Gelesene Bücher Herbst/Winter

Die­sen Herbst und Win­ter habe ich eini­ges an Sci­ence Fic­tion und ein wenig Fan­ta­sy gele­sen. Anbei mei­ne Kurzkritiken:

  • Charles Stross, Dead lies dre­a­ming. In die­sem Sei­ten­ast zu Stross’ Laun­dry Series spielt der Autor auf Peter Pan an – nicht auf die Dis­ney-Vari­an­te, son­dern das wohl etwas gru­se­li­ge­re Ori­gi­nal. Dar­aus ergibt sich eine nicht-tra­di­tio­nel­le Fami­li­en­ge­schich­te mit einer magi­schen Tra­gö­die in einem Lon­don, das nicht ganz von die­ser Welt ist, gekreuzt mit einem trans­di­men­sio­na­len Heist in einem Lon­don, das noch weni­ger von die­ser Welt ist. Wer die Laun­dry mag, wird das hier mögen.
  • K.J. Par­ker, Six­teen Ways to Defend a Wal­led City. Ein nicht ganz zuver­läs­si­ger Erzäh­ler berich­tet in leicht schel­mi­scher Ton­la­ge von den Ver­wick­lun­gen und Zufäl­len, die ihn, den Außen­sei­ter, erst zum Chef der Inge­nieur­bri­ga­de gemacht und es dann ermög­licht haben, die füh­rungs­lo­se Stadt – eine Art Rom unter ande­rem Namen – sicher durch eine schein­bar unauf­halt­sa­me Bela­ge­rung zu brin­gen. Den Nach­fol­ge­band (sel­be Stadt, sel­be second world fan­ta­sy, ande­re Haupt­per­son) mit dem Titel How to Rule an Empire and Get Away with it fand ich auch ganz nett, da fehl­te mir aller­dings der Erzäh­ler aus Six­teen Ways …
  • Gard­ner Dozois / Micha­el Swan­wick, The City under the Stars. Ein von Micha­el Swan­wick voll­ende­ter Roman des 2018 ver­stor­be­nen SF-Autors und Her­aus­ge­bers Gard­ner Dozois, Tei­le davon stam­men aus den 1970er Jah­ren, erschie­nen ist The City under the Stars aller­dings erst 2020. Auf den ers­ten Blick wirkt die­ser Roman wie klas­si­sche SF die­ser Zeit, also der 1970er Jah­re. Auf den zwei­ten Blick ent­puppt er sich als tief­grün­di­ge­re Medi­ta­ti­on über die Natur des Men­schen, über Macht und Fortschritt.
  • Chris­to­pher Pao­li­ni, To Sleep in a Sea of Stars. Eine soli­de Block­bus­ter-Space-Ope­ra von Chris­to­pher Pao­li­ni, der durch die Era­gon-Rei­he bekannt gewor­den ist. In die­ser Space Ope­ra gibt es halb­wegs plau­si­ble Fas­ter-Than-Light-Tech­no­lo­gie, eine Hel­din wider Wil­len und inter­es­san­te Außerirdische.
  • Eliza­beth May, Seven Devils. Noch­mal Space Ope­ra, erin­nert ent­fernt an She-Ra, span­nen­de Geschich­te, aber ein lei­der ziem­lich inkon­sis­ten­tes World­buil­ding (Zwei instantan besuch­ba­re Gala­xien? Lebens­mit­tel­knapp­heit als Kriegs­grund? Extrem fort­ge­schrit­te­ne medi­zi­ni­sche Tech­no­lo­gie, aber jucken­de Pro­the­sen und kei­ne Mög­lich­keit, feh­len­de Orga­ne zu erset­zen? Ein unlo­gi­sches Berg­werk?). Wenn dar­über hin­weg­ge­se­hen wird, ganz unterhaltsam.
  • Eliza­beth Bear, On Safa­ri in R’lyeh and Car­co­sa with Gun and Came­ra. Novel­le, die mit dem einen oder ande­ren Love­craft-Motiv spielt – und dem heim­li­chen Wunsch, viel­leicht doch ein Ali­en zu sein. Online bei tor.com.
  • Eliza­beth Bear, Machi­ne. Der zwei­te Band in Bears White-Space-Uni­ver­sum (Band 1 war Ances­tral Nights); die Hel­din, die den ers­ten Band so gera­de eben über­lebt hat, wenn ich mich rich­tig erin­ne­re, arbei­tet jetzt für die größ­te Kran­ken- und Ret­tungs­sta­ti­on des Uni­ver­sums im Außen­ein­satz, Sei­te an Sei­te mit ganz unter­schied­li­chen Lebens­for­men. Was wie ein Rou­ti­ne­ein­satz für eine Not­fall­ärz­tin beginnt, stellt das neu gewon­ne­ne Selbst­bild von Dr. Jens in Fra­ge. Und nicht nur das. Space Ope­ra mal jen­seits impe­ria­ler Kriege.
  • Andrew Ban­nis­ter, Crea­ti­on Machi­ne. Erin­nert ein biss­chen an Banks Cul­tu­re, ist aber lei­der weit weni­ger packend geschrieben.
  • Kim Stan­ley Robin­son, The Minis­try for the Future. Der letz­te Ein­trag in die­ser Lis­te ist ein biss­chen gemo­gelt, weil ich mit KSRs neu­em Roman erst halb durch bin. Cli­ma­te Fic­tion, weni­ge Jahr­zehn­te nach der Gegen­wart, auf einer Erde, die von der vol­len Wucht des Kli­ma­wan­dels getrof­fen ist. Har­te Kost – die per­sön­li­chen Lebens- und Lei­dens­ge­schich­ten der Protagonist*innen wer­den immer wie­der unter­bro­chen von eher sach­buch­ar­ti­gen Tex­ten über Kli­ma­wan­del, Kli­ma­wan­del­fol­gen und mög­li­che Miti­ga­ti­ons- und Adap­ti­ons­stra­te­gien. Wie in frü­he­ren Roma­nen von KSR spielt der poli­tisch-büro­kra­ti­sche Appa­rat eine gro­ße Rol­le. Da ich SF/Fantasy in den letz­ten Mona­ten eher zur Ablenkung/Unterhaltung gele­sen habe, habe ich The Minis­try for the Future erst ein­mal bei Sei­te gelegt, wer­de ich aber bei Gele­gen­heit sicher wie­der zur Hand neh­men und zu Ende lesen.

