Die letzte Woche

Election 2021Ich fin­de Wah­len wich­tig, und ich ver­fol­ge nicht nur die baden-würt­tem­ber­gi­schen und die bun­des­wei­ten Wah­len, son­dern schaue gespannt auch auf die Wah­len in ande­ren Län­dern. Mal mit­fie­bernd und begeis­tert, mal eher ent­täuscht und ent­geis­tert ob der Ent­schei­dung der Wäh­len­den. Wahl­kampf ist dage­gen eher ein not­wen­di­ges Übel – klar, es ist wich­tig, die unter­schied­li­chen Per­so­nen und Posi­tio­nen bekannt zu machen, einen öffent­li­chen Dis­kurs dar­über zu ent­zün­den, zu mobi­li­sie­ren (oder, in Mer­kels Fall: auch mal zu demo­bi­li­sie­ren). Aber Begeis­te­rung lösen Wahl­kämp­fe bei mir nicht aus. 

Die­ser Wahl­kampf geht jetzt in sei­ne letz­te Woche. Am Sonn­tag hat­ten FDP und GRÜNE noch ein­mal Par­tei­ta­ge. Stär­ker als zu ande­ren Zei­ten sind die­se Par­tei­ta­ge Insze­nie­rung. Hier geht es nicht um inner­par­tei­li­che Mei­nungs­bil­dung und auch nicht um inter­ne Ver­net­zung – son­dern schlicht dar­um, noch ein­mal Auf­merk­sam­keit zu bekom­men, um auf den letz­ten Metern Bot­schaf­ten in die Welt sen­den zu kön­nen. In die Welt drau­ßen, um die letz­ten noch unent­schlos­se­nen Wähler*innen zu errei­chen, und in die Welt drin­nen, um Geschlos­sen­heit her­zu­stel­len, den eige­nen Leu­ten zu dan­ken und die­se für den Schluss­sprint zu motivieren. 

Neben­bei: was ich an mei­ner Par­tei mag, ist die Tat­sa­che, dass wir auch im Gegen­wind und im Regen soli­da­risch blei­ben. Die Umfra­ge­wer­te sahen schon mal bes­ser aus, und die Angrif­fe auf die Per­son der Kanz­ler­kan­di­da­tin zu Beginn des Wahl­kampfs haben die Wahr­neh­mung von Anna­le­na Baer­bock in der Öffent­lich­keit nach­hal­tig beein­träch­tigt. Klar gab es eige­ne Feh­ler. Aber es fällt doch auf, mit was für unter­schied­li­chen Maß­stä­ben da teil­wei­se gemes­sen wird. Und wie immer wie­der die sel­ben Geschich­ten erzählt wur­den. Gegen die­se vor­her gefass­ten Urtei­le kom­men ihre extrem star­ken, kom­pe­ten­ten und empa­thi­schen Auf­trit­te in den Tri­el­len und auf den Markt­plät­zen nur schwer an. Das ist ein Wahl­kampf mit Gegen­wind und Regen­schau­ern. Und genau da fin­de ich es wich­tig, dass wir als Par­tei Hal­tung bewah­ren, dass wir wei­ter kämp­fen und alles dafür geben, zu über­zeu­gen. Nicht als Par­tei­sol­da­ten­tum, bei dem schön gere­det wird, aber eben auch nicht – da bli­cke ich auf die Uni­on – als Weg­rü­cken vom eige­nen Kan­di­da­ten. Und ich jeden­falls erle­be uns als eine Par­tei, in der Soli­da­ri­tät und Geschlos­sen­heit gelebt werden.

