Kurz: 2020

Noch ein paar weni­ge Tage, und dann springt der Jah­res­zäh­ler um auf 2020. Mehr noch als das Jahr 2000 (Y2K, für Ein­ge­weih­te) ist 2020 ein Jahr, das immer irgend­wann in der fer­nen Zukunft lag. 

Jetzt sind wir dort. 2020 noch vom Beginn des 21. Jahr­hun­derts zu reden, wäre schräg. Wir sind mit­ten­drin. In einer Zukunft, die beim ers­ten Hin­se­hen durch­aus apo­ka­lyp­ti­sche Züge auf­weist, und eher aus den düs­te­re­ren Wer­ken zu stam­men scheint: Kli­ma­kri­se, Arten­ster­ben, neue glo­ba­le Macht­ver­hält­nis­se, popu­lis­ti­sche und wenig demo­kra­tisch gesinn­te Regie­rungs­chefs in einer gan­zen Rei­he von Län­dern, die Ver­wirk­li­chung der Total­über­wa­chung in Chi­na, … Erst beim zwei­ten Hin­se­hen zeigt sich, dass es auch posi­ti­ve Ent­wick­lun­gen gibt: sin­ken­de Armut, stei­gen­de Bil­dungs­zah­len, der ver­netz­te Kos­mos. Wir sind (noch) nicht in einem lebens­feind­li­chen Bad­land ange­kom­men, die vir­tu­el­le Welt ist wei­ter­hin größ­ten­teils flach, und es gibt ziem­lich viel poli­ti­sier­tes Enga­ge­ment, ziem­lich viel Bewe­gung, und, ja, auch das: eine Ende men­schen­feind­li­cher Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten, die nicht mehr ein­fach so hin­ge­nom­men und gedan­ken­los repro­du­ziert werden. 

Viel­leicht ist es die­se Ungleich­zei­tig­keit, das Neben­ein­an­der von Kri­se und Kata­stro­phe auf der einen und Fort­schritt und Auf­klä­rung auf der ande­ren Sei­te, das die­se Jah­re kenn­zeich­net. Viel­leicht wird eines Tages in einer Geschich­te des 21. Jahr­hun­derts 2020 das Jahr sein, in dem „how dare you“ gewon­nen hat, in dem die Mensch­heit die Kur­ve gekriegt hat. Oder halt nicht.

Lesetipp: L.X. Beckett – Gamechanger

LXBeckett/GamechangerGanz frisch und groß­ar­tig: der gera­de bei Tor erschie­ne­ne Roman Game­ch­an­ger von L.X. Beckett.

Die­ser Roman ist die neus­te und jüngs­te Annä­he­rung der Sci­ence Fic­tion an das Pro­blem, aug­men­ted rea­li­ty – also das naht­lo­se Zusam­men­wir­ken „digi­ta­ler“, von intel­li­gen­ten Agen­ten unter­stütz­ter und „ana­lo­ger“, stoff­li­cher Welt – plau­si­bel dar­zu­stel­len. Hier gelingt das und greift neben­bei auch Fra­gen auf wie die danach, ab was für einem Alter dann eigent­lich Kin­der an einer immer vor­han­de­nen digi­ta­len Schicht teil­neh­men, die sich über alles legt. Oder auch: wie sicher­ge­stellt wird, dass sie vor­her Berück­sich­ti­gung fin­den, oder was mit denen ist, die ein Implan­tat ver­wei­gern oder bio­lo­gisch dafür nicht geeig­net sind. Oder: was pas­siert mit @jarheads, Men­schen in kaput­ten Kör­pern, die aber wei­ter am „Sen­so­ri­um“, wie die digi­ta­le Ergän­zung der Welt hier heißt, teil­neh­men? Becketts Roman spielt in einer Zukunft, in der all das selbst­ver­ständ­lich ist. Und die digi­ta­le Schicht bleibt nicht Orna­ment, son­dern ist tief in die Gesell­schaft ein­ge­wo­ben. Ein Bei­spiel dafür ist die Idee, dass strikes/strokes ver­teilt wer­den kön­nen, die eine Art Wäh­rung dar­stel­len. Oder die Art und Wei­se, wie stoff­li­che Räu­me und Games über­ein­an­der gelegt wer­den. Wie sich die Spra­che ver­än­dert hat, die Öko­no­mie – in Rich­tung einer auf­merk­sam­keits­ge­trie­be­nen gig eco­no­my mit post-kapi­ta­lis­ti­schen Cele­bri­ties; aber auch die Poli­tik (glo­ba­le direk­te Demo­kra­tie, aber mit Ein­tritts­hür­den in Form von Tuto­ri­als und Abfra­gen …) und die Medi­en in einer Über­wa­chungs­ge­sell­schaft (Cloud­sight hat da eini­ges gemein­sam mit Mal­ka Olders Infor­ma­ti­on – eine Welt­be­hör­de für Informationskontrolle).

