Wer mit wem in NRW (Update 3)

Green is colourful

Könn­te jemand ein Gesetz erlas­sen, das Koali­ti­ons­aus­sa­gen vor der Wahl verbietet?

Oder um mal kurz die Aus­schlüs­se aufzulisten:

  • Die CDU will mit der FDP, schließt eine Koali­ti­on mit den Grü­nen aus und wür­de wohl auch mit der SPD koalieren 
  • Die SPD will mit den Grü­nen, evtl. mit der LINKEN, evtl. mit der FDP, evtl. wohl auch mit der CDU 
  • Die Grü­nen wären – wenn die Inhal­te pas­sen – bereit, solan­ge es nicht Jamai­ka ist, oder eine Tole­rie­rung durch die LINKE 
  • Die FDP will wohl mit der CDU (pdf). Ande­re Optio­nen? Zumin­dest aus dem Saar­land wird zur Ampel gera­ten (oder kommt noch der Wes­ter­wel­le-Coup kurz vor der Wahl, sich doch wie­der nur auf schwarz-gelb festzulegen?) 
  • Die LINKE macht kei­ne kla­ren Aus­sa­gen, will aber einen Poli­tik­wech­sel und ver­weist auf Hes­sen. Sprich, rot-rot und rot-rot-grün sind nicht ausgeschlossen. 

Unter Strich blei­ben damit (neben Allein­re­gie­run­gen …) die Optio­nen CDU-FDP, CDU-SPD, SPD-Grü­ne, SPD-LINKE, SPD-Grü­ne-LIN­KE und ganz evtl. SPD-Grüne-FDP

Wie sieht’s rech­ne­risch aus? Nach der neus­ten Umfra­gen (emnid, 24.03.2010) lie­gen die Par­tei­en bei CDU (38%), SPD (32%), Grü­ne (11%), FDP (8%) und LINKE (7%). Ohne mir jetzt das Wahl­recht genau­er anzu­schau­en, hie­ße das für die genann­ten Optio­nen derzeit:

  • CDU-FDP: 46%
  • CDU-SPD: 70%
  • SPD-Grü­ne: 43% 
  • SPD-LINKE: 39%
  • SPD-Grü­ne-LIN­KE: 50% 
  • (SPD-Grü­ne-FDP: 51%) 

Kann sich aber natür­lich bis zum Wahl­tag im Mai noch ändern. So sieht das für mich unan­ge­nehm nach einer gro­ßen Koali­ti­on aus. Die SPD muss also nur drum kämp­fen, dass CDU und FDP zusam­men kei­ne Mehr­heit bekom­men (wenn die oben dar­ge­stell­ten Aus­schlüs­se stim­men). Wer die gro­ße Koali­ti­on ver­hin­dern will, und gleich­zei­tig eine Alter­na­ti­ve zu schwarz-gelb in NRW haben will, muss dage­gen die Grü­nen stär­ken, und die LINKE und/oder die FDP davon über­zeu­gen, dass eine Regie­rungs­be­tei­li­gung zusam­men mit SPD und Grü­nen sinn­voll sein könnte.

War­um blog­ge ich das? Weil ich die Dis­kre­panz zwi­schen den tat­säch­li­chen Mög­lich­kei­ten und den medi­al hoch­ge­jazz­ten Optio­nen inter­es­sant finde.

Update (28.03.2010): Eini­ge Kom­men­ta­to­ren haben ja schon ange­merkt, dass sie Rütt­gers nicht glau­ben, dass er schwarz-grün tat­säch­lich nicht machen wür­de. Auf der ande­ren Sei­te wur­de von Sig­mar Gabri­el rot-rot-grün aus­ge­schlos­sen. Ampel, schwarz-grün oder gro­ße Koali­ti­on? Oder doch Wahl­er­geb­nis­se, bei denen man­che gro­ße Augen machen, wie Gre­go­ry das vermutet?

Update 2 (04.05.2010): Die FDP hat inzwi­schen erklärt, dass sie nie, auf kei­nen Fall und über­haupt nicht mit Grü­nen und / oder SPD koalie­ren will. Ein Drei­er­bünd­nis mit der Lin­ken hal­te ich für unwahr­schein­lich. Nach den aktu­el­len Umfra­gen haben weder Schwarz-gelb noch Rot-grün eine Mehr­heit. Und Schwarz-grün auch nicht. Das kann sich noch ändern, klar. Aber bis­her scheint mir in NRW alles auf eine gro­ße Koali­ti­on hin­aus­zu­lau­fen. Zu ver­hin­dern nur mit star­ken Grünen!

