Zeit des Virus, Update I

Vor einer Woche schrieb ich über die Not­wen­dig­keit von Maß­nah­men, um die Aus­brei­tung des Coro­na-Virus ein­zu­däm­men. Im Lauf die­ser Woche ist eini­ges pas­siert – inzwi­schen gibt es in Frei­burg de fac­to Aus­gangs­sper­ren, das Betre­ten öffent­li­cher Stra­ßen und Plät­ze ist nur noch in begrün­de­ten Fäl­len bzw. durch Grup­pen von maxi­mal drei Per­so­nen oder Fami­li­en erlaubt, der ÖPNV darf nur für drin­gend not­wen­di­ge Fahr­ten genutzt wer­den. In Baden-Würt­tem­berg sind nach drei Rechts­ver­ord­nun­gen und Anspra­chen des Minis­ter­prä­si­den­ten und der Kanz­le­rin Schu­len und Kitas sind zu, die Spiel­plät­ze abgesperrt. 

Bis auf den Ein­zel­han­del für Lebens­mit­tel und Apo­the­ken (und ein paar wei­te­re Aus­nah­men) muss­ten alle Geschäf­te schlie­ßen, Restau­rants dür­fen nur noch Essen „to go“ ver­kau­fen. Zudem ist es heu­te, anders als es die Woche über war, kalt und reg­ne­risch. All das trägt dazu bei, dass sich jetzt wirk­lich nur noch sehr weni­ge Men­schen drau­ßen bewe­gen. Die Fall­zah­len stei­gen zunächst noch expo­nen­ti­ell an. Der­weil tobt der wis­sen­schaft­li­che Streit dar­über, ob #flat­ten­the­cur­ve die rich­ti­ge Stra­te­gie ist, und wenn ja, wie lan­ge die strik­ten Beschrän­kun­gen des öffent­li­chen Lebens dau­ern müs­sen – abseh­bar ist, dass es auch über das Ende der Oster­fe­ri­en hin­aus Ein­schrän­kun­gen geben muss. Schul­prak­ti­ka und die Eng­land­fahrt der Toch­ter wur­den jeden­falls schon abgesagt.

Was neh­me ich nun aus die­ser beweg­ten Woche mit? 

Bis­her war Home-Office der Aus­nah­me­fall, jetzt wird es zur Regel. Nur noch ein ganz rudi­men­tä­rer Stab ist in der Frak­ti­on, alle ande­ren Kolleg*innen arbei­ten von zu Hau­se aus. Ent­spre­chend fan­den in die­ser Woche dut­zen­de Tele­fon- und Video­kon­fe­ren­zen statt (hier zahlt sich halb­wegs gute Tech­nik und Stumm­schalt­dis­zi­plin aus). Die Berater*innen-Runde mit rund 20 Leu­ten funk­tio­niert gut als Video­kon­fe­renz, bei der Frak­ti­ons­sit­zung mit alles in allem 80 oder 90 Per­so­nen wird’s schon etwas schwie­ri­ger, aber auch das geht. Gelernt habe ich aber auch: nicht jede Kom­mu­ni­ka­ti­on braucht gleich eine Video­kon­fe­renz, manch­mal reicht die gute alte E‑Mail.

Was weni­ger gut funk­tio­niert, ist die Kom­bi­na­ti­on aus Home-Office und Kin­der­zu­stän­dig­keit. Ich habe den Luxus, dass das bei mir nur die hal­be Woche der Fall ist. Die Kin­der haben von der Schu­le Auf­ga­ben­pa­ke­te und Arbeits­blät­ter mit­ge­bracht, die sie erle­di­gen sol­len. In der Theo­rie kön­nen sie das auch, schon in der Grund­schu­le haben sie Frei­ar­beit gelernt, jetzt, in der wei­ter­füh­ren­den Schu­le, geht viel über Arbeits­plä­ne und indi­vi­du­el­les Ler­nen. In der Pra­xis ist ihre Moti­va­ti­on dafür aber gering, so in hal­ber selt­sa­mer Feri­en­stim­mung – alle Akti­vi­tä­ten fal­len aus – und ohne Mög­lich­keit, raus zu gehen, um Freun­de zu tref­fen, sind Han­dy und Tablet extrem ver­lo­ckend. Kin­der moti­vie­ren oder kon­zen­triert arbei­ten – das geht nicht bei­des auf ein­mal. Mal sehen, wie sich das wei­ter ein­spielt. (Und ja: nicht nur ich, son­dern auch die Kin­der wol­len Früh­stück und Mit­tag­essen und Abend­essen und und und … auch das muss erle­digt wer­den). Also: alles nicht so ein­fach. Und ein Mehr an Zeit für „end­lich mal …“ fin­de ich zumin­dest nicht.