In diesem Sommer gelesen

Im Mai hat­te ich ja von der Nine-Realms-Serie („The Ceru­lean Queen“) berich­tet. Die ist immer noch emp­feh­lens­wert. Den Som­mer über habe ich dane­ben noch das eine oder ande­re wei­te­re Gen­re-Buch gele­sen (und neben­bei Seri­en wie She-Ra oder Kipo and The Age of Won­der­be­asts geschaut, aber dar­um soll es jetzt nicht gehen). Im Ein­zel­nen waren dies dann doch mehr Bücher als gedacht, nämlich:

  • John Scal­zi, The Last Emperox (2020) – Tur­bu­len­ter letz­ter Band der Emperox-Rei­he von Scal­zi, Space Ope­ra mit poli­ti­schen Ver­wick­lun­gen und Intrigen.
  • Jef­frey Lewis, The 2020 Com­mis­si­on Report on the North Kore­an Nuclear Attacks Against The United Sta­tes (2018) – Sehr selt­sa­mes Alt-Histo­ry-Buch: durch eine Rei­he von Miss­ver­ständ­nis­sen und vor allem das Fehl­ver­hal­ten des US-Prä­si­den­ten D.T. kommt es zu einem (begrenz­ten) Nukle­ar­krieg zwi­schen den USA und Nord­ko­rea. Das Buch behaup­tet, der Bericht der im Nach­hin­ein ein­ge­setz­ten Kom­mis­si­on zu sein, die rekon­stru­iert, wie es zum Nukle­ar­an­griff auf die US gekom­men ist. Soll vor den Gefah­ren der nuklea­ren Bewaff­nung warnen.
  • Alas­ta­ir Rey­nolds, Shadow Cap­tain (2019) / Bone Silence (2020) – Zwei Bücher in Alas­ta­ir Rey­nolds „Revenger“-Universum; die sich über bei­de erstre­cken­de Geschich­te lässt sich am bes­ten als Steam­punk im Welt­raum cha­rak­te­ri­sie­ren; geht um Pira­ten, Ver­rat, das Ver­hält­nis zwi­schen Men­schen und Außer­ir­di­schen und einen geheim­nis­vol­len Him­mels­kör­per, der den bewohn­ten Aste­ro­iden und Pla­ne­to­iden (das gan­ze spielt Mil­lio­nen Jah­re in der Zukunft, von heu­te aus gese­hen) nur alle paar zehn­tau­send Jah­re nahe kommt.
  • Hao Jing­fang, Vagabonds (2020) – Coming of age zwi­schen Erde und Mars, die in einem kal­ten Krieg mit­ein­an­der lie­gen. Mars scheint eine Uto­pie zu sein, die Erde dys­to­pisch gekenn­zeich­net, das gan­ze mit einer gehö­ri­gen Pri­se zeit­ge­nös­si­sche chi­ne­si­sche Per­spek­ti­ve. Eine inter­es­san­te Per­spek­ti­ve, auch die Spra­che ist … anders, als sonst von Sci­ence Fic­tion gewohnt.
  • David Wel­ling­ton, The Last Astro­naut (2019) – First Cont­act im Erd­or­bit, geht ziem­lich dane­ben. Weder das Mili­tär noch die kom­mer­zi­el­le Raum­fahrt krie­gen es gere­gelt. Geschrie­ben aus der Per­spek­ti­ve der letz­ten Astro­nau­tin, deren Flug zum Mars von vie­len Jah­ren schei­ter­te und die jetzt das unbe­kann­te Flug­ob­jekt erkun­den soll.
  • Kathe­ri­ne Adddi­son, The Angel of the Crows (2020) – Muss­te kurz nach­den­ken, was das noch­mal war: genau, eine Art Sher­lock-Hol­mes-Roman in einem über­na­tür­lich getränk­ten vik­to­ria­ni­schen Eng­land – es gibt Wer­wöl­fe und gefal­le­ne Engel, golem­ar­ti­ge Robo­ter und Vam­pi­re – und all das hat natür­lich Aus­wir­kun­gen dar­auf, wie der (gefal­le­ne?) Engel Crow und assis­tie­rend Dr. Doyle mit