Ich mag Wahl­kämp­fe nicht, vor allem da nicht, wo sie – not­wen­di­ges Übel – in Rich­tung Show und Wer­bung abdrif­ten. In mei­ner nai­ven Ide­al­vor­stel­lung ent­schei­den Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler danach, wel­che poli­ti­schen Vor­ha­ben und wel­che Per­so­nen sie über­zeu­gen. Wahl­kampf erscheint mir all zu oft als ein Ver­such, das zu ver­ne­beln. Nicht umsonst erin­nern die Pla­kat­wän­de an die fal­schen Haus­fas­sa­den einer Wild­west­stadt, die nach Ende des Film­drehs zusam­men­ge­klappt und weg­ge­räumt wer­den. Natür­lich ver­mit­teln Pla­ka­te und Auf­trit­te ein Image. Natür­lich geht es dar­um, eine Geschich­te zu erzäh­len und zu hof­fen, dass ande­re mit­ma­chen und die­se Geschich­te eben­falls erzäh­len. Und die Instru­men­te, die ver­su­chen, Par­tei­pro­gram­me run­ter­zu­bre­chen, wie etwa der Wahl-o-mat, sind dann schnell unter­kom­plex. Ganz so ein­fach ist es mit dem Fokus auf die Inhal­te also auch nicht. Trotz­dem bin ich über­zeugt davon, dass ein kür­ze­rer und fokus­sier­te­rer Wahl­kampf die­ser Repu­blik gut tun würde.

Die Legis­la­tur­pe­ri­ode des Bun­des­tags dau­ert vier Jah­re, das sind 48 Mona­te. Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen und die Bil­dung einer Regie­rung neh­men inzwi­schen ger­ne ein hal­bes Jahr ein, blei­ben 42 Mona­te. Die Zeit, in der Poli­tik in Wahl­kampf kippt, ist je nach Par­tei unter­schied­lich. Das Par­tei­pro­gramm wur­de im Juni beschlos­sen – vier Mona­te vor der Wahl. Die Ent­schei­dung über die Kanz­ler­kan­di­da­tin fiel im April und der Pro­gramm­ent­wurf wur­de bereits im März vor­ge­stellt, damit sind wir schon sie­ben Mona­te vor der Wahl. Schon davor wur­de in den Par­tei­gre­mi­en dar­an gear­bei­tet, und mit den ers­ten Über­le­gun­gen für Lis­ten­kan­di­da­tu­ren sowie dann den ers­ten Lis­ten­wah­len in den Län­dern sind wir im Herbst und Win­ter 2020/2021. Net­to blei­ben viel­leicht 34, 35, 36 Mona­te, alle übri­gen Wah­len und Wahl­kämp­fe mal außen vor gelas­sen. So rich­tig viel Zeit ist das nicht.

Aber viel­leicht ist die­se Tren­nung ja auch eine künst­li­che. Viel­leicht wür­de ein kür­zer „ech­ter“ Wahl­kampf nur dazu füh­ren, dass die eigent­li­che par­la­men­ta­ri­sche Arbeit stär­ker als jetzt schon zu einem Wahl­kampf in Per­ma­nenz wird, immer dar­auf bedacht, viel zu versprechen.

Die­se Wahl ist eine ande­re als frü­he­re Wah­len. Es ist die ers­te Bun­des­tags­wahl, die auf­grund der Coro­na-Bedin­gun­gen und der Erfah­run­gen bei der Euro­pa­wahl und bei den Land­tags­wah­len eine hohe Zahl an Briefwähler*innen mit sich brin­gen wird. Und es ist, dar­über wur­de viel geschrie­ben, eine Wahl, in der die Kanz­le­rin nicht antritt. Und es ist die ers­te Wahl, in der die Kli­ma­kri­se rich­tig spür­bar ist. 

Dazu kom­men die kon­train­tui­ti­ven Ele­men­te des Wahl­rechts. Mög­li­cher­wei­se wird die­ser Bun­des­tag so groß wie nie zuvor, und mög­li­cher­wei­se führt das Zusam­men­spiel von Direkt­man­da­ten und Aus­gleich- und Über­hangs­man­da­ten gera­de bei einem schwä­che­ren grü­nen Ergeb­nis zu einer (in abso­lu­ten Zah­len) extrem gro­ßen grü­nen Frak­ti­on. Das dürf­te die Kandidat*innen auf den hin­te­ren Lis­ten­plät­zen freu­en – zur Arbeits­fä­hig­keit des Bun­des­tags trägt es nicht bei, und für eine star­ke grü­ne Regie­rungs­be­tei­li­gung ist eben­falls die rela­ti­ve Stär­ke wichtiger. 

