Experiment Minderheitsregierung

Rot-grün-rot: abge­sagt. Schwarz-rot: auf Eis gelegt. Die Ampel: aus. 

Viel­leicht kommt es in Nord­rhein-West­fa­len jetzt doch noch zu einer Min­der­hei­ten­re­gie­rung. „Tech­nisch“ wäre das ohne wei­te­res mög­lich. In der Lan­des­ver­fas­sung steht dazu unter Arti­kel 52 zur Wahl „des Minis­ter­prä­si­den­ten“ (bzw. eben der Minis­ter­prä­si­den­tin) folgendes:

Arti­kel 52

(1) Der Land­tag wählt aus sei­ner Mit­te in gehei­mer Wahl ohne Aus­spra­che den Minis­ter­prä­si­den­ten mit mehr als der Hälf­te der gesetz­li­chen Zahl sei­ner Mitglieder.

(2) Kommt eine Wahl gemäß Absatz 1 nicht zustan­de, so fin­det inner­halb von 14 Tagen ein zwei­ter, gege­be­nen­falls ein drit­ter Wahl­gang statt, in dem der gewählt ist, der mehr als die Hälf­te der abge­ge­be­nen Stim­men erhält. Ergibt sich kei­ne sol­che Mehr­heit, so fin­det eine Stich­wahl zwi­schen den bei­den Vor­ge­schla­ge­nen statt, die die höchs­te Stim­men­zahl erhal­ten haben.

(3) Der Minis­ter­prä­si­dent ernennt und ent­läßt die Minis­ter. Er beauf­tragt ein Mit­glied der Lan­des­re­gie­rung mit sei­ner Ver­tre­tung und zeigt sei­ne Ent­schei­dun­gen unver­züg­lich dem Land­tag an. 

Sprich: um eine Regie­rung zu bil­den, braucht Han­ne­lo­re Kraft ent­we­der im ers­ten Wahl­gang eine abso­lu­te Mehr­heit der Abge­ord­ne­ten (d.h. SPD, Grü­ne und LINKE müss­ten zusam­men stim­men), oder, wenn die LINKE kei­ne Lust dazu hat, im zwei­ten Wahl­gang eine Mehr­heit der abge­ge­be­nen Stim­men (SPD, Grü­ne für Kraft, CDU, FDP dage­gen, LINKE ver­lässt den Saal). Oder: im zwei­ten und drit­ten Wahl­gang gibt es kei­ne ein­fa­che Mehr­heit (weder für Kraft noch für Rütt­gers), dann kommt es zur Stich­wahl zwi­schen Kraft und Rütt­gers – und hier reicht dann die höchs­te Stim­men­zahl, also die ein­fa­che Mehr­heit (SPD+Grüne für Kraft > CDU+FDP für Rütt­gers, ganz egal, was die LINKE macht).

Es wäre also geset­zes­tech­nisch ohne wei­te­res – aller­dings mög­li­cher­wei­se erst im vier­ten Wahl­gang – mach­bar, dass Han­ne­lo­re Kraft Minis­ter­prä­si­den­tin von NRW wird. Auch wenn sie eine Min­der­hei­ten­re­gie­rung bis­her aus­ge­schlos­sen hat. Prak­tisch not­wen­dig dafür wäre natür­lich zumin­dest eine rot-grü­ne Ver­ein­ba­rung über gemein­sa­me Zie­le und auch über das Personal.

Die Minis­te­rIn­nen wer­den von der Minis­ter­prä­si­den­tin ernannt (s.o.) – hier wäre also kei­ne wei­te­re Abstim­mung not­wen­dig. Rele­vant wird die abso­lu­te Mehr­heit im Par­la­ment dann erst wie­der, wenn es dar­um geht, im Land­tag über Geset­ze zu entscheiden:

Arti­kel 44

(1) Der Land­tag ist beschluß­fä­hig, wenn mehr als die Hälf­te der gesetz­li­chen Mit­glie­der­zahl anwe­send ist.

(2) Der Land­tag faßt sei­ne Beschlüs­se mit Stimmenmehrheit. 

Der Begriff „Stim­men­mehr­heit“ ist nun nicht ganz klar – die Geschäfts­ord­nung des Land­tags präzisiert:

§ 42 (4) Die Mehr­heit der abge­ge­be­nen Stim­men ent­schei­det. Stimm­ent­hal­tun­gen und ungül­ti­ge Stim­men zäh­len nicht mit. 

Stim­men­mehr­heit heißt hier also, dass es für einen Antrag mehr Ja-Stim­men als Nein-Stim­men gege­ben haben muss – Rot-grün hat also solan­ge eine Mehr­heit, solan­ge min­des­tens eine zwei Abge­ord­ne­te oder ein Abge­ord­ne­ter einer der ande­ren Frak­tio­nen sich ent­hält ent­hal­ten [Nach­trag: klei­ner Rechen­feh­ler mei­ner­seits: 91–1=90, damit wäre Stim­men­gleich­heit gege­ben, aber kei­ne Mehr­heit, erst bei 91–2=89 zu 90 wäre dann die Stim­men­mehr­heit für rot-grün da]. Noch bes­ser wäre es natür­lich, wenn min­des­tens eine Per­son aus einer ande­ren Frak­ti­on zustimmt. [Hier stimmt die Rech­nung: 90+1=90 > 91–1=90] Klingt nach har­ter Arbeit, scheint mir aber nicht unmög­lich zu sein.