    meh­re­ren dunk­len Geheim­nis­sen ihre Fäl­le lösen. Über­ra­schen­der schö­ner Schluss.
  • Megan E. O’Keefe, Velo­ci­ty Wea­pon (2019) / Cha­os Vec­tor (2020) – Space Ope­ra in einem durch Wurm­lö­cher ver­bun­de­nen Ex-Erd-Impe­ri­um, eine Elon-Musk-arti­ge Erfin­de­rin und das künst­li­che Bewusst­sein eines Raum­schiffs – der titel­ge­ben­den velo­ci­ty wea­pon spie­len eine gro­ße Rol­le, es gibt aber auch cyber­punk-arti­ge Slum-Bewohner:innen.
  • Zack Jor­dan, The Last Human (2020) – Coming of Age eines von allen ande­ren Wesen mas­siv gefürch­te­ten gefähr­li­chen Men­schen­kinds; inter­es­sant gebau­te Welt mit Anleh­nun­gen an Dou­glas Adams und Kom­men­ta­ren zu frei­em Wil­len, ver­teil­ter sowie gott­glei­cher Intel­li­genz (Men­schen sind auf einem „bare­ly sen­ti­ent“-tier in der Intelligenzpyramide).
  • Dani­el Abra­ham, A Shadow in Sum­mer (2006) / An Autumn War (2007) / A Betra­y­al in Win­ter (2008) / The Pri­ce of Spring (2009) – Beein­dru­cken­de Saga in einer detail­liert aus­ge­dach­ten Fan­ta­sy-Welt; Magie kommt in Form ver­kör­per­ter und sehr mäch­ti­ger Ideen vor, die zu beherr­schen nicht ein­fach ist. Eine Lebens­ge­schich­te mit über­ra­schen­den Wen­dun­gen, Intri­gen und einem rea­lis­ti­schen Blick auf Macht und schwe­re Entscheidungen.
  • Dan Moren, The Bay­ern Agen­da (2019) – James Bond als Space Opera.
  • James Gur­ney, Dino­to­pia (1992) – Mir bis­her ent­gan­ge­ner Klas­si­ker (ver­sun­ke­ne Welt, in der Men­schen und Dino­sau­ri­er ver­eint leben), hübsch illus­triert, die Geschich­te ist weni­ger spannend.
  • Kame­ron Hur­ley, The Mir­ror Empire (2014) – Eher dran rum­ge­kaut, fand die unter­schied­li­chen Erzähl­strän­ge ver­wir­rend und bin bis heu­te nicht sicher, ob ich jede Figur der rich­ti­gen Welt zuord­ne (die hier par­al­lel zuein­an­der lie­gen und durch Magie in Ver­bin­dung gebracht wer­den kön­nen). Teil­wei­se sehr fremd­ar­ti­ge Kul­tu­ren, der Sub­text ganz unter­schied­li­cher Nor­ma­li­tä­ten – Mehr-Eltern-Fami­li­en, ver­än­der­te Geschlech­ter­rol­len, gefähr­li­che Pflan­zen usw. – sag­te mir stre­cken­wei­se mehr als die Geschich­te, die am Ende von Band 1 abrupt und unbe­frie­di­gend endet.
  • Ursu­la K. Le Guin, No Time to Spa­re: Thin­king About What Mat­ters (2017) – Kei­ne Fik­ti­on, son­dern die gesam­mel­ten Blog­ein­trä­ge der ver­stor­be­nen Autorin; neben Kat­zen­ge­schich­ten geht es um Poli­tik, Schrei­ben, Reli­gi­on, … nicht alles fand ich über­zeu­gend, aber doch lesens­wert und altersweise.

