nicht die vielen Köpfe, die an Straßenlaternen hängen – nein, wenn ich hier von Wahlwerbung spreche, meine ich das, was mein Briefkasten so hergibt. Es ist ja umstritten, ob ein Aufkleber „Keine Werbung“ vor Wahlwerbung schützt. Parteien und kommunale Listen sind ja schließlich – bekanntermaßen – etwas ganz anderes als schnöde Waschmittel, Fitnessstudios oder Billigangebote.
Aus professionellem Interesse sammele ich ja, was ich in meinem Briefkasten – der übrigens keinen Aufkleber trägt – so an Wahlwerbung finde. Bei dieser Wahl ist es besonders viel. Ich habe mal durchgezählt, geordnet nach Papierverbrauch:
- Ein postkartengroßes Zettelchen (Flyeralarm oder so) von Junges Freiburg, auf dem sich die ersten vier KandidatInnen vorstellen. Erinnert an Werbung, die vor der Mensa unter den Fahrradgepäckträger geklemmt wurde.
- Ein billig wirkender A4-Waschzettel der AFD, vermutlich deutschlandweit verteilt, erinnert in der Haptik und Farbgebung an Werbung für Autofenster oder Waschanlagen. „Nur wir senden die Besten nach Europa.“ Äh, nein.
- Ein C6-lang-Flyer von Freiburg Lebenswert, in dem viele Schlagworte und Fotos der ersten zehn Plätze zu finden sind.
- Ein C6-lang-Leporello der KULT mit Fotos aller KandidatInnen und immerhin fünf Seiten programmatischem Text.
- Ein Rechenschaftsbericht der FDP-Fraktion im Format C6-lang-quer, dickes Papier, professionell gestaltet.
- Ein großer Prospekt (A3) der Freien Wähler, die umfangreich über Programm und KandidatInnen für die Wahl in Freiburg informieren. Dazu noch ein Einzelflyer (C6-lang) zweier Handwerker auf der FW-Liste.
- Zwei Zeitungen (Zeitungsdruck auf Zeitungspapier, viel rote Signalfarbe) der LINKE (Europa) bzw. der Linken Liste (Kommunalwahl).
- Zwei innovativ gefaltete Produkte der CDU (einmal ein doppeltes Postkartenformat, das ist ein Kandidatenflyer, und einmal eine Art Stadtplan, auf dem in äußerst professioneller Aufmachung, auf Recyclingpapier, matt gedruckt, sämtliche BewerberInnen der CDU plus programmatische Aussagen zu finden sind).
- Eine Postkarte eines Bewerbers, ein C6-lang-Zettelchen mit drei KandidatInnen aus dem Stadtteil und – wenn ich mich richtig erinnere – schon vor einiger Zeit eine edel aufgemachte Bilanzbroschüre der grünen Kommunalfraktion.
- Und dann gibt es noch den eigentlichen Auslöser dieses Blogeintrags – die SPD. Von der ich sage und schreibe zehn Werbekarten im Briefkasten gefunden habe. Dabei tritt die SPD nie als Liste insgesamt auf, kann sie wohl auch nicht, sondern es gibt einen kleinen Prospekt (A5), in dem sich KandidatInnen aus den umgrenzenden Stadtteilen vorstellen, und dann noch einmal acht Sammelpostkarten (C6-lang) und ein C6-lang-Flyer, die jeweils einen Bewerber oder eine Bewerberin vorstellen. Ich habe Platz 3 und Platz 18 jeweils doppelt, falls jemand tauschen will. Ansonsten noch 9, 11 und 14 (auf dickerem Papier), alle im Wahlkampf-CI der SPD, sowie 13 in radikal abweichendem Design. Ach ja, und den Einzelflyer für Platz 6 nicht zu vergessen, der scheint besonders wichtig zu sein.
Ob diese Materialschlacht was bringt? Oder eher zu Ärger führt? Jedenfalls habe ich einen extrem innovativen Verbesserungsvorschlag: Die Stadt bringt bei der nächsten Kommunalwahl ein Sammelalbum heraus, das günstig im Bürgeramt erworben werden kann. Und dann darf munter gesammelt und getauscht werden, bis alle Listen, die einem oder einer wichtig sind, im Sammelalbum vollständig eingeklebt sind, samt den Glitzer-Extra-Stickern mit den Hauptaussagen zum Wahlprogramm, und den Logos der Listen mit Geruchseffekt. Alternativ wäre auch eine städtische (oder vielleicht gleich eine EU-weite?) Wahlwerbenorm denkbar, in cm² je Person definiert, immer im gleichen Format. Das würde für Fairness und einen Fokus auf Inhalte sorgen, da bin ich mir sicher. Oder, als letzte Möglichkeit: der „Danke, ich weiß schon, wen ich wählen werde“-Aufkleber für den Briefkasten, verteilt mit der Wahlbenachrichtigung.
