Pass auf, was du dir wünscht. Politische Netzkommunikation und die Verteidigung der Gegenöffentlichkeit

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Pass auf, was du dir wünscht. Neben diver­sen direkt­de­mo­kra­ti­schen Uto­pien des Alle-stim­men-jeder­zeit-über-alles-ab gehör­te zu den Pro­jek­tio­nen, die Ende der 1990er Jah­re auf das damals frisch aus dem Ei geschlüpf­te „World Wide Web“ gewor­fen wur­den, auch die Idee, dass es sich hier­bei um das ers­te demo­kra­ti­sche Mas­sen­me­di­um han­deln könnte. 

Jede und jeder wür­de sei­ne eige­ne Sei­te ins Netz stel­len kön­nen. Es wür­de direk­te, nie­der­schwel­li­ge Rück­ka­nä­le geben, so dass eine Kom­mu­ni­ka­ti­on ohne insti­tu­tio­nel­le Hür­den mög­lich wäre. Jour­na­lis­ti­sche Gate­kee­per wür­den ihren Job ver­lie­ren, weil sie in Zei­ten der direk­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on nicht mehr gebraucht wür­den. Die Zei­tung wür­de täg­lich per­so­na­li­siert aus­ge­lie­fert wer­den. Idea­ler­wei­se wür­de alles direkt kom­men­tier­bar wer­den, jede Web­site zum Ort des gesell­schaft­li­chen Dis­kur­ses wer­den. Und selbst­ver­ständ­lich wür­de nur noch die Kraft der Argu­men­te ohne Anse­hen der Per­son zäh­len. Schließ­lich wäre alles sofort über­prüf­bar. Vor­ur­tei­le wür­den in der text­ba­sier­ten Kom­mu­ni­ka­ti­on ausgeblendet. 

So wur­de das „damals“ gedacht.

Es kam genau­so, und doch anders, und wahr­schein­lich hät­ten schon die Fla­me­wars und Dis­kus­si­ons­kul­tu­ren im Use­net, in Chat­rooms und in Mail­box­fo­ren als Vor­zei­chen dafür gese­hen wer­den müs­sen. Trol­le, Fla­mes, anony­me Belei­di­gun­gen und hate speech, ja selbst Dis­kus­sio­nen dar­über, wie mit „Bots“ umzu­ge­hen ist – all das sind kei­ne neu­en Phä­no­me­ne, son­dern Stan­dard­mo­ti­ve der Netzethnographie.

Für die jün­ge­ren Leser*innen: vor dem World Wide Web fand Netz­kom­mu­ni­ka­ti­on zu einem gro­ßen Teil im Use­net (und ähn­lich in Mail­box­sys­te­men) statt, einer Rei­he per Mail bedien­ba­rer, the­ma­tisch sor­tier­ter Dis­kus­si­ons­fo­ren. Für die his­to­risch Inter­es­sier­ten bie­tet das WZB-Pro­jekt Kul­tur­raum Inter­net hier eine Viel­zahl von Fund­stel­len aus einer längst ver­gra­be­nen Vergangenheit.

Und heu­te?

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Gelesen: Fifty Shades of Merkel

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Die Ex-Poli­ti­ke­rin (Pira­ten) und Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Julia Schramm schreibt über – Ange­la Mer­kel. Das Ergeb­nis ist mehr Blog auf Papier als klas­si­sches Buch. Genau­er gesagt nähert sich Schramm dem Phä­no­men Mer­kel in Fif­ty Shades of Mer­kel (Hoff­mann & Cam­pe, 2016) in fünf­zig Vignet­ten an. Die behan­deln so dis­pa­ra­te The­men wie „Ucker­mark“, „Anden­pakt“, „Par­tei“, „Reli­gi­ons­un­ter­richt“, „Pflau­men­ku­chen“ oder „#Neu­land“, grob chro­no­lo­gisch geordnet.

Das Ergeb­nis – manch­mal etwas bou­le­var­desk, immer im locke­ren Info­tain­ment-Stil eines reich­wei­ten­star­ken Blogs gehal­ten, voll mit Netz­re­fe­ren­zen – kann sich durch­aus sehen las­sen. Es liest sich weg, und danach wirkt die Per­son Mer­kel ver­trau­ter. Viel­leicht sogar sym­pa­thi­scher. (Ein Nach­teil des For­mats: man­ches, etwa die Dar­stel­lun­gen der Beschimp­fun­gen Mer­kels im Netz, wie­der­holt sich. Wer das Buch „in einem Zug“ liest, merkt das.)