Bis­her nicht ange­fan­gen habe ich Sarah Pins­ker, A Song for a New Day (2019), obwohl das von vie­len Sei­ten emp­foh­len wur­de und seit eini­ger Zeit auf mei­nem E‑Book-Lese­ge­rät liegt – schlicht und ein­fach des­halb, weil mir ein Buch über eine Pan­de­mie in einer Pan­de­mie zu lesen zu nahe ist.

So ’ne Art Jahresrückblick, Teil II: Zwölf mal Science Fiction & Fantasy

Auch dank des E‑Books (ja, beim Pen­deln und für den Sofort­zu­griff auf inter­es­sant aus­se­hen­de Bücher super­prak­tisch) lese ich doch ziem­lich viel, vor allem Sci­ence Fic­tion und Fan­ta­sy. Im Juli hat­te ich schon mal auf ein paar inter­es­san­te Bücher hin­ge­wie­sen, und im Okto­ber auf L.X. Becketts Game­ch­an­ger als beson­ders gut gemach­tes Bei­spiel für das Sub­gen­re der Aug­men­ted-Rea­li­ty-Roma­ne. Wenn ich aus den vie­len Büchern, die ich 2019 gele­sen habe, zehn her­aus­pi­cken möch­te, die beson­ders ein­drucks­voll waren, dann sind das die fol­gen­den. Dabei habe ich mal Ste­ven Brusts Vlad Tal­tos, Lar­ry Nivens Ring­world und Isaac Asi­movs Foun­da­ti­on weg­ge­las­sen, die ich (neu) für mich ent­deckt habe – nächs­tes Buch der Serie kau­fen inklusive.