Update 3 (05.05.2010): Apro­pos Schwarz-grün: Arndt Klo­cke macht noch­mal klar, dass die Hür­den dafür extrem hoch hängen:

«Es gehört zu unse­ren kla­ren Wahl­zie­len, dass Jür­gen Rütt­gers nach dem 9. Mai nicht län­ger Minis­ter­prä­si­dent von Nord­rhein-West­fa­len ist», sag­te Grü­nen-Lan­des­chef Arndt Klo­cke der «Rhei­ni­schen Post» (Don­ners­tag). «Eine Koali­ti­on mit Jür­gen Rütt­gers an der Spit­ze ist für uns Grü­ne nur sehr schwer vorstellbar.» 

Anders gesagt: eigent­lich geht es in NRW jetzt um eine klas­si­sche Rich­tungs­wahl: Rot-grün oder Schwarz-gelb. Und jede Stim­me für die CDU, die FDP – aber eben auch für die LINKE und die PIRATEN – macht es wahr­schein­li­cher, dass es zu Schwarz-gelb kommt (oder zur unge­lieb­ten Not­lö­sung „gro­ße Koali­ti­on“). Also: am Sonn­tag grün wäh­len für den Wech­sel in NRW!

Kurz: SPD will zurück in die fordistische Vergangenheit

Zu die­sem Bericht über den Auf­tritt von SPD-Chef Gabri­el bei einem Tref­fen von Betriebs­rä­ten in Bochum habe ich der taz einen Leser­brief geschickt. Mal schau­en, ob er abge­druckt wird.

SPD: zurück in die Vergangenheit?

Wenn es stimmt, dass Gabri­el die SPD dazu brin­gen will, jede Form der Nicht­nor­mal­ar­beit „zu bekämp­fen“ und den „unbe­fris­te­ten, sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­ti­gen Voll­zeit­job“ wie­der zur Regel zu machen, dann hat die SPD zwar aus der Hartz-Kri­se gelernt, sich aber nicht wei­ter­ent­wi­ckelt, son­dern ist sehn­suchts­voll wie­der in den schein­bar gol­de­nen 60er Jah­ren angekommen. 

Ist ja deren Sache – aber wäre es nicht an der Zeit, dass auch die SPD zur Kennt­nis nimmt, wie die (selbst­ver­ständ­lich männ­li­che) Voll­zeit­be­schäf­ti­gung zur Geschlech­ter­dis­kri­mi­nie­rung bei­trägt? Dass es dar­um gin­ge, die in pre­kä­ren Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­sen Arbei­ten­den (eine Spann­wei­te vom Mini­job aus Not bis zur frei­wil­li­gen befris­te­ten und hoch­be­zahl­ten Pro­jekt­ar­beit) sozi­al abzu­si­chern, statt sie zu bekämp­fen? Oder, dass bei den rich­ti­gen Rah­men­be­din­gun­gen (ich den­ke da z.B. an ein Grund­ein­kom­men) Fle­xi­bi­li­sie­rung, Teil­zeit­ar­beit und der Wech­sel zwi­schen Pha­sen der Erwerbs­ar­beit und ande­ren Zei­ten zu einem erfüll­ten Leben bei­tra­gen kön­nen, das nicht nur in Erwerbs­ar­beit besteht? 

Ein Zurück in die for­dis­ti­sche Ver­gan­gen­heit, die sich Gabri­el wohl wünscht, taugt jeden­falls nicht als Land­kar­te für eine soli­da­ri­sche Moderne. 

Nach­trag: Wie ich gera­de beim Früh­stück gese­hen habe, wur­de der Leser­brief prompt abge­druckt (Aus­ga­be vom 24.03.2009).

Das „Institut solidarische Moderne“ – eine Namenskritik

Die taz berich­tet heu­te über die für mor­gen anvi­sier­te Grün­dung eines „Insti­tut Soli­da­ri­sche Moder­ne“ als rot-rot-grü­nem Think-tank:

Die trei­ben­den Kräf­te der ISM-Grün­dung sind die SPD-Poli­ti­ker Her­mann Scheer und Andrea Ypsi­lan­ti, der grü­ne Euro­pa­par­la­men­ta­ri­er Sven Gie­gold und Kat­ja Kip­ping, Vize­che­fin der Links­par­tei. Unter­stützt wird die ISM unter ande­rem von Anke Mar­ti­ny, Juso-Che­fin Fran­zis­ka Droh­sel, dem Rechts­exper­ten der Links­frak­ti­on, Wolf­gang Nes­ko­vic, und dem Grü­nen Arvid Bell.