Eine aug­men­tier­te Rea­li­tät plau­si­bel zu schil­dern, pas­siert hier nicht das ers­te Mal. Wer möch­te, kann bis zu Wil­liam Gib­sons Neu­ro­man­cer (1984) zurück­ge­hen. Bei Gib­son ist der Cyber­space vor allem durch Sepa­rie­rung gekenn­zeich­net – er muss betre­ten wer­den, dazu gibt es eine spe­zi­el­le tech­ni­sche Aus­rüs­tung, dort gel­ten ande­re Regeln. Becketts Sen­so­ri­um ist dage­gen ein Teil der Welt, an der alle – oder fast alle – Men­schen in unter­schied­li­chem Aus­maß immer teil­ha­ben. Das ist das neue dar­an. Auch in den neus­ten Büchern von Neal Ste­phen­son (Fall, or Dodge in Hell, 2019), Karl Schroe­der (Ste­al­ing Worlds, 2019) und Tom Hil­len­brand (Holo­gram­ma­ti­ca, 2018) ist aug­men­tier­te Rea­li­tät ein The­ma. Beckett packt da noch­mal eins drauf.

Oder: Wenn Sci­ence Fic­tion auch dazu da ist, gegen­wär­ti­ge Ent­wick­lun­gen zu reflek­tie­ren, dann scheint das selbst­ver­ständ­li­che Inein­an­der­flie­ßen von stoff­li­cher und digi­ta­ler Welt mit allen Kon­se­quen­zen, die sich dar­aus erge­ben, eine der Debat­ten zu sein, die jetzt geführt wer­den muss.

Das zwei­te gro­ße The­ma, mit dem sich Sci­ence Fic­tion gegen Ende der 2010er Jah­re aus­ein­an­der­setzt, ist das Ende der Welt. Die Kli­ma­kri­se und der Zusam­men­bruch der glo­ba­len Ord­nung als apo­ka­lyp­ti­scher Hin­ter­grund sind fast schon ein alter Hut, etwas Gege­be­nes. Bei Beckett heißt die­se Zeit des Zusam­men­bruchs Set­back – und sie beginnt etwa heu­te. Das Buch spielt aber etwa eine Gene­ra­ti­on spä­ter – der Zusam­men­bruch, die Zwangs­maß­nah­men wie Umsied­lun­gen, #tria­ge und Ratio­nie­run­gen sind noch in Kraft, im Vor­der­grund steht jetzt aber der Wie­der­auf­bau, die Erneue­rung der natür­li­chen Kreis­läu­fe, der har­te Kampf um Kli­ma und Sau­er­stoff. Das ist der Lebens­in­halt der Bounce­back-Gene­ra­ti­on: pro­so­zi­al, anpa­ckend, akti­vis­tisch, opti­mis­tisch und höf­lich. Selbst auf der Bar­ri­ka­de wer­den noch die Oran­gen­scha­len fein säu­ber­lich getrennt gesam­melt, um sie wie­der dem Kreis­lauf zuzu­füh­ren. Zur Schau gestell­ter Kon­sum ist ekel­haft. Oder in den Wor­ten der Haupt­per­son, Rubi Whiting: „Row, row, row, ever­yo­ne. All we have is us.“

Wer wach ist, nimmt genau die­sen Geist heu­te wahr. Selbst­ver­ständ­lich ist Sci­ence Fic­tion immer Gegen­warts­li­te­ra­tur – und ja, viel­leicht brau­chen wir, ganz ohne außer­ir­di­sche Bedro­hung und vor Zwangs­um­sied­lun­gen („Ver­dich­tung“) und Ratio­nie­run­gen etwas davon. Fri­days for Future, anyone?