  • Arka­dy Mar­ti­ne, A Memo­ry Cal­led Empire – Space Ope­ra trifft auf diplo­ma­ti­sche Ver­wick­lun­gen zwi­schen einem präch­ti­gen Impe­ri­um und der neu­en Bot­schaf­te­rin einer klei­nen unab­hän­gi­gen Raumstation
  • Cory Doc­to­row, Radi­cal­i­zed – vier Kurzgeschichten/Novellen über die Über­wa­chungs­ge­sell­schaft, in der wir leben
  • Karl Schroe­der, Ste­al­ing Worlds – Aug­men­ted Rea­li­ty trifft auf Bru­no Latour, die Block­chain und eine jun­ge Frau auf der Flucht
  • L.X. Beckett, Game­ch­an­ger – sie­he oben
  • Mary Robi­net­te Kowal, The Cal­cu­la­ting Stars und The Fated Sky – Alter­na­tiv­ge­schich­te zum US-Raum­fahrt­pro­gramm, dies­mal sind Astro­nau­tin­nen dabei
  • Anna­lee Newitz, The Future of Ano­ther Time­line – eine femi­nis­ti­sche Zeit­rei­se zwi­schen Riot Grrrls und Urzeit, oder: ein Kom­men­tar zur Debat­ten­kul­tur im Netz
  • Amal El-Mohtar / Max Glad­stone, This is How You Lose the Time War – eine unwahr­schein­li­che Lie­bes­ge­schich­te zwi­schen zwei Zeit­rei­sen­den, in Briefen
  • Zen Chao, The True Queen – Nach­fol­ge­band zu Sorce­rer to the Crown, vik­to­ria­nisch-post­ko­lo­nia­le Fantasy
  • Pao­lo Baci­g­alu­pi / Tobi­as S. Buckell, The Tan­gled Lands – zwei mei­ner Lieb­lings-SF-Autoren haben sich zusam­men­ge­tan, um Fan­ta­sy zu schrei­ben: hier gibt es Magie, und Magie hat eine furcht­ba­re Nebenwirkung
  • Sue Bur­ke, Semio­sis: A novel of first cont­act – Gene­ra­tio­nen­raum­schiff trifft auf intel­li­gen­te Pflanzen
  • K. Eason, How Rory Thor­ne Des­troy­ed the Mul­ti­ver­se – das belieb­te Space-Ope­ra-Sujet der impe­ria­len Prin­zes­sin, die heim­lich eine Art Out­cast-Nin­ja ist, mal anders
  • Nne­di Oko­ra­for, LaGuar­dia – Comic über Außer­ir­di­sche, Nige­ria und die USA

Lesetipp: L.X. Beckett – Gamechanger

LXBeckett/GamechangerGanz frisch und groß­ar­tig: der gera­de bei Tor erschie­ne­ne Roman Game­ch­an­ger von L.X. Beckett.

Die­ser Roman ist die neus­te und jüngs­te Annä­he­rung der Sci­ence Fic­tion an das Pro­blem, aug­men­ted rea­li­ty – also das naht­lo­se Zusam­men­wir­ken „digi­ta­ler“, von intel­li­gen­ten Agen­ten unter­stütz­ter und „ana­lo­ger“, stoff­li­cher Welt – plau­si­bel dar­zu­stel­len. Hier gelingt das und greift neben­bei auch Fra­gen auf wie die danach, ab was für einem Alter dann eigent­lich Kin­der an einer immer vor­han­de­nen digi­ta­len Schicht teil­neh­men, die sich über alles legt. Oder auch: wie sicher­ge­stellt wird, dass sie vor­her Berück­sich­ti­gung fin­den, oder was mit denen ist, die ein Implan­tat ver­wei­gern oder bio­lo­gisch dafür nicht geeig­net sind. Oder: was pas­siert mit @jarheads, Men­schen in kaput­ten Kör­pern, die aber wei­ter am „Sen­so­ri­um“, wie die digi­ta­le Ergän­zung der Welt hier heißt, teil­neh­men? Becketts Roman spielt in einer Zukunft, in der all das selbst­ver­ständ­lich ist. Und die digi­ta­le Schicht bleibt nicht Orna­ment, son­dern ist tief in die Gesell­schaft ein­ge­wo­ben. Ein Bei­spiel dafür ist die Idee, dass strikes/strokes ver­teilt wer­den kön­nen, die eine Art Wäh­rung dar­stel­len. Oder die Art und Wei­se, wie stoff­li­che Räu­me und Games über­ein­an­der gelegt wer­den. Wie sich die Spra­che ver­än­dert hat, die Öko­no­mie – in Rich­tung einer auf­merk­sam­keits­ge­trie­be­nen gig eco­no­my mit post-kapi­ta­lis­ti­schen Cele­bri­ties; aber auch die Poli­tik (glo­ba­le direk­te Demo­kra­tie, aber mit Ein­tritts­hür­den in Form von Tuto­ri­als und Abfra­gen …) und die Medi­en in einer Über­wa­chungs­ge­sell­schaft (Cloud­sight hat da eini­ges gemein­sam mit Mal­ka Olders Infor­ma­ti­on – eine Welt­be­hör­de für Informationskontrolle).