Ob unter die­sen Bedin­gun­gen die alten Weis­hei­ten noch gel­ten – dass Wäh­len­de sich erst kurz vor dem Wahl­tag ent­schei­den; all das, was die Poli­tik­wis­sen­schaft über die Dyna­mik von Umfra­gen und Wahl­er­geb­nis­sen weiß – ist unklar. Ich jeden­falls bin extrem gespannt, was der nächs­te Sonn­tag für ein Ergeb­nis brin­gen wird, und was die Par­tei­en dann dar­aus machen wer­den. Allem Hadern mit „fal­schen“ Wahl­ent­schei­dun­gen und allen Unzu­läng­lich­kei­ten des Wahl­sys­tems zum Trotz bin ich froh, in einem Land zu leben, in dem es eine ech­te Aus­wahl gibt, in dem Wah­len frei, gleich und geheim sind. Kämp­fen wir jetzt mit Über­zeu­gung und schau­en dem Sonn­tag mit Gelas­sen­heit entgegen.

Fünf Wahrheiten zur Bundestagswahl

1. Wenn die letz­ten Wah­len eines gezeigt haben, dann das: jede Stim­me kann einen Unter­schied machen. Wer nicht zur Wahl geht, senkt nicht nur die Fünf-Pro­zent-Hür­de, son­dern darf sich dann hin­ter­her auch nicht ärgern, wenn’s irgend­wo knapp war und „falsch“ aus­ging. Und es macht einen Unter­schied, wie die Mehr­heits­ver­hält­nis­se im Par­la­ment aus­se­hen. Das gilt umso mehr für den Bun­des­tag, der bei­spiels­wei­se Rede­zeit im Ver­hält­nis zur Frak­ti­ons­grö­ße ver­gibt. Außer­dem: Aus Lan­des­po­li­tik­sicht sehe ich immer wie­der, wo wir an Gren­zen sto­ßen, weil die Geset­zes­la­ge auf Bun­des­ebe­ne pro­ble­ma­tisch ist. Die kann nur der Bun­des­tag ändern. Also: am 24.9. zur Wahl gehen!

2. Es stimmt, dass es sehr wahr­schein­lich ist, dass Ange­la Mer­kel Kanz­le­rin bleibt. Die letz­ten Jah­re haben aller­dings auch die Gren­zen der Demo­sko­pie gezeigt – wie es wirk­lich um die Mehr­hei­ten steht, seht ihr erst, wenn das Licht im ARD-Wahl­stu­dio angeht. Die demo­sko­pi­schen Über­ra­schun­gen der letz­ten Jah­ren gin­gen alle nach rechts – inso­fern bin ich per­sön­lich sehr skep­tisch, dass es einen rot-rot-grü­nen Über­ra­schungs­sieg gibt oder dass die SPD stärks­te Par­tei wird. Trotz­dem: auch hier zählt jede Stim­me. Selbst wenn Mer­kel Kanz­le­rin bleibt, ist es umso wich­ti­ger, mit wem sie regiert. Denn auch das macht einen spür­ba­ren Unterschied.

3. Zu den demo­sko­pi­sche Wahr­schein­lich­kei­ten gehört auch der Ein­zug der AfD – in den Umfra­gen der­zeit mit rund zehn Pro­zent, mög­li­cher­wei­se mit Dun­kel­zif­fer und am Wahl­abend dann noch höher. Die AfD ent­puppt sich immer mehr als Nazi­par­tei. Und es lässt sich – abhän­gig von den Umfra­ge­er­geb­nis­sen – rela­tiv gut vor­her­sa­gen, wel­che Per­so­nen im nächs­ten Bun­des­tag sit­zen wer­den. Wer sich hier die wahr­schein­li­chen AfD-MdBs mal näher anschaut, fin­det bei zehn Pro­zent 28 Rechts­ra­di­ka­le, die dann dem­nächst im Bun­des­tag reden dür­fen und Oppo­si­ti­ons­po­li­tik bestim­men. Jede Stim­me für eine ande­re Par­tei senkt den Stim­men­an­teil der AfD – auch des­we­gen: wäh­len gehen!