Ergänzt wird die­se Grup­pe um Wis­sen­schaft­le­rIn­nen und ande­re Persönlichkeiten. 

Das klingt alles erst­mal ziem­lich gut. Aller­dings kann ich mich – wenn das alles so stimmt – auch Ste­fan Rei­ne­cke anschlie­ßen, der im Kom­men­tar dazu schreibt: 

Das größ­te Hin­der­nis für Rot-Rot-Grün liegt frei­lich noch auf einer ande­ren Ebe­ne. Man ist zwar gegen Neo­li­be­ra­lis­mus und AKWs, für die Bür­ger­ver­si­che­rung und öko­lo­gi­schen Umbau. Aber es fehlt eine zün­den­de Vision.

Trotz­dem ist das eigent­lich gar nicht der Anlass für die­sen Blog-Bei­trag. Viel­mehr mag ich den Namen „Insti­tut Soli­da­ri­sche Moder­ne“ nicht (ob die Domain schon reser­viert ist)?. Mal schau­en, ob der Grün­dungs­kreis das mor­gen so bei­be­hält – ver­mut­lich schon. Hier den­noch mei­ne drei Kri­tik­punk­te, die sich vor allem am Namen festmachen.

1. ISM – war da nicht was? Mei­ne ers­te Asso­zia­ti­on ist jeden­falls die INSM – die neo­li­be­ra­le „Initia­ti­ve Neue Sozia­le Markt­wirt­schaft“. Mag ja sein, dass die­se Ähn­lich­keit bewusst gewählt ist, so als kom­mu­ni­ka­ti­ver Gue­ril­la-Akt. Beson­ders klug fin­de ich das jedoch nicht.

2. Mir ist der Name zu sozi­al­de­mo­kra­tisch. Aber gut – wenn zwei der drei Grün­dungs­strö­mun­gen sozi­al­de­mo­kra­tisch sind, muss das viel­leicht so sein. Natür­lich ist „soli­da­risch“ auch ein grü­ner Begriff, und ein – inzwi­schen weit­ge­hend aner­kann­tes – grü­nes The­ma. Trotz­dem: gera­de wenn die­ser Think-tank sich um die­ses Auf­ga­ben­feld küm­mern will (wie­der laut taz) …

Die tra­di­tio­nel­le Lin­ke des Indus­trie­ka­pi­ta­lis­mus habe die öko­lo­gi­sche Kri­se nicht aus­rei­chend begrif­fen und sei zu stark auf „Erwerbs­ar­beit“ focus­siert. Die neue Lin­ke müs­se sich auch um „öko­lo­gi­sche Gerech­tig­keit“ küm­mern und fra­gen wie man ohne „sozia­le Brü­che“ Abschied vom „quan­ti­ta­ti­vem Wachs­tum“ neh­men kann. 

… dann fra­ge ich mich schon, ob „soli­da­risch“ das rich­ti­ge Adjek­tiv ist. Ich wür­de ja sagen, dass eigent­lich „grün“ hier viel bes­ser passt, oder zumin­dest „sozi­al-öko­lo­gisch“. Viel­leicht wäre auch eine ganz neue Wort­schöp­fung not­wen­dig. Oder eben bei­des – „Insti­tut für eine soli­da­ri­sche und öko­lo­gi­sche Moderne“.