Eine aug­men­tier­te Rea­li­tät plau­si­bel zu schil­dern, pas­siert hier nicht das ers­te Mal. Wer möch­te, kann bis zu Wil­liam Gib­sons Neu­ro­man­cer (1984) zurück­ge­hen. Bei Gib­son ist der Cyber­space vor allem durch Sepa­rie­rung gekenn­zeich­net – er muss betre­ten wer­den, dazu gibt es eine spe­zi­el­le tech­ni­sche Aus­rüs­tung, dort gel­ten ande­re Regeln. Becketts Sen­so­ri­um ist dage­gen ein Teil der Welt, an der alle – oder fast alle – Men­schen in unter­schied­li­chem Aus­maß immer teil­ha­ben. Das ist das neue dar­an. Auch in den neus­ten Büchern von Neal Ste­phen­son (Fall, or Dodge in Hell, 2019), Karl Schroe­der (Ste­al­ing Worlds, 2019) und Tom Hil­len­brand (Holo­gram­ma­ti­ca, 2018) ist aug­men­tier­te Rea­li­tät ein The­ma. Beckett packt da noch­mal eins drauf.

Oder: Wenn Sci­ence Fic­tion auch dazu da ist, gegen­wär­ti­ge Ent­wick­lun­gen zu reflek­tie­ren, dann scheint das selbst­ver­ständ­li­che Inein­an­der­flie­ßen von stoff­li­cher und digi­ta­ler Welt mit allen Kon­se­quen­zen, die sich dar­aus erge­ben, eine der Debat­ten zu sein, die jetzt geführt wer­den muss.

Das zwei­te gro­ße The­ma, mit dem sich Sci­ence Fic­tion gegen Ende der 2010er Jah­re aus­ein­an­der­setzt, ist das Ende der Welt. Die Kli­ma­kri­se und der Zusam­men­bruch der glo­ba­len Ord­nung als apo­ka­lyp­ti­scher Hin­ter­grund sind fast schon ein alter Hut, etwas Gege­be­nes. Bei Beckett heißt die­se Zeit des Zusam­men­bruchs Set­back – und sie beginnt etwa heu­te. Das Buch spielt aber etwa eine Gene­ra­ti­on spä­ter – der Zusam­men­bruch, die Zwangs­maß­nah­men wie Umsied­lun­gen, #tria­ge und Ratio­nie­run­gen sind noch in Kraft, im Vor­der­grund steht jetzt aber der Wie­der­auf­bau, die Erneue­rung der natür­li­chen Kreis­läu­fe, der har­te Kampf um Kli­ma und Sau­er­stoff. Das ist der Lebens­in­halt der Bounce­back-Gene­ra­ti­on: pro­so­zi­al, anpa­ckend, akti­vis­tisch, opti­mis­tisch und höf­lich. Selbst auf der Bar­ri­ka­de wer­den noch die Oran­gen­scha­len fein säu­ber­lich getrennt gesam­melt, um sie wie­der dem Kreis­lauf zuzu­füh­ren. Zur Schau gestell­ter Kon­sum ist ekel­haft. Oder in den Wor­ten der Haupt­per­son, Rubi Whiting: „Row, row, row, ever­yo­ne. All we have is us.“

Wer wach ist, nimmt genau die­sen Geist heu­te wahr. Selbst­ver­ständ­lich ist Sci­ence Fic­tion immer Gegen­warts­li­te­ra­tur – und ja, viel­leicht brau­chen wir, ganz ohne außer­ir­di­sche Bedro­hung und vor Zwangs­um­sied­lun­gen („Ver­dich­tung“) und Ratio­nie­run­gen etwas davon. Fri­days for Future, anyone?