Raus gehen, um ein­zu­kau­fen fühlt sich selt­sam an. Über­haupt, raus gehen – oder lie­ber selbst dafür nicht? Selt­sam fühlt sich’s an, weil der Laden vol­ler Hin­wei­se hängt, doch bit­te Abstand zu hal­ten, und weil bei­spiels­wei­se der Kaf­fee­aus­schank abge­stellt wur­de, und auch, weil selbst im Bio­la­den eini­ge Rega­le leer sind. Neben dem sprich­wört­li­chen Klo­pa­pier geht’s da um basa­le Din­ge – Mehl, Nudeln, Zwie­beln, Hefe, Brot … Beglei­tet wird der Ein­kauf von Unsi­cher­heit: Lie­ber abge­pack­te Pro­duk­te kau­fen? Wie viel ein­zu­kau­fen ist sozi­al ange­mes­sen? Wo lau­ert das Virus?

Nicht zuletzt: bedrü­cken­de Nach­rich­ten aus dem Elsass und aus Ita­li­en. Und der sor­gen­vol­le Blick auf die Ver­laufs­kur­ve der Fälle. 

Zeit des Virus

White and blue V

Wun­der­ba­res Früh­lings­wet­ter. Aber alles ist anders als normalerweise. 

Noch sind nur die gro­ßen Ver­an­stal­tun­gen behörd­lich ver­bo­ten. Aber es scheint mir nur eine Fra­ge von Tagen zu sein, bis auch in Deutsch­land dras­ti­sche Maß­nah­men ergrif­fen wer­den, um die Aus­brei­tung des Coro­na­vi­rus zu ver­lang­sa­men. Schul­schlie­ßun­gen, Besuchs­ver­bo­te in Kran­ken­häu­sern und Alten­hei­men, Schlie­ßun­gen von Cafes und Knei­pen. Grenz­schlie­ßun­gen und Ein­schrän­kun­gen der Rei­se- und Bewegungsfreiheit.

Das klingt dras­tisch, und das ist dras­tisch – aber es ist das, was Stand der Wis­sen­schaft ist, um tau­sen­de Tote zu ver­mei­den. Hören wir auf die Wissenschaft!

Das Coro­na­vi­rus ist zwar nur für einen klei­nen Teil der Ange­steck­ten töd­lich – aber es brei­tet sich aus. Und weil jede ange­steck­te Per­son im Schnitt zwei bis vier wei­te­re Per­so­nen ansteckt, brei­tet es sich nach einer expo­nen­ti­el­len Logik aus: inner­halb weni­ger Tage ver­dop­peln sich die Fall­zah­len. Das war in Wuhan so, das ist in Ita­li­en so, und das ist nach allem, was die Zah­len her­ge­ben, auch in Deutsch­land so. Expo­nen­ti­al­kur­ven pas­sen nicht zu unse­rem All­tags­ver­ständ­nis. Sie sind nicht intui­tiv – aber das ändert nichts an ihrer Gefähr­lich­keit. (Wer es nach­le­sen will: die Süd­deut­sche hat das her­vor­ra­gend aufbereitet). 

Um die Aus­brei­tung des Virus zu ver­lang­sa­men, um die Kur­ven so abzu­fla­chen, dass das Gesund­heits­sys­tem mit der Zahl schwe­rer Fäl­le zurecht kommt, ist es des­we­gen jetzt rich­tig, sozia­le Kon­tak­te zu mini­mie­ren. Egal, was das für jede und jeden von uns an Ein­schnit­ten bedeu­tet. #flat­ten­the­cur­ve

