re:publica, oder: das Gute im Netz

Die jun­ge Fern­seh­schaf­fen­de Sophie Pass­mann lie­fert den pas­sen­den Ein­stieg für mei­nen Bericht über die re:publica 2018.

Mein Fazit zur #rp18: Digi­ta­li­sie­rung: wich­ti­ges The­ma, soll­ten wir mal ran. 

Und spricht damit, ganz uniro­nisch, die größ­te Schwä­che und die größ­te Stär­ke der wie immer viel zu vol­len (so unge­fähr 20.000 Besucher*innen, 500 Panels, 50.000 Tweets und 30.000 Bäl­le im Bäl­le­bad, unzäh­li­ge Sei­fen­bla­sen) Ver­an­stal­tung an. Die re:publica ist nach wie vor eine Netz­po­li­tik-Kon­fe­renz, kei­ne Digitialisierungskonferenz. 

Also, viel­leicht ist das. Viel­leicht habe ich auch wie­der mal nur die fal­schen Panels erwischt/ausgesucht.

Am zwei­ten re:publica-Tag war die­ser Unter­schied zwi­schen Digi­ta­li­sie­rung und Netz­po­li­tik für mich eher so ein vages Gefühl. Auch, weil sich ganz viel gar nicht so anders anfühl­te und anhör­te, als bei mei­nem letz­ten re:publica-Besuch. Und der ist schon fünf Jah­re her.

Heu­te hör­te ich dann einen Vor­trag von Jea­nette Hof­mann, Urge­stein der Netz­for­schung in Deutsch­land, und Ron­ja Kniep, bei­de vom Wis­sen­schafts­zen­trum Ber­lin, der ganz gut zu die­sem vagen Gefühl pass­te und das ordent­lich aka­de­misch kon­tex­tua­li­sier­te. Die bei­den gin­gen der Fra­ge nach, ob Netz­po­li­tik in Deutsch­land ein ordent­li­ches Poli­tik­feld ist. Dafür braucht es, so der theo­re­ti­sche Hin­ter­grund, ins­be­son­de­re ein gesell­schaft­lich akzep­tier­tes Schutz­gut. Also sowas wie „Netz­frei­heit“.

Kur­zer his­to­ri­scher Abriß: In den 1980ern gab’s, netz­po­li­tisch gese­hen, auf der einen Sei­te das staat­li­che Bun­des­post­mo­no­pol, auf der ande­ren Sei­te eine Com­pu­ter­sub­kul­tur (Hacker, CCC, Foe­bud, FifF etc.), und ein paar aka­de­mi­sche Fans der neu­en Tech­nik (ers­te E‑Mail in Deutsch­land an der Uni Karls­ru­he). Nischen und Infra­struk­tur­po­li­tik also.

In den 1990er Jah­ren geht’s auf der Daten­au­to­bahn in die Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft. Der Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­markt wird libe­ra­li­siert, und über­haupt domi­nie­ren wirt­schaft­li­che Sich­ten auf das Netz, das jetzt als Are­na für ver­schie­de­ne Dienst­leis­tun­gen dis­ku­tiert wird. 

Mit den 2000er Jah­ren tritt erst­mal die Netz­po­li­tik als eigen­stän­di­ger Poli­tik­be­reich ins Licht der Öffent­lich­keit. Becke­dahl und Notz, Frei­heit-statt-Angst-Demos, eine Zen­sur­su­la-Bewe­gung, der Auf­stieg (und Fall) der Pira­ten­par­tei. Auch die 1980er-Sub­kul­tur-Initia­ti­ven tau­chen, teils in gewan­del­ter Form, wie­der auf. Daten­schutz kommt dazu. Ins­ge­samt wird die Idee, dass ein frei­es und offe­nes Netz etwas schüt­zens­wer­tes sein könn­te, also ein Schutz­gut, zum gesell­schaft­lich akzep­tier­ten Deu­tungs­mus­ter. Die Netz­po­li­tik, wie wir sie ken­nen, ist gebo­ren. Und gebloggt wird auch darüber.