4. Die­ses Jahr tre­ten dut­zen­de Kleinst­par­tei­en zur Wahl an. Eini­ge davon sind noch sicht­ba­rer rechts­ra­di­kal als die AfD, ande­re wir­ken ganz sym­pa­thisch. Wer sich dafür ent­schei­det, eine der Kleinst­par­tei­en zu wäh­len, muss aller­dings wis­sen, dass er oder sie damit sei­nen Ein­fluss auf die tat­säch­li­che Zusam­men­set­zung des Bun­des­tags abgibt. Das liegt an der Fünf-Pro­zent-Hür­de, die nun ein­mal da ist. „Sons­ti­ge“ wer­den nicht berück­sich­tigt, wenn es um Sit­ze im Bun­des­tag geht. Inso­fern ist eine Stim­me für eine Kleinst­par­tei bes­ser als Nicht­wäh­len, aber doch eine ver­schenk­te Stim­me. Das Grund­ein­kom­men wird eher dis­ku­tiert wer­den, wenn Grü­ne und Lin­ke stark wer­den, die ent­spre­chen­de Pas­sa­gen in ihren Pro­gram­men haben. Tier­schutz ist im Bun­des­tag seit Jah­ren ein zen­tra­les grü­nes Anlie­gen und steht auch dies­mal weit vor­ne im Pro­gramm. Und Sati­re funk­tio­niert bes­ser, wenn Come­di­ans nicht im Bun­des­tag sit­zen, son­dern mit Distanz von außen drauf schau­en. Mei­ne ich jedenfalls.

5. Wer mit­ent­schei­den möch­te, wie der Bun­des­tag zusam­men­ge­setzt ist, soll­te also eine der „grö­ße­ren“ Par­tei­en wäh­len. Dass ich dabei für Grün plä­die­re, dürf­te nie­mand über­ra­schen. Wer noch nicht über­zeugt ist, dem emp­feh­le ich das grü­ne Wahl­pro­gramm. Und wir mei­nen das ernst. Wir stel­len Umwelt und Kli­ma­schutz, gesun­de Natur und Tier­schutz ganz vor­ne hin. (Ich bin immer wie­der ver­wun­dert, dass For­de­run­gen wie die nach dem Abschal­ten der zwan­zig dre­ckigs­ten Koh­le­kraft­wer­ke oder nach einem Ver­kaufs­ver­bot für Ver­bren­nungs­mo­to­ren ab 2030 schein­bar nicht ernst genom­men wer­den, und abge­wun­ken wird. Wir sind da fest ent­schlos­sen!) Wir haben „Umwelt im Kopf“ und gleich­zei­tig die „Welt im Blick“ – auch als ein­zi­ge Par­tei, die sich offen­siv zu Euro­pa bekennt, und die Flucht­ur­sa­chen und nicht Flücht­lin­ge bekämp­fen will. Die drit­te gro­ße Über­schrift im Pro­gramm heißt „Frei­heit im Her­zen“, und auch, wenn wir das in die­sem Wahl­kampf nicht offen­siv nach vor­ne stel­len, sind und blei­ben Bünd­nis 90/Die Grü­nen Bür­ger­rechts­par­tei mit allem, was dazu gehört. „Gerech­tig­keit im Sinn“: auch das glau­ben man­che nicht – aber es lohnt sich, auf grü­ne Kon­zep­te und Ideen zu schau­en, um Kin­der­ar­mut zu bekämp­fen, Bil­dung und Hoch­schu­len aus­zu­bau­en und bes­ser zu machen, und um end­lich den Ein­stieg in die Bür­ger­ver­si­che­rung zu wagen. Das ist ein Paket, dass es so bei kei­ner ande­ren Par­tei gibt. Wer Deutsch­land öko­lo­gisch und sozi­al vor­an brin­gen möch­te, eine pro­gres­si­ve und offe­ne Gesell­schaft möch­te – ist bei Grü­nen rich­tig. Und soll­te dar­um grün wäh­len am 24. September!

P.S.: Dass es dabei auf die Zweit­stim­me ankommt, muss ich nicht extra dazu sagen, oder? Auch ein star­kes Erst­stim­men­er­geb­nis ist groß­ar­tig, und in eini­gen Wahl­krei­sen könn­te es klap­pen mit grü­nen Direkt­man­da­ten – aber die Mehr­heits­ver­hält­nis­se im Bun­des­tag sind inzwi­schen weit­ge­hend unab­hän­gig von den Direkt­man­da­ten. Des­we­gen kommt es auf die Zweit­stim­me an.