Kurz: Geht uns der Kompass verloren?
Vorneweg: Ich bin definitiv kein Außenpolitiker. Natürlich waren mir die großen friedens- und außenpolitischen Auseinandersetzungen in meiner Partei in den letzten beiden Jahrzehnten nicht egal. Aber es ist nicht mein Thema, keines, in dem ich irgendeine Form von Expertise hätte oder drauf brennen würde, diese oder jene Position durchzusetzen.
Umso mehr stellt sich bei mir ein Gefühl der Irritation ein, wenn ich mir anschaue, wie sich Bündnis 90/Die Grünen beim Thema Ukraine verhalten. Ein Thema, bei dem es keine Wahrheit zu geben scheint. Revolution gegenüber einem korrupten Autokraten, oder ein von Rechten und Faschisten durchsetzter Volksaufstand? Europäische Werte gegen Russland? Regionales Selbstbestimmungsrecht vor dem Hintergrund langjähriger Autonomiebestrebungen oder von außen gelenkte Annektion? Ich kann und will das nicht beurteilen. (Auch wenn mich die Anbiederung mancher PolitikerInnen der LINKEn an „Russlands Einflusssphäre“ erschauern lässt, und wenn es mir, andersherum, emotional richtig erscheint, dass Janukowitsch aus dem Amt gejagt wurde). Beginnt hier der zweite Kalte Krieg? Oder gar ein heißer? Ein Bürgerkrieg, ein Volksaufstand, ein Abgrenzungsgefecht zwischen europäischem westlichem und russischem „Block“? Wer hat welche Interessen?
Ich fühle mich nicht in der Lage, hier zu einer informierten Meinung zu kommen. Ist ja, wie gesagt, auch nicht mein Spezialgebiet. Und es gibt in Parteien ja immer eine gewisse Arbeitsteilung. Die Expertinnen und Experten in der Partei äußern sich allerdings, so mein Eindruck, zunehmend dissonant. Steht Friedenssicherung im Vordergrund? Oder die ukrainische Sache? Stimmen die Vorwürfe, Grüne würden sich geschichtsvergessen in die Rolle der SPD 1914 manövrieren, wie sie Antje Vollmer äußert? Wie kommt Rebecca Harms – immerhin unsere deutsche Spitzenkandidatin für die EP-Wahl – auf die Idee, dass es eine gute Sache wäre, Gerhard Schröder den Mund zu verbieten? Und munter weiter so. Was passiert da eigentlich?
Ich mag ja keine Sonderparteitage, die allzu oft nur Arenen des Strömungsstreits sind. Aber in der Frage, wo eigentlich der grüne Kurs (zu dem ja auch die Bürgerrechtsbewegung gehört) in Sachen Ukraine und Russland hinführt, wäre eine solche Form der Meinungsbildung vielleicht besser als der vielstimmige Chor, der derzeit ertönt.
Keine progressive Mehrheit im Novembernebel
Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?
Das schrieb Bertolt Brecht 1953, also vor sechzig Jahren. Historisch ist der Vergleich etwas heikel, aber irgendwie kam mir das Gedicht heute in den Sinn.
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Kurz: Koalitionsspiele, taktische
Eigentlich ist die Koalitionssituation nach dieser Wahl so offen wie noch lange nicht. Aber die Welt spielt verrückt: Konservative Sozialdemokraten fordern zu Schwarz-Grün auf. Führende Realos und Realas sagen, dafür sei die Zeit noch nicht reif. Die dominierenden Figuren des linken Lagers bei uns halten dagegen die LINKE nicht für regierungsfähig – es sei deswegen nicht sinnvoll, die rechnerische Option Rot-Rot-Grün zu sondieren. Die LINKE wiederum scheint nicht ernsthaft an Koalitionsgesprächen Interesse zu haben. Neuwahlen wären auch eine Option – wenn jemand aus der Stimmenmehrheit von CDU/CSU, AFD und FDP auch eine Sitzmehrheit machen will. Aber alle zusammen gehen sie davon aus, dass es am Schluss selbstverständlich eine 80%-Koalition aus CDU/CSU und SPD geben wird, SPD-Basisvotum hin oder her. Wenn überhaupt, ist 2017 im Blick. Was insgesamt schade ist – weil fast alles andere, inklusive eine Minderheitsregierung Merkel, mehr bewegen würde als eine Große Koalition.