Die 2010er Jah­re sind dann in die­ser kur­zen Geschich­te der Pen­del­schlag zurück. Klar, die Daten­schutz­grund­ver­ord­nung und der Cam­bridge-Ana­ly­ti­ca-Skan­dal sind in aller Mun­de, aber noch wich­ti­ger sind „Digi­ta­li­sie­rung“ – vor allem wirt­schaft­lich gedacht – und „Cyber­crime“ bzw. „Cyber­se­cu­ri­ty“, also sicher­heits­po­li­ti­sche Über­le­gun­gen. Netz­po­li­tik als eige­nes Poli­tik­feld ver­liert an dis­kur­si­ver Deu­tungs­macht – und damit ver­än­dert sich auch der poli­ti­sche Mög­lich­keits­raum. (Und das, so Hof­mann, ist ein deut­lich grö­ße­res Pro­blem als die Fra­ge Digi­ta­li­sie­rungs­mi­nis­te­ri­um ja/nein).

Soweit der holz­schnitt­ar­ti­ge Abriß des schon auf nur drei­ßig Minu­ten gekürz­ten Vor­trags von Hof­mann und Kniep über ihre For­schungs­ar­beit. Eine Ses­si­on von ein paar hun­dert, voll, aber nicht auf der ganz gro­ßen Bühne.

Und irgend­wie trifft die­se Unter­schei­dung eben ganz gut auf mei­ne Wahr­neh­mung der dies­jäh­ri­gen re:publica zu. Dis­clai­mer: das mag an mei­ner Aus­wahl an Ver­an­stal­tun­gen gele­gen haben – vie­len Medi­en­po­li­tik und Medienmacher*innen, ein biss­chen Kon­zept- und Akti­ons­kunst, eini­ges zu Open Cul­tu­re und auch ein biss­chen was zu Daten­schutz. Viel­leicht wür­de mein Bild ganz anders aus­se­hen, wenn ich mir mehr der „Part­ner­ses­si­ons“ der Wer­be­part­ner ange­schaut hät­te (ein Vor­trag einer Auto­desk-Frau zu den Poten­zia­len von Robo­tern und KI für den Bau einer bes­se­ren Welt ging in die­se Rich­tung), oder die Tracks zu Arbeit oder Gesundheit.

In mei­ner Panel-Aus­wahl, und auch in eini­gen Gesprä­chen, war es aber so, dass in den Panels viel über Netz­po­li­tik gere­det wur­de – alles mög­li­che, was mit dem media­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­raum Netz, den dort beweg­ten Daten und ihrem Schutz sowie mit der dar­un­ter­lie­gen­den Sozio­tech­nik zu tun hat­te – und kaum über Digi­ta­li­sie­rung. (Und um den Umgang mit rech­tem Hass im Netz, viel­leicht war dass das eigent­li­che gro­ße The­ma). Jeden­falls: um das freie und offe­ne Netz, um die „Zurück­er­obe­rung“ des Internets.

Ganz anders das Bild, das sich auf dem Gelän­de bot: schon am Ein­gang begrüß­te der Postbot*innen hin­ter her fah­ren­de Post­bot, eine schnu­cke­li­ge Art Geträn­ke­box auf Rädern. An min­des­tens jedem zwei­ten Stand hin­gen VR-Bril­len. Und zwi­schen Bit­co­in-Start­ups und Tech for Good, neu­er Arbeits­welt und Goog­le-AIs ging es an den Stän­den um Digi­ta­li­sie­rung, wie das halt heu­te so gemacht wurde.

Viel­leicht wäre Sepia als Leit­far­be bes­ser gewe­sen als das pop­pi­ge Grün der Green Screens. Nost­al­gie für den uto­pi­schen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­raum, um den „wir“ in den 2000er Jah­ren gekämpft haben. Ver­traut­heit mit dem Tagungs­ort, der STATION Ber­lin. Selbst das WLAN erkann­te einen wie­der. Oder doch Begeis­te­rung dar­über, wie nor­mal das alles inzwi­schen ist?

War­um blog­ge ich das? Hey, ein re:publica-Besuch ohne Blog­post dazu wäre ja irgend­wie schräg.

Auf dem Weg zu einer digital fundierten Halbtagsgesellschaft?