Die Folgen von Abstimmungen

The red door

Ein Land im Schluss­ver­kauf – und eine Ent­schei­dung, die schwer zu ver­ste­hen ist. Wenn ich mich etwas beei­le, schaf­fe ich es in den nächs­ten zwei Jah­ren doch noch, Urlaub in Groß­bri­tan­ni­en zu machen, solan­ge das Ver­ei­nig­te König­reich noch Mit­glied der EU ist, und Frei­zü­gig­keit etc. gel­ten. Es sei denn, die Per­so­nen­frei­zü­gig­keit schafft die EU vor­her ab. Grenz­kon­trol­len sind ja auch inner­halb der Uni­on wie­der groß im Kommen.

Das Ver­ei­nig­te König­reich trat 1973 der EU bei – zwei Jah­re vor mei­ner Geburt. Für mich gehör­te es zu den All­täg­lich­kei­ten der Welt, mit denen ich auf­ge­wach­sen bin, dass die gro­ße Insel im Atlan­tik ein Teil der Euro­päi­schen Uni­on ist. Und auch, wenn ich bis­her erst zwei­mal dort war (ein­mal Schü­ler­aus­tausch, ein­mal eine wis­sen­schaft­li­che Kon­fe­renz), erscheint Groß­bri­tan­ni­en mir – mit all sei­nen Beson­der­hei­ten, sei­nem selt­sa­men Wahl­recht und dem Königs­haus – ver­traut. Egal, ob Sci­ence Fic­tion oder Pop Kul­tur, poli­ti­sche Theo­rie oder schwar­zer Humor, geleb­te Mul­ti­kul­tur oder Land­schafts­ar­che­ty­pen – mein Kom­pass zeig­te und zeigt zu den Briten.

Ent­spre­chend fin­de ich die Brexit-Ent­schei­dung doch recht trau­rig und unüber­legt. Ins­be­son­de­re kann ich nicht so recht nach­voll­zie­hen, was die 52 Pro­zent der Brit*innen, die für den Aus­stieg aus der EU gestimmt haben, dabei für Moti­ve hat­ten. Das ist den abge­ge­be­nen Stim­men ja hin­ter­her nicht mehr anzu­se­hen. Von dem, was bei mir ankam, war „Lea­ve“ vor allem auch eine rechts­po­pu­lis­ti­sche, natio­na­lis­ti­sche Kam­pa­gne, die vor der Ver­brei­tung von Unwahr­hei­ten nicht zurück­ge­schreckt ist, egal ob es um die Finanz­strö­me oder um Migra­ti­on ging. 52 Pro­zent für ein UKIP-Pro­jekt? Das lässt noch Düs­te­rers ahnen. 

„Die Fol­gen von Abstim­mun­gen“ weiterlesen

Der Fünf-Prozent-Hebel

Mit der Fünf-Pro­zent-Hür­de ist das so eine Sache. Der­zeit gibt es eine gan­ze Rei­he von Land­tags­wahl­um­fra­gen in den ver­schie­de­nen Bun­des­län­dern, in denen zwei oder sogar drei Par­tei­en bei fünf Pro­zent lie­gen. Am Bei­spiel der jüngs­ten Baden-Würt­tem­berg-Umfra­ge lässt sich die Hebel­wir­kung der Fünf-Pro­zent-Hür­de gut darstellen. 

Vor­ne­weg: Ich bin auch nach den neus­ten Zah­len ziem­lich zuver­sicht­lich, dass wir im März 2016 eine Fort­set­zung von Grün-Rot hin­krie­gen. Lan­des­re­gie­rung und Minis­ter­prä­si­dent haben hohe Zustim­mungs­wer­te, der CDU-Kan­di­dat zieht nicht – und wenn wir es schaf­fen, bis zum Wahl­tag zu ver­mit­teln, dass es not­wen­dig ist, die loka­len Kan­di­da­tIn­nen von Grü­nen (oder zur Not der SPD) zu wäh­len, um Baden-Würt­tem­berg wei­ter zu moder­ni­sie­ren, dann klappt es auch.

Aber jetzt zu den aktu­el­len Zahlen:

CDU – 39 Prozent
GRÜNE – 26 Prozent
SPD – 17 Prozent
FDP – 5 Prozent
AFD – 5 Prozent
LINKE – 4 Prozent

CDU und FDP kämen dem­nach auf 44 Pro­zent, GRÜNE und SPD auf 43 Pro­zent. Koali­tio­nen mit der AFD sind hof­fent­lich aus­ge­schlos­sen. Rea­lis­tisch wäre also eine der bei­den lager­über­grei­fen­den Koalitionen.