Des­we­gen habe ich über­haupt kein Ver­ständ­nis für die­je­ni­gen, die damit argu­men­tie­ren, dass das ja auch nur eine Art Grip­pe sei, oder die spitz­fin­dig Regeln unter­lau­fen und bei­spiels­wei­se bei einem Ver­an­stal­tungs­ver­bot ab 1000 Per­so­nen halt nur 999 rein­las­sen. Ich kann mir da nur an den Kopf fas­sen – Moment, auch das lie­ber nicht – weil 1000 natür­lich kei­ne magi­sche Gren­ze ist, unter­halb der das Virus sei­ne Anste­ckungs­ge­fahr ver­liert, son­dern eine tech­ni­sche Zahl. Ja, es geht auch um Ein­nah­me­aus­fäl­le und wirt­schaft­li­che Schä­den – bis hin zur Exis­tenz­be­dro­hung für bei­spiels­wei­se Künstler*innen und Messebauer*innen – und dafür braucht es Lösun­gen. Das Unter­lau­fen von Regeln kann aber kei­ne sol­che Lösung sein. Wer ver­nünf­tig ist, sagt ab, und macht zu.

Frei­burg ist eine ver­netz­te Stadt – das Elsass und die Schweiz sind eng mit uns ver­floch­ten. Jetzt ist das Elsass Risi­ko­ge­biet – aus­ge­hend von einem Tref­fen einer Frei­kir­che brei­tet sich das Virus mas­siv aus. Pendler*innen aus dem Elsass sol­len nicht mehr nach Süd­ba­den kom­men, Kin­der nicht mehr hier zur Schu­le gehen. Das sind har­te Ein­schnit­te in unse­re geleb­te euro­päi­sche Nor­ma­li­tät. (Und selbst im Klei­nen bemerk­bar – bei­spiels­wei­se kommt ein Teil des Gemü­ses im loka­len Bio­la­den von elsäs­si­schen Bau­ern­hö­fen – und ist aktu­ell nicht lieferbar.)

Ich arbei­te ganz regu­lär schon jetzt etwa die Hälf­te der Woche im Home-Office. Das hat eine gan­ze Men­ge Nach­tei­le, und ich freue mich über den direk­ten Aus­tausch mit Kolleg*innen, an den Tagen, an denen ich in Stutt­gart bin. Eigent­lich war mein März-Kalen­der voll – neben den Arbeits­ter­mi­nen in Stutt­gart gab es auch noch eine gan­ze Rei­he Par­tei­ter­mi­ne. Als Frak­ti­on woll­ten wir am Mon­tag unser vier­zig­jäh­ri­ges Jubi­lä­um fei­ern. Das haben wir schon vor zwei Wochen in den Juni ver­scho­ben. Damals haben noch eini­ge gelä­chelt oder gemeint, das sei doch eine Über­re­ak­ti­on. Jetzt mache ich mir Sor­gen, ob der Juni-Ter­min nicht noch zu früh ist. Par­tei-Arbeits­grup­pen zum Wahl­pro­gramm wer­den jetzt als Tele­fon­kon­fe­ren­zen statt­fin­den – über­haupt: Tele­fon- und teil­wei­se Video­kon­fe­ren­zen sind plötz­lich das Mit­tel der Wahl. Per­fekt läuft das noch nicht, aber als Pro­vi­so­ri­um kann eine Vor­stands- oder Arbeits­kreis­sit­zung auch in sol­chen For­ma­ten statt­fin­den. Und zum Glück sind wir über­wie­gend mit mobi­len Gerä­ten aus­ge­stat­tet, zum Glück gibt es die not­wen­di­ge Tech­nik im Landtagssystem. 

Im Umkehr­schluss kommt mir jetzt schon jede Fahrt nach Stutt­gart der­zeit wie ein ris­kan­tes Aben­teu­er vor – ohne Auto und ohne Füh­rer­schein bin ich auf den öffent­li­chen Ver­kehr ange­wie­sen. Inso­fern: ger­ne Home-Office, ger­ne Tele­fon- und Videokonferenzen.

Mal sehen, wie das wird, wenn dazu Schul­schlie­ßun­gen kom­men – ich befürch­te, das mir und mei­nen Kin­dern mei­ne klei­ne Woh­nung da bald sehr eng vor­kom­men wird. 