Inspiring spring V

Ganz am Ende der Dis­kus­si­on im Work­shop „Digi­ta­li­sie­rung“ (oder, wie er offi­zi­ell hieß: Mensch und Maschi­ne oder Mensch als Maschi­ne) beim grü­nen Auf­takt für das Grund­satz­pro­gramm pas­sier­te etwas. Da gab es einen Impuls, der gut an den Anfang der Debat­te gepasst hät­te. Ein Zukunfts­for­scher, der uns inter­es­siert zuge­hört hat­te, mach­te uns dar­auf auf­merk­sam, dass der Zeit­ho­ri­zont unse­rer Dis­kus­si­on ver­rutscht war. 

2020 soll das neue Grund­satz­pro­gramm das Licht der Welt erbli­cken. Und es soll bis – so jeden­falls die Ansa­ge von Robert Habeck – plus minus bis zum Jahr 2040 hal­ten. Das ist die Welt, in der zum Bei­spiel mei­ne Kin­der etwa drei­ßig Jah­re alt sein wer­den. Von heu­te aus: 22 Jah­re in der Zukunft – 22 Jah­re zurück hie­ße 1996. Da war ich am Anfang mei­nes Stu­di­ums. Ja, es gab da schon PCs mit dem brand­neu­en Betriebs­sys­tem Win­dows 95. Mobil­te­le­fo­ne waren noch pri­mär Tele­fo­ne und kei­ne mobi­len Fens­ter zur Welt. Mein Com­pu­ter hat­te noch ein Dis­ket­ten­lauf­werk, das Stu­di­um lief im Magis­ter- und noch nicht im Bache­lor-/Mas­ter-Sys­tem, und es war ziem­lich cool, auf den Infor­ma­tik-Work­sta­tions unter Sola­ris mit einer der ers­ten Fas­sun­gen des Net­scape Navi­ga­tors im Netz sur­fen zu kön­nen, ohne auf Tele­fon­kos­ten ach­ten zu müs­sen. Macs waren zum Lay­ou­ten da (und stan­den als hübsch geform­te Käs­ten rum), Moni­to­re hat­ten Röh­ren, und in einem Hiwi-Job gab es tat­säch­lich NeXT-Cubes als Arbeits­rech­ner. Aber ich schwei­fe ab. 

Was ich sagen will, und was dann doch wie­der etwas mit der Inter­ven­ti­on am Ende des Work­shops zu tun hat: 22 Jah­re in der Zukunft ist gera­de mit Blick auf Digi­ta­li­sie­rungs­the­men ganz schön weit weg. Es wäre ziem­lich ver­mes­sen, jetzt mit Sicher­heit sagen zu wol­len, wel­che der heu­te gehyp­ten Tech­no­lo­gien sich bis dahin als soli­de Nor­ma­li­tät durch­ge­setzt haben, wel­che aus dem Aus plötz­lich aufs Spiel­feld tre­ten, und wel­che völ­lig ver­ges­sen sein werden.

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Nachruf: Ursula K. Le Guin


Ursu­la K. Le Guin (1929–2018), Gort­hi­an -
File:Ursula K Le Guin.JPG, CC BY-SA 3.0, Link

Heu­te habe ich erfah­ren, dass Ursu­la K. Le Guin vor­ges­tern im Alter von 88 Jah­ren gestor­ben ist. Ich habe, glau­be ich, fast alles gele­sen, was von ihr erschie­nen ist, teil­wei­se in der deut­schen Über­set­zung, teil­wei­se im Ori­gi­nal, und sie war eine der Autorin­nen, die mich stark beein­flusst hat. 