3. Mir ist der Name zu modern. Mit Beck, Gid­dens & Co. sind wir in der „zwei­ten Moder­ne“, der „Nach­mo­der­ne“, der „spä­ten Moder­ne“ oder der „refle­xi­ven Moder­ne“ ange­kom­men. Und gera­de, wenn es um eine „neue neue Lin­ke“ geht, wobei die Grenz­zie­hung ja wohl – s.o. – wie­der­um die Abgren­zung vom Fokus auf Erwerbs­ar­beit ist – fra­ge ich mich, ob die Epo­che der (ers­ten, …) „Moder­ne“ eigent­lich wirk­lich der rich­ti­ge Bezugs­punkt ist. Für mich schwin­gen da Tra­ban­ten­städ­te im inter­na­tio­na­len Stil, auto­ge­rech­te Städ­te und for­dis­ti­sche Arbeits­ver­hält­nis­se mit. Gleich­zei­tig lässt sich der Begriff „Moder­ne“ auch mit Latour angrei­fen. Gera­de wenn es dar­um geht, Soli­da­ri­tät nicht nur auf (heu­ti­ge und zukünf­ti­ge) Men­schen zu beschrän­ken – das wäre übri­gens die m.E. ein­zi­ge Mög­lich­keit, den Fokus auf den öko­lo­gi­schen Umbau der moder­nen Indus­trie­ge­sell­schaft ins Adjek­tiv „soli­da­risch“ hin­ein­zu­den­ken – also gera­de dann zeigt Latour, wie die Moder­ne als Ord­nungs­sys­tem den Men­schen allei­ne stellt. 

Wenn ich die Leu­te, die bis­her öffent­lich damit in Ver­bin­dung gebracht wer­den, rich­tig ein­schät­ze, dann will die­ser Think-tank eigent­lich sowas wie ein „Insti­tut für eine soli­da­ri­sche, eman­zi­pier­te und öko­lo­gi­sche Gesell­schaft“ sein. Nun ist auch Ifese­oeGe kein beson­ders gutes Akro­nym. Und ISOE, IÖW etc. gibt es auch schon. Und ver­mut­lich soll der Name auch noch ernst­haft klin­gen (also nichts mit „Gesell­schaft 2.0“ oder so). Dass alles zusam­men­zu­brin­gen, dürf­te nicht so ein­fach sein. Die geball­te Ener­gie des Grün­dungs­krei­ses müss­te aber eigent­lich in der Lage sein, was bes­sers zu fin­den. Oder wenn das nicht, dann zumin­dest dafür zu sor­gen, dass die Buch­sta­ben­kom­bi­na­ti­on ISM in ein paar Jah­ren pro­gres­siv, eman­zi­pa­to­risch und öko­lo­gisch nach­hal­tig klingt.

War­um blog­ge ich das? Weil ich die­se Initia­ti­ve sehr span­nend fin­de und neu­gie­rig bin, was draus wird. Und weil mir der Name nicht gefällt.

Update: Wenn der Link stimmt, den Björn Böh­ning gera­de rum­schick­te, dann könn­te solidarische-moderne.de der Web­auf­tritt sein (Inhal­te feh­len noch, viel­leicht ist’s auch nur ein Kon­zept). Da steht als Name „die­Soli­da­ri­scheMo­der­ne . Cross­over-Insti­tut“. Ist ein biß­chen schi­cker, und Punkt 1 mei­ner Kri­tik trifft dann nicht zu, aber die Punk­te 2 und 3 blei­ben bestehen. Vor allem, wen der Ban­ner wei­ter­hin „Sozia­le Gerech­tig­keit, sozia­le Öko­lo­gie, sozia­le Öko­no­mie“ heißt. Einem „Cross­over-Insti­tut“, das die „öko­lo­gi­sche Öko­no­mie“ und die „öko­lo­gi­sche Gerech­tig­keit“ ver­gisst, fehlt was.

Update des Updates: Die ein­zi­gen drei Punk­te, die schon Inhal­te brin­gen, sind „Mit­glied wer­den“, „News­let­ter bestel­len“ und Kon­takt. Und da steht dann doch wie­der „Insti­tut soli­da­ri­sche Moder­ne e.V.“ als Name.

Noch ein Nach­trag: Der Inha­ber der Domain ist der Jena­er Sozio­lo­ge Ste­phan Les­se­nich, der neben den oben genann­ten Poli­ti­ke­rIn­nen immer wie­der mit dem „ISM“ in Ver­bin­dung gebracht wird – scheint also tat­säch­lich die Domain des Insti­tuts zu sein/zu wer­den. Und zumin­dest Goog­le kennt den Begriff „soli­da­ri­sche Moder­ne“ nur im Zusam­men­hang mit der Institutsgründung.

Web­site zu: solidarische-moderne.de ist jetzt mit einem Pass­wort­schutz ver­se­hen. War wohl noch nicht für die Öffent­lich­keit gedacht.

Update: (31.01.2010, 20:30 Uhr) Die Web­site solidarische-moderne.de ist jetzt wohl offi­zi­ell in Betrieb. U.a. fin­det sich dort auch die Gründungserklärung.