Lite­ra­tur hat dabei Frei­hei­ten – eine gewis­se Her­aus­for­de­rung für mei­ne sus­pen­si­on of dis­be­lief stellt die Tat­sa­che dar, dass der Roman in einer Welt der Knapp­heit spielt, dass aber gleich­zei­tig jede Men­gen Droh­nen, Ser­ver und High-Tech-Din­ge zum Ein­satz kom­men. Im Buch selbst gibt es dafür zwei Erklä­run­gen: das Sen­so­ri­um ist auch ein Ort, an dem Men­schen Spaß haben kön­nen und Din­ge erle­ben, ohne dafür Res­sour­cen etwa in Form von Rei­sen zu ver­brau­chen; und die High-Tech, etwa in Form von Nah­rungs­wür­feln oder sich selbst kon­fi­gu­rie­ren­dem Nano­ma­te­ri­al, das als Klei­dung dient, ist letzt­lich res­sour­cen­scho­nen­der als die hand­ge­mach­te Alter­na­ti­ve, die als Luxus­gut gilt.

Neben­bei ist Game­ch­an­ger ein Buch über zer­brech­li­che Per­so­nen, die jeweils mit ihren eige­nen Dämo­nen kämp­fen. Und auch das trägt dazu bei, dass ich Becketts Buch am liebs­ten am Stück gele­sen hätte.

Photo of the week: BUGA XXX

BUGA XXX

 
Der Betriebs­aus­flug der grü­nen Land­tags­frak­ti­on führ­te am letz­ten Mon­tag auf die Bun­des­gar­ten­schau (BUGA) nach Heil­bronn. Inter­es­sant an die­ser Bun­des­gar­ten­schau erschien mir vor allem das, was auf den ers­ten Blick nicht viel mit einer Gar­ten­schau zu tun hat: Die Wie­der­ge­win­nung einer Indus­trie­bra­che. Kli­ma­an­ge­pass­te Pflan­zen. Städ­te­bau­li­che Expe­ri­men­te. Inter­kul­tu­rel­le Gär­ten, ein gro­ßer Bie­nen­pa­vil­lon, Recy­cling­in­for­ma­tio­nen und Expe­ri­men­te mit com­pu­ter­un­ter­stütz­ten Bau­wei­sen (das Gebäu­de oben ist so eines, das Gerüs­te besteht aus von einem Robo­ter ver­spon­ne­nen Fasern). Sehens­wert auch das Laby­rinth – eine klei­ne Aus­stel­lung zu bio­ba­sier­ten Mate­ria­li­en. Damit ist hier erst ein­mal nicht Holz und Kork gemeint, son­dern abge­dreh­te­re Din­ge: Lam­pen­schir­me aus Pilz­kör­pern, zu Tas­sen ver­press­ter Kaf­fee­satz-Kunst­stoff, in Form gewach­se­ne Möbel – sol­che Din­ge. (Weni­ger gut gefal­len haben mir eini­ge der klas­si­schen gar­ten­bau­li­chen Aus­stel­lun­gen – ja, ok, es lässt sich ein Gar­ten auch in Rost­rot mit sehr viel Stein anle­gen, aber schön erscheint sowas höchs­tens in Stuttgart …)

Wir waren einen Tag dort und haben eine umfang­rei­che Füh­rung bekom­men – trotz­dem hat­te ich nicht den Ein­druck, alles gese­hen zu haben. Die Bun­des­gar­ten­schau läuft noch bis Anfang Okto­ber, zusam­men mit der neu eröff­ne­ten Expe­ri­men­ta – einem rich­tig gro­ßen Wis­sen­schafts- und Aus­pro­bier­mu­se­um – stellt Heil­bronn damit der­zeit sicher­lich eines der span­nen­des­ten Aus­flugs­zie­le im Länd­le dar. 

Ein paar mehr Ein­drü­cke gibt es auf Flickr.

Kurz: Wege und Ziele

Per­spek­ti­ven­wech­sel: ein inter­es­san­ter Neben­aspekt eines im wei­te­ren Sin­ne pra­xis­theo­re­ti­schen Blicks auf die Welt besteht dar­in, dass Pro­zes­se gegen­über Pro­duk­ten an Bedeu­tung gewin­nen. Im All­tag kommt es kaum vor, dass Din­ge über eine län­ge­re Zeit fer­tig sind. Das eben noch her­vor­ra­gend auf­ge­räum­te Wohn­zim­mer wird von den Kin­dern bespielt und sieht schon wie­der ganz anders aus. Die Sit­zung ist noch nicht been­det, da steht schon die Pla­nung der nächs­ten an. Von Debat­ten in sozia­len Medi­en will ich gar nicht erst anfangen.