Lite­ra­tur hat dabei Frei­hei­ten – eine gewis­se Her­aus­for­de­rung für mei­ne sus­pen­si­on of dis­be­lief stellt die Tat­sa­che dar, dass der Roman in einer Welt der Knapp­heit spielt, dass aber gleich­zei­tig jede Men­gen Droh­nen, Ser­ver und High-Tech-Din­ge zum Ein­satz kom­men. Im Buch selbst gibt es dafür zwei Erklä­run­gen: das Sen­so­ri­um ist auch ein Ort, an dem Men­schen Spaß haben kön­nen und Din­ge erle­ben, ohne dafür Res­sour­cen etwa in Form von Rei­sen zu ver­brau­chen; und die High-Tech, etwa in Form von Nah­rungs­wür­feln oder sich selbst kon­fi­gu­rie­ren­dem Nano­ma­te­ri­al, das als Klei­dung dient, ist letzt­lich res­sour­cen­scho­nen­der als die hand­ge­mach­te Alter­na­ti­ve, die als Luxus­gut gilt.

Neben­bei ist Game­ch­an­ger ein Buch über zer­brech­li­che Per­so­nen, die jeweils mit ihren eige­nen Dämo­nen kämp­fen. Und auch das trägt dazu bei, dass ich Becketts Buch am liebs­ten am Stück gele­sen hätte.

Leseempfehlungen für den Sommer

Dass ich in den letz­ten Tagen kaum dazu gekom­men bin, mich um die­ses Blog zu küm­mern, hat auch etwas damit zu tun, dass ich eini­ge SF-Neu­erschei­nun­gen ver­schlun­gen habe. Die Art Bücher, bei denen am Ende Trau­rig­keit ein­setzt, weil das Buch zu Ende ist, und die Geschich­te doch eigent­lich noch wei­ter gehen könn­te. Falls also noch jemand was zum Lesen für den Som­mer sucht, ist hier viel­leicht etwas dabei.

Beson­ders emp­feh­len möch­te ich Semio­sis von Sue Bur­ke. Auf den ers­ten Blick ist das eine die­ser Geschich­ten von einem Gene­ra­tio­nen­raum­schiff, das auf einem Pla­ne­ten lan­det, um eine neue Kolo­nie zu grün­den. (Dass es von die­ser Sor­te Geschich­ten in den letz­ten Jah­ren eini­ge gab, mag mir nur so vor­kom­men. Viel­leicht hat es aber auch was mit dem Wunsch, die­sem Pla­ne­ten zu ent­kom­men, zu tun). Inter­es­sant wird die­ses Buch des­we­gen, weil wir – über meh­re­re Gene­ra­tio­nen hin­weg – der idea­lis­tisch gepräg­ten Kolo­nie dabei zuschau­en, wie sie zum einen ihre ganz eige­nen Regeln ent­wi­ckelt, für jede Gene­ra­ti­on immer wie­der neu. Zum ande­ren wird nach und nach klar, dass intel­li­gen­tes Leben in Pflan­zen­form durch­aus aggres­siv sein kann. Aber eben auch lern­fä­hig. Und nach und nach wach­sen einem die ganz unter­schied­li­chen Per­sön­lich­kei­ten ans Herz. 