Nach der Wahl

Green is colourful

Die Umfra­gen in den Tagen vor­her hat­ten es schon ange­deu­tet; auch der ernst­haf­te Aus­schluss einer Ampel durch die FDP – der die­ser sicher noch eine gan­ze Rei­he zusätz­li­che Stim­me ein­brach­te – senk­te die Erwar­tun­gen. Die gro­ße Fra­ge am Wahl­abend war die nach dem Juni­or­part­ner der Mer­kel-CDU. Eben­so war schon seit eini­gen Tagen klar, dass die som­mer­lich eupho­ri­schen 13 bis 14 Pro­zent, die uns Grü­nen auch schon mal vor­her­ge­sagt wor­den waren, nicht erreicht wer­den würden. 

Trotz der der­mas­sen redu­zier­ten Erwar­tun­gen war das Wahl­er­geb­nis ins­ge­samt ent­täu­schend: Eine kla­re Mehr­heit für Schwarz-gelb, auch ohne Über­hang­man­da­te. Eine am Boden zer­stör­te SPD. Kei­ne grü­nen Direkt­man­da­te jen­seits von Kreuz­berg. Grü­ne nur auf Platz 5, erst im Ver­gleich zu den vor­he­ri­gen Wah­len wird bewusst, dass 10,7 Pro­zent Zweit­stim­men für die Grü­nen eine Grö­ße sind, die vor weni­gen Mona­ten für eine Bun­des­tags­wahl noch als kaum vor­stell­bar galt. Inso­fern stimmt der Spruch auf gruene.de, dass es sich hier um ein his­to­ri­sches Ergeb­nis han­delt. In den Geschichts­bü­chern wird aber wohl doch eher die struk­tu­rel­len Ver­schie­bun­gen im Par­tei­en­sys­tem lan­den als das bis dato bes­te Ergeb­nis der kleins­ten Oppositionspartei.

68 Grü­ne sit­zen in der neu­en Frak­ti­on. Erst spät am Wahl­abend, gegen 3.30 Uhr, war klar, wie sich die­se 68 Man­da­te zwi­schen den Län­dern ver­tei­len wer­den. Ins­ge­samt wird die Frak­ti­on ein Stück bun­ter, lin­ker, jün­ger wer­den – zum Bei­spiel mit Sven-Chris­ti­an Kind­ler, mit Agnieszka Mal­c­zak (was mich ganz beson­ders freut), oder auch mit Bea­te Mül­ler-Gem­me­cke, die in Baden-Würt­tem­berg die Grund­ein­kom­mens­de­bat­te mass­geb­lich beein­flusst hat­te. Ich glau­be, dass es eine gute grü­ne Frak­ti­on wer­den wird und bin schon gespannt, wie sich hier The­men und Zustän­dig­kei­ten ver­tei­len werden.

Letzt­lich ist das aber eine Moment­auf­nah­me. Jetzt steht die Fra­ge an, ob die Kon­stel­la­ti­on Schwarz-gelb vs. Rot-rot-grün eine neue Lager­bil­dung auto­ma­tisch nach sich zieht – oder ob wir die­se unbe­dingt ver­mei­den soll­ten. Die Koali­ti­ons­bil­dun­gen im Saar­land und in Thü­rin­gen wer­den ers­te hand­fes­te Ant­wor­ten auf die­se Fra­ge dar­stel­len. Die Grü­nen in Schles­wig-Hol­stein sind ohne Koali­ti­ons­aus­sa­ge in den Wahl­kampf gezo­gen, und haben – hier lässt sich das wirk­lich sagen – ein his­to­risch gutes Ergeb­nis erreicht. Lag’s dar­an, oder doch nur an der Schlamm­schlacht der Großen?

Wie weit kann grü­ne Eigen­stän­dig­keit gehen? Wann muss die Oppo­si­ti­on zusam­men­ste­hen, um Druck auf die Raub­kat­zen-Regie­rung aus­zu­üben, wann geht’s drum, vom letz­ten Platz aus laut­stark Gehör zu fin­den? Ich rech­ne damit, dass stär­ker als in den letz­ten vier Jah­ren – und auch da gab es die­se Ent­wick­lung ja schon – eine Hin­wen­dung zurück zu den alten und neu­en sozia­len Bewe­gun­gen fest­zu­stel­len sein wird. So ruft Cam­pact aktu­ell dazu auf, einen offe­nen Brief an die neue Regie­rung zu unter­zeich­nen, den Atom­aus­stieg bei­zu­be­hal­ten – schon knapp 20.000 Men­schen haben die­se Bit­te unter­schrie­ben. Die Anti-Atom-Mobi­li­sie­rung kurz vor der Wahl war ein wei­te­rer Hin­weis dar­auf, dass hier – nicht im Sin­ne eines woll­so­cki­gen Zurück-zur-Basis-Gefühls, son­dern als wohl­über­leg­tes gesell­schaft­li­ches Bünd­nis – der Schul­ter­schluss zwi­schen Partei(en) und Bewe­gung wie­der enger gewor­den ist. 