Als Frak­ti­on durf­ten wir jetzt bereits zwei­mal den Ernst­fall pro­ben – schon vor eini­gen Tagen gab es den ers­ten Ver­dachts­fall, der letzt­lich nega­tiv getes­tet wur­de. Trotz­dem lös­te das erst ein­mal eine Wel­le an Maß­nah­men aus, vor­sorg­li­cher­wei­se auch über die Emp­feh­lun­gen des Gesund­heits­am­tes hin­aus­ge­hend – Home-Office für alle. Was ist mit Part­nern und Part­ne­rin­nen, Kin­dern – sol­len die zur Schu­le gehen? -, ande­ren Men­schen, die ich getrof­fen habe? Wür­den die Vor­rä­te rei­chen, wenn aus der vor­sorg­li­chen Selbst­iso­la­ti­on eine ech­te Qua­ran­tä­ne wird? Ges­tern gab es dann erneut einen – zum Glück wie­der­um letzt­lich nega­ti­ven – Ver­dachts­fall. Ein Abge­ord­ne­ter hat­te Kon­takt zu einer posi­tiv getes­te­ten Per­son und zeig­te Erkäl­tungs­sym­pto­me – und war bei der gro­ßen Frak­ti­ons­sit­zung dabei. Das hat­te Fol­gen – unter ande­rem nahm der Minis­ter­prä­si­dent nicht an der gest­ri­gen Minis­ter­prä­si­den­ten­kon­fe­renz teil, die gesam­te Frak­ti­on blieb vor­sorg­lich der Land­tags­sit­zung fern, nach­dem ein Ver­such, die­se zu ver­ta­gen, an der Oppo­si­ti­on geschei­tert war. Und eben für alle Abge­ord­ne­ten und Mitarbeiter*innen wie­der die Fra­ge, wie sie das indi­vi­du­el­le Risi­ko ein­schät­zen, wie vor­sorg­lich sie wei­te­re Kon­takt­per­so­nen infor­mie­ren oder nicht. 

Das waren Pro­be­läu­fe. Poli­tik ist heu­te zu gro­ßen Tei­len ein Prä­senz­ge­schäft. Sit­zun­gen sind prä­senz­pflich­tig, und der All­tag von Politiker*innen besteht oft genug dar­aus, Hän­de zu schüt­teln und von Ver­an­stal­tung zu Ver­an­stal­tung zu gehen. Wie funk­tio­niert das, wenn social distancing ange­sagt ist (und Tests auf das Virus noch immer ein paar Stun­den brau­chen)? Ist es ver­ant­wort­lich, Hand­lungs­fä­hig­keit bewei­sen zu wol­len und Land­tags- und Aus­schuss­sit­zun­gen statt­fin­den zu las­sen, oder müs­sen auch die­se abge­sagt oder durch ande­re For­ma­te ersetzt wer­den? Ist das ein Fall für die Ein­be­ru­fung des Not­par­la­ments, oder braucht es so etwas wie Online-Abstim­mun­gen für die Parlamente?

Wir sind mit­ten in einer kri­sen­haf­ten Situa­ti­on. Es geht jetzt dar­um, die Aus­brei­tung des Virus zu ver­lang­sa­men und ein­zu­däm­men. Das wird schwierig.

Irgend­wann wird eine Zeit nach dem Virus da sein. Wenn die Ein­däm­mung gelun­gen ist. Wenn es einen Impf­stoff gibt. Es ist jetzt zu früh, Aus­sa­gen über die­se Zeit zu tref­fen. Mein Gefühl ist aber, dass es vie­les gibt, was wir jetzt ler­nen kön­nen. Dar­über, was wirk­lich wich­tig und was nice to have ist, aber auch dar­über, wo wir – im Gesund­heits­sys­tem, bei der digi­ta­len Infra­struk­tur, mög­li­cher­wei­se auch im Hin­blick auf die Ein­he­gung der Fol­gen glo­ba­ler Ver­net­zung – bes­ser auf­ge­stellt sein könn­ten. Mög­li­cher­wei­se wird die Zeit des Virus zu einem Kata­ly­sa­tor für Online-Lear­ning und Digi­ta­li­sie­rung, aber auch für ein robus­te­res, wider­stands­fä­hi­ge­res und soli­da­ri­sches Gemein­we­sen. Und letz­te­res ist etwas, das auch im Hin­blick auf die ande­re gro­ße Kri­se, die gera­de etwas in den Hin­ter­grund rückt, näm­lich den Kli­ma­kri­se, drin­gend not­wen­dig ist.