Wer sich dafür inter­es­siert, wie die Per­son Mer­kel aus­se­hen könn­te, wird hier fün­dig. Dabei gilt: Nicht alle Zuschrei­bun­gen, denen Schramm in den Fif­ty Shades nach­geht, wir­ken glei­cher­ma­ßen plau­si­bel. Mer­kel als „post­de­mo­kra­ti­sche Natio­nal­staats­ma­na­ge­rin“ (S. 101) oder als „Iro­nic Lady“ (S. 209) zu beschrei­ben, emp­fin­de ich als plau­si­bler als die „spi­ri­tu­el­le Leh­re­rin der Deut­schen“ (S. 157). Die „Mut­ter der Flücht­lin­ge“ fehlt dage­gen weit­ge­hend – Fluch der Tages­ak­tua­li­tät. Und ob Mer­kel als „Außen­sei­te­rin“ (S. 80) und „Nerd“ (S. 162) zutref­fend beschrie­ben ist, dar­über muss ich doch erst noch­mal nach­den­ken. Schön in die­sem Zusam­men­hang das Kapi­tel­chen zum „Han­dy“ (S. 175), Tele­fon und SMS als bewusst ange­eig­ne­te Macht­werk­zeu­ge der Kanzlerin.

Drei Leit­mo­ti­ve durch­zie­hen die ein­zel­nen Kapi­tel: Das gro­ße Schwei­gen (Mer­kels Sti­l­in­stru­ment, aber eben auch das immer wie­der geschil­der­te Pro­blem feh­len­der rede­be­rei­ter Quel­len – Schramm bezieht sich, von einem Aus­flug in die Ucker­mark abge­se­hen, rein auf Sekun­där­quel­len, Zei­tungs­ar­ti­kel, Netz­be­rich­te und diver­se Mer­kel-Inter­views und ‑Bücher). Geschlech­ter­ver­hält­nis­se (vom „Vater­mord“ und dem stra­te­gi­schen Aus­spie­len der CDU-Män­ner­cli­quen bis zum „Hosen­an­zug“ und den klei­ne­ren und grö­ße­ren Dis­kri­mi­nie­run­gen, die selbst gegen­über der der­zeit mäch­tigs­ten Frau der Welt fort­be­stehen; dem Buch ist anzu­mer­ken, dass Schramm hier­bei auf eine gefes­tig­te femi­nis­ti­sche Hal­tung zurück­grei­fen kann, die nicht beim bewusst ver­wen­de­ten „_“ in vie­len Per­so­nen­be­zeich­nun­gen auf­hört). Und die Per­spek­ti­ve auf Mer­kel aus Sicht der Netz­ge­ne­ra­ti­on. (Klei­ner Gim­mick am Ran­de: die Sei­ten­zah­len sind in –< >– ein­ge­fasst, also der Mer­kel-Rau­te in ASCII).

Das Buch zeich­net ins­ge­samt Mer­kel als Meis­te­rin der Stra­te­gie mit sym­pa­thi­schen Cha­rak­ter­zü­gen. Schramm lobt Mer­kel immer wie­der, betont posi­ti­ve Eigen­schaf­ten wie die Selbst­iro­nie, den Humor, das Spiel mit der Boden­stän­dig­kei­ten. Man­ches erscheint als Deu­tungs­ver­such in Rich­tung grün-schwarz. Die har­te Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit einem über wei­te Stre­cken klar neo­li­be­ra­len Kurs Mer­kels blitzt nur ganz ver­ein­zelt auf, etwa im Kapi­tel „Frei­heit“.

Letzt­lich blei­ben Fif­ty Shades of Mer­kel ergeb­nis­of­fen. Ein Urteil fällt Schramm nicht. Oder, um es sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher aus­zu­drü­cken, auch wenn die Fif­ty Shades wohl eher als Poli­tain­ment gedacht sind: das Buch bleibt Zet­tel­kas­ten, bleibt Samm­lung von Memos mit ers­ten Ansät­zen zur Kate­go­rie­bil­dung, for­mu­liert aber – jeden­falls nicht expli­zit – kei­ne Theo­rie über Mer­kel. (In Groun­ded-Theo­ry-Begrif­fen: der Inte­gra­ti­ons­schritt fehlt). Aber viel­leicht bleibt es ja nicht dabei. 

War­um blog­ge ich das? Weil ich beim Ange­bot eines Rezen­si­ons­exem­plars nicht nein sagen konn­te. Und gera­de in Zei­ten, in denen allent­hal­ben über neue Koali­ti­ons­op­tio­nen gere­det wird, ist der facet­ten­rei­che Blick auf die Leit­wöl­fin der CDU nicht uninteressant.