(Neben­bei: eine For­de­rung der Gesell­schaft an die FDP müss­te jetzt eigent­lich sein, das Innen­mi­nis­te­ri­um für sich zu rekla­mie­ren und es mit einem oder einer Bür­ger­rechts­li­be­ra­len zu beset­zen. Glau­be nicht, dass die das machen – wäre aber ein Signal.)

Span­nend wird es, wenn die neue Netz­be­we­gung dabei in den Blick gerät. Zwei Pro­zent für die Pira­ten (zwei Pro­zent, die anders­wo gefehlt haben), deut­lich höhe­re Wer­te in eini­gen Uni­städ­ten und unter männ­li­chen! Erst­wäh­lern (bis zu 13 Pro­zent in der jüngs­ten Alters­grup­pe!) sind defi­ni­tiv ein Signal, dass Bür­ger­rech­te im Netz mobi­li­sie­ren kön­nen. Hin­sicht­lich der wei­te­ren Par­tei­kar­rie­re die­ser sozia­len For­ma­ti­on blei­be ich skep­tisch. Die­se For­de­run­gen auf­zu­neh­men, sie inner­par­tei­lich ernst­haft zu dis­ku­tier­ten, und auch per­so­nell – über die übli­chen Ver­däch­ti­gen hin­aus – hier bünd­nis­fä­hig zu wer­den, erscheint mir wich­tig für jede Oppo­si­ti­ons­par­tei. Wir soll­ten hier die ers­ten sein, die sich aus dem Fens­ter leh­nen. War­um bei­spiels­wei­se nicht die For­de­rung nach einem „netz­po­li­ti­schen Spre­cher“ (oder einer „netz­po­li­ti­schen Spre­che­rin“) in der neu­en grü­nen Frak­ti­on umsetzen?

Span­nend wird es aber auch, wenn neue grü­ne Eigen­stän­dig­keit bedeu­tet, – mög­li­cher­wei­se ein­fach aus rech­ne­ri­schen Grün­den bedeu­ten muss – neue Koali­ti­ons­op­tio­nen ernst­haft in Erwä­gung zu zie­hen, ernst­haf­te the­ma­ti­sche Pro­jek­te mit den „Bür­ger­li­chen“ zu beden­ken. Wie könn­te bei­spiels­wei­se, um im Hypo­the­ti­schen zu blei­ben, ein baden-würt­tem­ber­gi­scher Land­tags­wahl­kampf 2011 aus­se­hen, wo je nach Gegend die Grö­ßen­un­ter­schie­de zwi­schen SPD, FDP und uns Grü­nen mar­gi­na­li­siert sind, und wo Mehr­hei­ten ohne ent­we­der die CDU oder die FDP der­zeit undenk­bar erschei­nen? Las­sen sich grü­ne Inhal­te und rea­li­sier­ba­re Gestal­tungs­op­tio­nen in so einem Wahl­kampf zusam­men­brin­gen, ohne auf ein „lin­kes Lager“ fest­ge­legt zu sein? Was sind die Pro­jek­te und Hür­den, die mit den rech­ten Par­tei­en CDU und FDP auf Lan­des­ebe­ne umsetz­bar wären, ohne dass wir uns ver­bie­gen? Und was bedeu­tet das alles für die Wahl 2013?