Le Guin hat eth­no­lo­gi­sche Sci­ence Fic­tion geschrie­ben, manch­mal auch anthro­po­lo­gi­sche Fan­ta­sy – die Gren­zen sind da flie­ßend. Jeden­falls: eine spe­ku­la­ti­ve Lite­ra­tur, in der genau beob­ach­tet wird, egal ob es um hell oder dun­kel geht. Eine Lite­ra­tur, in der Kul­tu­ren kon­sis­tent sind und eine Rol­le spie­len – sei­en es die Gesell­schaf­ten der Erd­see-Archi­pel, sei­en es die mehr oder weni­ger fort­ge­schrit­te­nen Außer­ir­di­schen im Hai­nish-Uni­ver­sum. Vie­le Bücher Le Guins sind sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Ver­suchs­an­ord­nung: über Geschlech­ter­ver­hält­nis­se, dar­über, ob eine bes­se­re Zukunft mög­lich ist, oder auch dazu, wie Unter­drü­ckung funk­tio­niert hat und wei­ter funktioniert.

Hier wird schon deut­lich: Le Guin ist und war immer eine poli­ti­sche Schrift­stel­le­rin. Noch vor weni­gen Mona­ten erschie­nen Inter­views mit ihr, in der sie sich nicht nur klar zu Trump posi­tio­niert hat, son­dern auch klar dazu, dass Kapi­ta­lis­mus etwas men­schen­ge­mach­tes ist und mög­li­cher­wei­se nicht die bes­te aller Wel­ten dar­stellt. Dass Sci­ence Fic­tion kein Män­ner­spiel­platz mit Welt­raum­aben­teu­ern aus Kar­ton mehr ist, son­dern femi­nis­tisch sein kann, mit tief gezeich­ne­ten, emp­find­sa­men Wesen: auch da war sie eine Weg­be­rei­te­rin. Und natür­lich han­deln ihre Bücher und Geschich­ten von der gan­zen Palet­te des lin­ken, pro­gres­si­ven Lebens. Vom Kampf gegen Umwelt­zer­stö­rung und Skla­ve­rei bis hin zu den genau aus­ge­dach­ten und auf­ge­schrie­be­nen Nie­de­run­gen einer real exis­tie­ren­den syn­di­ka­lisch-anar­chi­schen Uto­pie, aber auch die Ver­su­chun­gen von Macht und Zau­be­rei: all das fin­det sich bei Le Guin, dazu noch eine Spur Taoismus. 

Dabei war Le Guin immer Schrift­stel­le­rin mit lite­ra­ri­schem Anspruch. Ihre Tex­te sind nie­mals plump, son­dern höchst leben­dig, mit einem eige­nen Humor. Auch dazu, wie Spra­che ein­ge­setzt wer­den kann, dass Rhyth­men und Flüs­se etwas mit Text­ar­beit zu tun haben, konn­te von Le Guin gelernt werden.

Ursu­la K. Le Guin hat­te eine Wir­kung. Das ist viel­leicht das stärks­te, was über einen Schrift­stel­ler oder eine Schrift­stel­le­rin gesagt wer­den kann. Ich bin nicht der ein­zi­ge, den sie dazu ver­führt hat, ima­gi­nä­ren Wel­ten treu zu blei­ben und des­sen poli­ti­sche Hal­tung und Welt­sicht gleich­zei­tig von ihren Büchern deut­lich geprägt wur­de – obwohl ich sie nie per­sön­lich getrof­fen habe. Ich wün­sche uns, dass ihre Bücher und Geschich­ten – auch das, dem die 1970er Jah­re so deut­lich anzu­mer­ken sind – wei­ter gele­sen wer­den und auch über ihren Tod hin­aus die­sen Effekt haben werden.

Leseprotokoll Mai 2017

Im Mai bin ich gar nicht so zum Lesen gekom­men, wie ich das eigent­lich woll­te. Das lag unter ande­rem an den Wah­len (die ich dann lie­ber ver­folgt habe, statt ein Buch zu lesen), aber auch an diver­sen Fil­men, die ich allei­ne oder mit mei­nen Kin­dern ange­schaut habe. Neben diver­sen Aus­ga­ben des MERKUR (den ich im All­ge­mei­nen sehr mag, der aber oft unge­le­sen lie­gen­bleibt) und dem Kin­der­buch Das Augen-Ver­wirr-Buch von Sil­ke Vry (opti­sche Täu­schun­gen in Kunst­wer­ken; schön gemacht, aber mei­ne Kin­der fan­den es eher lang­wei­lig) waren das vor allem zwei Bücher:

Jor­ge Cham und Dani­el White­son haben We have no idea – A gui­de to the unknown uni­ver­se ver­öf­fent­licht. Ja, rich­tig, ein Sach­buch. Cham ist vor allem für die PhD-Comic­se­rie bekannt, White­son ist ein kali­for­ni­scher Expe­ri­men­tal­phy­si­ker. We have no idea ist flott geschrie­ben – und han­delt tat­säch­lich genau davon: Was wir alles nicht wis­sen über das Uni­ver­sum. Neben­bei wird dann erklärt, was wir alles wis­sen, wie weit weg ande­re Ster­ne tat­säch­lich sind, und wie das mit dem Urknall und dem gan­zen Zeugs so gelau­fen ist. Was wir nicht wis­sen? Wie groß das Uni­ver­sum ist, ob es in etwas ande­res ein­ge­bet­tet ist, wor­aus Quarks bestehen (und ob es eine Art Peri­oden­sys­tem der Bosonen/Leptonen gibt, das auf zugrun­de lie­gen­de Mus­ter schlie­ßen lässt), ob das Uni­ver­sum in sei­ner kleins­ten Abmes­sung „digi­tal“ (also dis­kret) oder „ana­log“ orga­ni­siert ist, wie Quan­ten­me­cha­nik und Gra­vi­ta­ti­on zusam­men­pas­sen, was Mas­se ist, naja, und noch so eini­ges mehr. Trotz eini­ger Wie­der­ho­lun­gen sehr inter­es­sant. Zumin­dest füh­le ich mich jetzt schlauer.

Das ande­re Buch, das ich im Mai gele­sen habe, ist Cory Doc­to­rows neu­er Roman Wal­ka­way. Doc­to­row ist ein sehr poli­ti­scher Sci­ence-Fic­tion-Autor, und man­che sei­ner frü­he­ren Bücher lesen sich eher wie in Bel­le­tris­tik gegos­se­ne poli­ti­sche Mani­fes­te. Bekannt gewor­den ist er vor allem für sein Ein­tre­ten für offe­ne Soft­ware und offe­ne Daten, gegen pro­prie­tä­re Sys­te­me und gegen Über­wa­chung. Wal­ka­way hat auch Stel­len, die eher Mani­fest­cha­rak­ter haben. Es ist aber doch mehr. In einen Tweet gepackt, hat­te ich dazu geschrieben:

Doc­to­row selbst nann­te das eine sehr gute Zusam­men­fas­sung. Aus­ein­an­der­ge­nom­men, geht es um fol­gen­des. Die Zukunft, die Doc­to­row skiz­ziert, ist eine, in der „deep tech“ all­ge­gen­wär­tig ist – also künst­li­che Intel­li­genz, 3D-Dru­cker, Inter­net of Things und auto­no­me Maschi­nen und all sowas. Im Main­stream-Teil der von ihm beschrie­be­nen Gesell­schaft ist aus dem Kapi­ta­lis­mus, wie wir ihn ken­nen, ein Über­wa­chungs­re­gime gewor­den, das auf „deep tech“ auf­baut – und in dem eini­ge weni­ge „Zot­tas“ das Sagen haben. Zot­tas sind die immens rei­che Eigen­tü­mer­fa­mi­li­en der Kon­zer­ne. Ich neh­me an, dass Doc­to­row dabei einen obsku­ren Prä­fix für sehr gro­ße Zah­len vor Augen hat­te (Zet­ta- ist der SI-Prä­fix für 10^21, Zot­ta- soll ein SI-Prä­fix für 10^255 sein). Jeden­falls: sehr, sehr rei­che Ult­ra­rei­che, die eigent­li­chen Herr­sche­rin­nen und Herr­scher über die Main­stream-Welt (die Doc­to­row als „Default“ bezeichnet).