Zudem kennt NRW nur ein kon­struk­ti­ves Miss­trau­ens­vo­tum. In der Ver­fas­sung heißt es:

Arti­kel 61

(1) Der Land­tag kann dem Minis­ter­prä­si­den­ten das Miß­trau­en nur dadurch aus­spre­chen, daß er mit der Mehr­heit der abge­ge­be­nen Stim­men einen Nach­fol­ger wählt.

(2) Zwi­schen dem Antrag auf Abbe­ru­fung und der Wahl müs­sen min­des­tens acht­und­vier­zig Stun­den liegen. 

D.h.,. CDU, FDP und LINKE müss­ten sich auf eine gemein­sa­me Kan­di­da­tin eini­gen, um eine Minis­ter­prä­si­den­tin Kraft abzu­wäh­len. Klingt eher unwahrscheinlich.

Ein­zi­ges grö­ße­res Hin­der­nis: das Selbst­auf­lö­sungs­recht des Land­tags. Wenn CDU, FDP und LINKE sich alle – bis zur letz­ten Frau und bis zum letz­ten Mann – einig sind, dass sie den Land­tag auf­lö­sen wol­len, hät­ten sie die Mehr­heit dazu:

Arti­kel 35

(1) Der Land­tag kann sich durch eige­nen Beschluß auf­lö­sen. Hier­zu bedarf es der Zustim­mung der Mehr­heit der gesetz­li­chen Mitgliederzahl.

(2) Der Land­tag kann auch gemäß Arti­kel 68 Abs. 3* auf­ge­löst werden.

(3) Nach der Auf­lö­sung des Land­tags muß die Neu­wahl bin­nen sech­zig Tagen stattfinden. 

Dazu müss­te aber die Moti­va­ti­on da sein, nach einer Neu­wahl bes­ser als vor­her dazu­ste­hen. Inso­fern hal­te ich die­sen Fall auch nicht unbe­dingt für sehr wahrscheinlich.

War­um blog­ge ich das? Weil ich es begrü­ßen wür­de, wenn SPD und Grü­ne in NRW sich auf das Expe­ri­ment Min­der­heits­re­gie­rung ein­las­sen wür­den, statt so lan­ge zu wäh­len, bis irgend­wer eine abso­lu­te Mehr­heit hat – oder eine unnö­ti­ge gro­ße Koali­ti­on einzugehen.

* Dabei geht es dar­um, dass der Land­tag auf­ge­löst wer­den muss, wenn die Lan­des­re­gie­rung ein vom Land­tag abge­lehn­tes Gesetz per Volks­ent­scheid durchsetzt.

Kurz: Mai der Rücktritte

Nach Mixa (im April) und Koch hat heu­te Bun­des­prä­si­dent Köh­ler sei­nen Rück­tritt erklärt – letzt­lich auf­grund sei­ner Äuße­rung in Afgha­ni­stan zu Kriegs­ein­sät­zen der Bun­des­wehr zum Schutz wirt­schaft­li­cher Inter­es­sen. Auch wenn ich die Begrün­dung selt­sam fin­de – er begrün­det sei­nen Rück­tritt laut tagesschau.de damit, dass die öffent­lich­te Debat­te der Wür­de des Amtes nicht gerecht wür­de -, so emp­fin­de ich sei­nen Schritt zwar als über­ra­schend und uner­war­tet, aber als rich­tig. Und habe Respekt dafür, gera­de auch des­halb, weil die­ser Schritt (anders als die öffent­li­che Debat­te, die ich nicht als ehren­rüh­rig emp­fin­de) dem Amt nur gut­tun kann. 

Die span­nen­de Fra­ge ist natür­lich: was pas­siert jetzt? Die Bun­des­ver­samm­lung (die zur Hälf­te aus dem Bun­des­tag und zur Hälf­te aus Men­schen besteht, die von den Län­dern ent­sandt wer­den) muss inner­halb von 30 Tagen eine Nach­fol­ge­rin oder einen Nach­fol­ger wäh­len. Wähl­bar ist jede® „Deut­sche, der das Wahl­recht zum Bun­des­ta­ge besitzt und das vier­zigs­te Lebens­jahr voll­endet hat“ – auf fünf Jahre.

Vol­ker Beck zufol­ge hat schwarz-gelb der­zeit in der Bun­des­ver­samm­lung eine Mehr­heit von 23 Stim­men. Inso­fern könn­te es sein, dass das gan­ze ein tak­ti­sches Spiel ist, um – vor den Wah­len im März 2011 – einen oder eine wei­te­re schwarz-gel­be Bun­des­prä­si­den­tIn sicher­zu­stel­len. Ich glau­be nicht, dass es dazu kommt – aber irgend­wie läge jetzt ja eine Rocha­de nahe, bei der Mer­kel Bun­des­prä­si­den­tin wird und einer der (ehe­ma­li­gen) CDU-Minis­ter­prä­si­den­ten Kanz­ler. Oder soll für einen der (ehe­ma­li­gen) CDU-Minis­ter­prä­si­den­ten Platz auf dem Ses­sel des Staats­ober­haupts gemacht wer­den? Das wür­de der Wür­de des Amtes dann doch wider­spre­chen. Mora­lisch gese­hen ist schwarz-gelb am Ende – ob sich das auch in der Wahl zeigt, wer­den wir in 30 Tagen wissen.