Wenn die AFD nicht bei 5,0 Pro­zent, son­dern bei 4,95 Pro­zent liegt, sieht es ganz anders aus – dann hät­te Schwarz-Gelb ver­mut­lich eine knap­pe Mehr­heit (je nach­dem, wie sich Pro­zen­te in Sit­ze umrech­nen, aber das ist eine ande­re Frage).

Anders­her­um: AFD bei 5,0 Pro­zent, FDP bei 4,95 Pro­zent. Grün-Rot läge zwar vor der CDU, hät­te aber kei­ne Mehr­heit – sie­he oben.

AFD und FDP bei­de bei 4,95 Pro­zent – und eine Ver­än­de­rung von nur 0,1 Pro­zent­punk­ten führt plötz­lich zu einer kla­ren grün-roten Mehr­heit im Landtag.

Die­ses Rechen­spiel lie­ße sich unter Ein­be­zie­hung der LINKEN belie­big fortsetzen.

Was ich sagen will: solan­ge es eine Fünf-Pro­zent-Hür­de gibt, rei­chen ganz weni­ge Pro­zent­punk­te aus, um die Mehr­heits­bil­dung fun­da­men­tal zu ver­än­dern. Je nied­ri­ger die­se Hür­de wäre, des­to gerin­ger wür­de die­se Hebel­wir­kung ausfallen.

Mit Blick auf den wei­te­ren Moder­ni­sie­rungs­be­darf in Baden-Würt­tem­berg kann die Fünf-Pro­zent-Hür­de sich als hilf­rei­ches Instru­ment ent­pup­pen. Bes­ser und ehr­li­cher wäre eine grün-rote Mehr­heit, die nicht von der­ar­ti­gen Unwäg­bar­kei­ten abhängt. Und dafür müs­sen wir GRÜNE, aber auch die SPD, bis zum Wahl­tag noch ein biss­chen zule­gen. Ich bin zuver­sicht­lich, dass wir das hinkriegen.

War­um blog­ge ich das? Weil es am 13. März 2016 auf jede Stim­me ankom­men wird.

Wahlrechtseffekte am Beispiel der UK2015-Wahl

Das Ver­ei­nig­te König­reich hat gewählt, und die Ergeb­nis­se sind ernüch­ternd. Nach­dem alle Umfra­gen ein Kopf-an-Kopf-Ren­nen zwi­schen Tories und Labour vor­her­ge­sagt haben, hat am Ende (ein Wahl­kreis, St. Ives, steht [beim Schrei­ben die­ses Tex­tes] noch aus) David Came­ron von den Tories klar gewon­nen und den Exit Poll von ges­tern abend sogar noch über­schrit­ten: mit 330 Sit­zen wur­de die Schwel­le für die abso­lu­te Mehr­heit klar über­schrit­ten, die kon­ser­va­ti­ve Regie­rung kann also ohne Koali­ti­ons­part­ner wei­ter regie­ren. Die ande­re Über­ra­schung, Das ande­re Ereig­nis, den Scot­tish-Natio­nal-Par­ty-Erd­rutsch (SNP) in Schott­land, haben die Vor­wahl­um­fra­gen dage­gen klar vor­her­ge­se­hen. 55 der dor­ti­gen 58 Sit­ze gehen an die SNP, die damit zu einem gewich­ti­gen Block im bri­ti­schen Par­la­ment wird.

Eini­ge die­ser Über­ra­schun­gen las­sen sich durch das bri­ti­sche Mehr­heits­wahl­recht (first past the post) erklä­ren. Das führt zu einer gan­zen Men­ge Selt­sam­kei­ten – auch der, dass Came­ron mit rund 37 Pro­zent der Stim­men am Ende allein regie­ren kann und mehr als die Hälf­te der Sit­ze stellt.

Ich habe die Ergeb­nis­se (für 649 Sit­ze) mal in den Sitz­ver­tei­lungs­rech­ner gesteckt und aus­pro­biert, was bei einem pro­por­tio­na­len Wahl­sys­tem pas­siert wäre (hier: Ver­tei­lung nach Sain­te-Lague/­Sche­pers). Klar ist: die Poli­tik in Groß­bri­tan­ni­en wür­de jetzt ganz ande­re Debat­ten führen.