Natür­lich gibt es abge­schlos­se­ne Wer­ke mit Bestand; sei­en es Gemäl­de oder Posi­ti­ons­pa­pie­re. Aber auch die sind Tei­le von Pro­zes­sen. Sue kor­re­spon­die­ren mit dem nächs­ten Bild; die eben gefun­de­ne Posi­ti­on muss kurz dar­auf schon wie­der neu begrün­det wer­den. Wahl­er­geb­nis­se tre­ten als Ereig­nis auf – aber selbst die sind nach vier oder fünf Jah­ren und in einem gewis­sen Sinn bereits mit der nächs­ten Umfra­ge überholt.

Was ich damit sagen will: sozia­le Wirk­lich­keit ent­steht ein­zig im wie­der­hol­ten Voll­zug. Arte­fak­ten kommt dabei viel­leicht eine unter­stüt­zen­de Rol­le zu. Und natür­lich die Funk­ti­on eines Mul­ti­pli­ka­tors (egal, ob das Arte­fakt eine Net­flix-Serie oder ein mas­sen­pro­du­zier­ter Gegen­stand ist). Aber ganz oft sind die Wege wich­ti­ger als das Resul­tat. Das ist anders als die übli­che Wahr­neh­mung, in der Pro­duk­te und Ereig­nis­se gefei­ert wer­den, nicht die Wege dort­hin. Und es ist tröst­lich, weil damit der Anspruch der Per­fek­ti­on – vie­le ken­nen das – rela­ti­viert wird.

(P.S.: Was dem zu wider­spre­chen scheint, sind a. Din­ge-mit-Dau­er (sagen wir, Häu­ser, lang genutz­te Möbel­stü­cke), an die als Ergeb­nis ande­re Per­fek­ti­ons­an­sprü­che gestellt wer­den, und b. Ereignisse-mit-Folgen …)

Photo of the week: Wendelstein 7x – V … und eine längere Erörterung zur Kernfusionsforschung

Wendelstein 7x - V

 
Letz­ten Frei­tag war ich für die grü­ne Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Wis­sen­schaft, Hoch­schu­le und Tech­no­lo­gie­po­li­tik (zusam­men mit u.a. Robert Habeck, Kai Geh­ring und Syl­via Kot­ting-Uhl) in Greifs­wald, um das dor­ti­ge Max-Planck-Insti­tuts für Plas­ma­phy­sik (IPP) zu besu­chen. Das IPP betreibt For­schungs­ein­rich­tun­gen in Gar­ching bei Mün­chen und eben in Greifs­wald; es ist zu 90 % bun­des­fi­nan­ziert und hat das Bud­get einer klei­ne­ren Uni­ver­si­tät. Erforscht wird hier – und da wird es poli­tisch – Kern­fu­si­on. Zunächst ein­mal ganz grund­sätz­lich: was pas­siert, wenn ein Plas­ma (also ein Gas, in dem die ein­zel­nen Elek­tro­nen und Ionen aus den Ato­men sich frei ver­tei­len – All­tags­bei­spiel: Ker­zen­flam­me), sehr hoch erhitzt wird, so dass – bei 100 Mio. Grad – Was­ser­stoff­ato­me zu Heli­um fusio­nie­ren? Und kon­kre­ter die Roh­re oben, die zusam­men eine Art nähe­rungs­wei­se donut­för­mi­ges U‑Boot erge­ben, einen von Magnet­spu­len umge­be­nen „Käfig“, um hoch­er­hitz­tes Plas­ma „ein­zu­sper­ren“ und erst auf die genann­ten Tem­pe­ra­tu­ren erhit­zen zu kön­nen: das Fusi­ons­expe­ri­ment Wen­del­stein 7x, einen soge­nann­ten Stel­ler­a­tor. Wie muss die­ser Käfig kon­stru­iert wer­den, um Plas­ma über län­ge­re Zeit sta­bil in Bewe­gung zu hal­ten, ohne dass des­sen Wän­de zu heiß wer­den oder die Fusi­on zusam­men­bricht? Was ist mit Ver­wir­be­lun­gen und Tur­bu­len­zen? Was bedeu­tet das alles für die ver­wen­de­ten Mate­ria­li­en? Wie sehen die Algo­rith­men aus, um den Auf­bau eines sol­chen Plas­ma­kä­figs zu opti­mie­ren? Wo lie­gen die Unter­schie­de zu den Pro­zes­sen, die in Ster­nen ablaufen?

Das sind alles zunächst ein­mal span­nen­de wis­sen­schaft­li­che Fragen.

Poli­tisch wird es, weil mit der For­schung an Kern­fu­si­on auch die Idee ver­bun­den ist, eines Tages – frü­hes­tens in den 2050er Jah­ren – Kern­fu­si­on zur Ener­gie­ge­win­nung zu nutzen. 

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