Dass es eini­ge dort nicht aus­hal­ten, ver­wun­dert nicht. In der von Doc­to­row beschrie­be­nen Zukunft sind es die Wal­ka­ways, die qua­si-noma­disch in ver­wüs­te­te Gebie­te zie­hen, dort mit Hil­fe von Fab­bern, 3D-Dru­ckern und als Open Source zugäng­li­chen Bau­plä­nen (oder gecrack­ten pro­prie­tä­ren Plä­nen) etwa für Flücht­lings­un­ter­künf­te Häu­ser bau­en und als „eco-anar­chist inten­tio­nal com­mu­ni­ty“, also als anar­chis­ti­sche Kom­mu­ne dort leben. Ohne Geld, ohne Besitz – im Zwei­fel wird halt schnell mal der 3D-Dru­cker ange­wor­fen -, eher gewalt­frei, ger­ne poly­amo­rös und mit eige­nen Solar­zel­len und Wind­rä­dern auch ein biss­chen ökologisch. 

Der Span­nungs­bo­gen des umfang­rei­chen Buchs hängt nun unter ande­rem am Zusam­men­tref­fen die­ser bei­den Wel­ten. Die Haupt­fi­gur nennt sich Ice­wea­sel, ist Toch­ter eines Zot­ta-Clans und läuft mit eini­gen Freun­den davon in die Welt der Walkaways. 

Das geht lan­ge gut (und wird von Doc­to­row auch in schö­ner uto­pi­scher Aus­führ­lich­keit geschil­dert), aber irgend­wann schlägt „Default“ zurück – mit Droh­nen und schwe­rem Kriegs­ge­rät. Rand­be­din­gung : das auf­ge­ge­be­ne Land ist öko­lo­gisch ziem­lich kaputt. Rand­be­din­gung #2: die im frei­en Zusam­men­schluss vor sich hin wer­keln­den Wissenschaftler*innen der Wal­ka­way Uni­ver­si­ty ste­hen kurz davor, Gehir­ne zu Soft­ware zu machen. Ende der Uto­pie? Oder erst der Anfang? 

Mehr zu ver­ra­ten, scheint mir an die­ser Stel­le nicht ange­bracht zu sein. Wer aus einer der bei­den Sze­nen – alter­na­ti­ve Lebens­sti­le oder Hacker-Maker – kommt, wird sich jeden­falls in Wal­ka­way wie­der­fin­den, und viel­leicht auch ein biss­chen Selbst­er­kennt­nis mitnehmen.

Wal­ka­way ist am Schluss eine Uto­pie. Und als sol­che alles ande­re als eine Blau­pau­se für die bes­se­re Welt. Die eine oder ande­re Anre­gung dafür, was „deep tech“ in einem ande­ren Denk­kon­text noch könn­te, und wel­che Poten­zia­le Open Source Hard­ware haben könn­te – im Rah­men von Degrowth wird dar­über heu­te schon sehr ernst­haft dis­ku­tiert -, las­sen sich dort aller­dings doch fin­den. Nicht nur des­we­gen hat’s mir sehr gut gefallen.

Experimenteller Technikoptimismus – Update 2017

Man with dog III

Judith Hor­chert, Mat­thi­as Kremp und Chris Stö­cker schrie­ben vor zwei Jah­ren über fünf Tech­no­lo­gien, die unse­ren All­tag rasant ver­än­dern wer­den. Ich war skep­tisch, ob Robo­tik, auto­no­me Fahr­zeu­ge, künst­li­che Intel­li­genz, VR und auto­ma­ti­sche Über­set­zun­gen „on the fly“ sich wirk­lich so schnell durch­set­zen wer­den, wie Hor­chert, Kremp und Stö­cker das damals vermuteten.

Vor einem Jahr habe ich mir den dama­li­gen Ent­wick­lungs­stand ange­schaut. Mein dama­li­ges Fazit:

Vor einem Jahr war ich noch sehr skep­tisch, dass es hier tat­säch­lich zu Durch­brü­chen kommt und ent­spre­chen­de Tech­no­lo­gien – von den Robo­tern bis zur all­ge­gen­wär­ti­gen KI – Ein­zug in den All­tag fin­den und sich auch tat­säch­lich durch­set­zen. Gera­de was die Sprach- und Bil­der­ken­nung angeht, und alles, was dar­auf auf­baut, ist in den letz­ten Mona­ten extrem viel passiert. 

„Expe­ri­men­tel­ler Tech­ni­kopti­mis­mus – Update 2017“ weiterlesen