Dabei habe ich neben dem tat­säch­li­chen Ergeb­nis (1) drei Model­le unter­schie­den: regio­na­le Aus­zäh­lung nach Sain­te-Lague/­Sche­pers ohne Sperr­klau­sel (2), regio­na­le Aus­zäh­lung mit 5%-Sperrklausel (3), natio­na­le Aus­zäh­lung mit Sperr­klau­sel (4). Die Ergeb­nis­se* kön­nen hier nach­ge­le­sen wer­den. Visua­li­siert sieht das dann so aus:

1. tw-2015-uk-fptp Ech­tes Ergeb­nis mit First-past-the-post: Abso­lu­te Mehr­heit für die Kon­ser­va­ti­ven (Quel­le. BBC Elec­tion Site).
2. tw-2015-uk-sls-regional-ohne-sperrklausel Pro­por­tio­na­le Sitz­ver­tei­lung in den vier Regio­nen, kei­nen Sperr­klau­sel: UKIP, Lib­Dem, Grü­ne pro­fi­tie­ren, die SNP steht etwas schlech­ter da als im Mehr­heits­sys­tem. Labour und Con­ser­va­ti­ve lie­gen nahe anein­an­der, neben einer gro­ßen Koali­ti­on wären min­des­tens drei Koali­ti­ons­part­ner für eine Mehr­heit not­wen­dig. Gegen Came­ron wäre nur mit einer All­par­tei­en­ko­ali­ti­on unter Aus­schluss von UKIP regierbar.
3. tw-2015-uk-sls-regional-mit-5prozent-sperrklausel Pro­por­tio­na­le Sitz­ver­tei­lung in den vier Regio­nen, mit regio­na­ler 5%-Sperrklausel: Grü­ne fal­len raus. Jetzt hät­ten Kon­ser­va­ti­ve und UKIP zusam­men eine Mehrheit.
4. tw-2015-uk-sls-national-mit-5prozent-sperrklausel Pro­por­tio­na­le Sitz­ver­tei­lung natio­nal, mit 5%-Sperrklausel: es blei­ben vier Par­tei­en übrig, kei­ne davon hat eine eige­ne Mehr­heit. Neben einer gro­ßen Koali­ti­on wäre CON + UKIP oder CON + LD möglich.

Inter­es­sant hier­bei ist, dass es zwar durch das Wahl­sys­tem zu erheb­li­chen Ver­zer­run­gen hin­sicht­lich der Fra­ge kommt, wel­che Par­tei­en im Par­la­ment ver­tre­ten sind. Letzt­lich legen aber auch die Ergeb­nis­se einer pro­por­tio­na­len Aus­zäh­lung eine Regie­rungs­bil­dung durch den kon­ser­va­ti­ven Pre­mier­mi­nis­ter Came­ron nahe. Er wäre aller­dings auf Koali­ti­ons­part­ner ange­wie­sen. Ins­be­son­de­re in der Vari­an­te ohne Sperr­klau­sel wäre die Regie­rungs­bil­dung sehr schwie­rig – ver­mut­lich wür­de es hier eine Min­der­heits­re­gie­rung geben. (Und natür­lich weiß nie­mand, wie tat­säch­lich gewählt wür­de, wenn tak­ti­sche Wahl­an­rei­ze anders ausfallen).

War­um blog­ge ich das? Weil mich man­che der Anti­quiert­hei­ten im bri­ti­schen Wahl­sys­tem wun­dern. Aus grü­ner Sicht wäre eine pro­por­tio­na­le Ver­tre­tung deut­lich bes­ser – aus Sicht der UKIP aller­dings auch.

* Wer genau hin­schaut, wird auch eine Unge­nau­ig­keit bemer­ken: die Sit­ze für zusam­men­sum­mier­te „Others“ wür­den ver­mut­lich anders aussehen.

P.S.: Wenn ich viel Zeit hät­te, wür­de ich noch­mal schau­en, was her­aus­kom­men wür­de, wenn das baden-würt­tem­ber­gi­sche Wahl­recht (Mehr­heit + Zweit­aus­zäh­lung) ange­legt wer­den würde.