Ein biss­chen ähn­lich hin­sicht­lich des Ein­füh­lens in wirk­lich frem­de Intel­li­gen­zen ist Child­ren of Ruin von Adri­an Tchai­kovs­ky, eine Art Par­al­lel­quel zu sei­nen Child­ren of Time. Die damals noch sehr fremd­ar­ti­gen intel­li­gen­ten Spin­nen sind uns jetzt nah – aber was pas­siert, wenn Tin­ten­fi­sche ganz getrennt und ver­teilt begin­nen, zu den­ken, und unter­be­wusst Raum­fahrt zu betreiben?

Genug der Gene­ra­tio­nen­raum­schif­fe und frem­den Lebens­for­men. Ein ande­rer Trend sind Deep-Tech-Dys­to­pien, irgend­wie das Cyber­punk der 2020er Jah­re. Neben Cory Doc­to­rows Wal­ka­way (und sei­ner Novel­len-Samm­lung Radi­cal­i­zed) passt auch das gera­de erschie­ne­ne Ste­al­ing Worlds von Karl Schroe­der gut zu die­sem Trend. Nach Trump und Kli­ma­kri­se sind die USA ein ver­trau­ens­lo­ses Land am Abgrund. Dafür gibt es über­all Sen­so­ren und Über­wa­chungs­tech­nik. Das scheint gutes zu haben, wenn es etwa um eine glo­ba­le Block­chain zur Über­wa­chung von Umwelt­pro­ble­men geht, führt aber auch dazu, dass es gar nicht so ein­fach ist, unter­zu­tau­chen. Aug­men­ted Rea­li­ty a la Goog­le Glass ist weit ver­brei­tet, und letzt­lich ist es eben­so ein Spiel, den Über­wa­chungs­ka­me­ras aus­zu­wei­chen, wie es ein Spiel ist, zer­fal­le­ne Häu­ser wie­der auf­zu­bau­en. Oder steckt mehr dahinter?

(Etwas weni­ger Deep-Tech, aber auch near future in einer sehr glo­ba­len und diver­sen Welt: Eliza­beth Bears Novel­le In the House of Arya­man, a Lonely Signal Burns, eine Art Detektivgeschichte.)

Schon etwas älter und nicht so glaub­wür­dig, aber nichts­des­to­trotz span­nend zu lesen, ist ein ande­res Unter­gangs­sze­na­rio für die USA. In Robert Charles Wil­sons Juli­an Com­stock. A Sto­ry of the 22nd Cen­tu­ry lan­den wir in einem Land, das sich mehr nach 19. Jahr­hun­dert als nach Zukunft anfühlt, mit Feu­dal­her­ren und einer strik­ten Klas­sen­ge­sell­schaft, einer gera­de eben begin­nen­den Wie­der­ent­de­ckung der Indus­tria­li­sie­rung (im Post-Öl-Zeit­al­ter), einer alles domi­nie­ren­den Kir­che und radi­ka­len Intel­lek­tu­el­len und Bohe­mi­ans … Wie gesagt, beson­ders glaub­wür­dig fin­de ich den völ­li­gen tech­no­lo­gi­schen Ver­fall nicht, aber inter­es­sant ist das allemal.

Ach ja, indus­tri­el­le Fan­ta­sy: Micha­el Swan­wick beschreibt in The Iron Dragon’s Mother Faery nach der Indus­tri­al Revo­lu­ti­on, aus der Sicht einer Dra­chen­pi­lo­tin, die nach ihrem ers­ten Flug uneh­ren­haft ent­las­sen wer­den soll – und auf der Flucht ganz unter­schied­li­chen Geschich­ten und Gestal­ten begegnet. 

Last but not least habe ich Kame­ron Hur­ley für mich ent­deckt. Ihre Light Bri­ga­de spinnt aus­ge­hend von Bea­men-als-Waf­fe eine Nicht-ganz-Mili­ta­ry-SF; viel­leicht ist’s auch ein Kom­men­tar zu Hein­leins Star­ship Tro­o­pers. Fas­zi­nie­ren­der fand ich The Stars Are Legi­on, eine sehr eige­ne Geschich­te über bio­tech­no­lo­gi­sche Raum­schiff­wel­ten, Gebär­fä­hig­keit und Machtspiele.