Jahresrückblick – 2015 im Spiegel dieses Blogs

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Wie war 2015? Ange­sichts noch ein­mal deut­lich sin­ken­der Zugriffs­zah­len – mit eini­gen weni­gen Aus­nah­men, etwa dem u.a. auf Red­dit ver­brei­te­ten Arti­kel über das „Platz­hal­ter­bild“ der AfD, was dann inner­halb von zwei Tagen für 1500 Zugrif­fe sorg­te und die Jah­res­ge­samt­zu­griffs­zahl auf über 33.000 hiev­te – ver­zich­te ich auf eine aus­führ­li­che quan­ti­ta­ti­ve Ana­ly­se der Din­ge, die 2015 auf mei­nem Blog gesche­hen sind. 

wpid-15-152-pluto-newhorizons-highresolution-20150714-ifv.jpgInter­es­san­ter sind die inhalt­li­chen High­lights. So gab es 2015 eine Son­nen­fins­ter­nis (März 2015) und Bil­der vom Rand des Son­nen­sys­tems (Juli 2015). Ich habe mir die Han­dy-Aus­stel­lung im Muse­um Ange­wand­te Kunst (Juni 2015) in Frank­furt ange­se­hen und die Exo-Evo­lu­ti­on im ZKM in Karls­ru­he (Novem­ber 2015). 

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Selbstbild als Merkel-Fangirl

Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Ralf Fücks
CC-BY-ND, Hein­rich-Böll-Stif­tung

Zu mei­nem gro­ßen Erstau­nen fand ich die Bun­des­kanz­le­rin heu­te gerad­li­nig, klug, sym­pa­thisch und prä­zi­se. Aber der Rei­he nach: nach eini­gen Schüs­sen aus der Regie­rungs­ko­ali­ti­on gegen die Flücht­lings­po­li­tik von Ange­la Mer­kel gab es heu­te die Gegen­of­fen­si­ve – eine Rede vor dem Euro­päi­schen Par­la­ment (habe ich nicht gese­hen) und ein gro­ßes Inter­view bei Anne Will, das Mer­kel nutz­te, um ihre Posi­ti­on dar­zu­le­gen und zu erläu­tern. (Ja, der Hash­tag „#mer­kel­will“ pass­te durchaus …)

Beein­druckt haben mich Sät­ze wie der, dass sie nicht bei einem Über­bie­tungs­wett­be­werb der Abschre­ckung mit­ma­chen möch­te, und wie sie die Idee, dass ein Sel­fie mit der Kanz­le­rin Fluch­t­an­reiz sein könn­te, als Popu­lis­mus ent­larv­te. Beein­druckt hat mich auch, wie offen Mer­kel dazu stand, dass die Situa­ti­on sich von Tag zur Tag ändern kann, dass auch sie nur opti­mis­tisch dar­auf set­zen kann, dass wir es schaf­fen. Und schließ­lich hat mich beein­druckt, dass sie klar fest­ge­stellt hat, dass eine Abschot­tung Deutsch­lands schlicht nicht funk­tio­nie­ren wür­de, selbst wenn sie denn gewollt wäre, und dass eine Dis­kus­si­on um Ober­gren­zen nicht sinn­voll ist. 

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Kurz: Außergewöhnlich notwendig

Wie gebannt habe ich in den letz­ten Tagen die Nach­rich­ten aus Ungarn ver­folgt, und war damit wohl nicht allei­ne im glo­bal ver­netz­ten Auf und Ab der Gefüh­le. Gro­ße Freu­de dar­über, wie warm­her­zig die Flücht­lin­ge aus Buda­pest in Wien und Mün­chen auf­ge­nom­men wur­den, wie vie­le Frei­wil­li­ge (auch in Ungarn) sich enga­giert haben, wie unbü­ro­kra­tisch die Bah­nen auf ein­mal han­del­ten, und wie ein­fach es plötz­lich war, das Dub­lin-Abkom­men aus­zu­set­zen. Einer­seits. Und auf der ande­ren Sei­te dann Ver­zweif­lung dar­über, wie ein unga­ri­scher Regie­rungs­chef sich stur an Regeln hält, wie Flücht­lin­ge dabei als läs­ti­ges Pro­blem behan­delt wer­den, was dann auch das Vor­täu­schen fal­scher Tat­sa­chen und unmensch­li­che Zustän­de legi­ti­miert, und wie Mer­kel dann doch wie­der das „aus­nahms­wei­se“ betont, auf Ein­hal­tung der Regeln pocht und erklärt, dass das Dub­lin-Abkom­men eben doch nicht aus­ge­setzt sei.

Poli­tik­theo­re­tisch lie­ße sich jetzt hier ein Essay anhän­gen über das Ver­hält­nis von Regeln und Aus­nah­me­zu­stän­den, über huma­ni­tä­re Hil­fe und die sich dar­aus manch­mal erge­ben­den Not­wen­dig­keit, Regeln zu bre­chen und das Rich­ti­ge zu tun. Ich las­se das an die­ser Stel­le, will aber doch die Beob­ach­tung in den Raum wer­fen, dass mög­li­cher­wei­se ein Abkom­men, das nur dann men­schen­wür­dig ist, wenn es nicht ein­ge­hal­ten wird, kaputt sein könn­te. Viel­leicht lie­ße sich da was tun – und eine bes­se­re euro­päi­sche Gemein­schaft neu erschaffen.