Viel­leicht muss die SPD hier noch ein­mal als abschre­cken­des Bei­spiel die­nen: sie hat den Bogen über­spannt, ihre Stamm­wäh­ler­schaft ver­lo­ren, es nicht hin­ge­kriegt, sich aus der Umklam­me­rung der gro­ßen Koali­ti­on inhalt­lich und per­so­nell zu lösen, son­dern ist in die­sem Bun­des­tags­wahl­kampf als Staats­par­tei auf­ge­tre­ten. Die Quit­tung ist deut­lich (und ob dar­aus ein inhalt­li­cher und per­so­nel­ler Neu­an­fang erwächst, bleibt nicht nur frag­lich, son­der vor allem auch vorraus­set­zungs­reich). Klar ist jeden­falls: mit einer auf künst­li­che Geschlos­sen­heit bedach­ten, jede Regung im Keim ersti­cken­den Par­tei­füh­rung, die den Kon­takt zur Par­tei­ba­sis und zur Wäh­ler­schaft und den dort vor­han­de­nen Prä­fe­ren­zen ver­lo­ren hat, wäre es ver­mut­lich selbst mit einer cha­ris­ma­ti­sche­ren Per­sön­lich­keit kaum gelun­gen, ein deut­lich bes­se­res SPD-Ergeb­nis einzufahren. 

Screenshot "Atlas zur Bundestagswahl 2009"
Auf dem Weg zur Volks­par­tei? Grü­nes Zweit­stim­men­er­geb­nis im Visu­el­len Atlas

Im Umkehr­schluss bedeu­tet das: gera­de jetzt, wo wir Grü­ne von den Wahl­er­geb­nis­sen und der inter­nen Band­brei­te an Posi­tio­nen da und dort in die Nähe einer Volks­par­tei gera­ten, ist es extrem wich­tig, einen Modus der inner­par­tei­li­chen Orga­ni­sa­ti­on zu fin­den, der Geschlos­sen­heit nicht durch Ersti­ckungs­tod simu­liert (so inter­pre­tie­re ich das „Volks­par­tei-Vor­bild“ SPD), son­dern trag­fä­hi­ge For­men der inter­nen Aus­ein­an­der­set­zung, Dis­kus­si­on und Mei­nungs­bil­dung ermöglicht. 

Die Anla­gen dafür haben wir – wie weit sie umge­setzt wer­den, und dann auch noch dazu füh­ren, dass Mit­glie­der moti­viert statt frus­tiert wer­den, hängt nicht zuletzt am Füh­rungs­per­so­nal in der Par­tei, in der Frak­ti­on und in den Lan­des­ver­bän­den. Das muss die unter­schied­li­chen Rich­tun­gen in der Par­tei inte­grie­ren kön­nen, es muss nach außen für die Par­tei (und nicht für Par­ti­ku­la­ri­tä­ten) ste­hen, und es muss mit­tel­fris­tig auch den Gene­ra­tio­nen­um­bruch widerspiegeln. 

Zum Schluss noch ein­mal zurück vom Grü­nen zum All­ge­mei­nen: was die­se Bun­des­tags­wahl auch deut­lich gemacht hat, und was mehr noch die Land­tags­wahl in Schles­wig-Hol­stein deut­lich gemacht hat, sind die Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Wahl­sys­tem und Wahl­ver­hal­ten. Stim­men­split­ting und tak­ti­sches Wäh­len gehö­ren eben­so dazu wie die unzäh­li­gen – im Bund über­haupt nicht aus­ge­gli­che­nen – Über­hang­man­da­te, die aus einer Zeit her­rüh­ren, in der zwei 40%-Parteien mit­ein­an­der kon­kur­riert haben. Hier sind Refor­men und intel­li­gen­te­re Wahl­sys­te­me überfällig. 

Wenn die­se nicht oder nur in Mini­mal­form kom­men, dann wird es 2013 wich­tig sein – und viel­leicht wird die SPD dann auch bereit dazu sein – hier bin­den­den Abspra­chen zu tref­fen. Min­des­tens drei der zehn baden-würt­tem­ber­gi­schen Über­hang­man­da­te hät­ten ver­mie­den wer­den kön­nen, wenn es im Länd­le zu vor­he­ri­gen Abspra­chen zwi­schen SPD und Grü­nen gekom­men wäre. Bis­her hat­te die SPD den grü­nen Ver­zicht auf Erst­stim­men­wahl­kampf als natur­ge­ge­ben hin­ge­nom­men. Auf die Idee, dafür eine Gegen­leis­tung zu erbrin­gen, woll­te sie sich bis heu­te nicht ein­las­sen. Die­se Arro­ganz einer sich selbst über­schät­zen­den Tra­di­ti­ons­par­tei gehört hof­fent­lich 2013 zum Abfall­hau­fen der Geschichte.

War­um blog­ge ich das? Um mal einen Teil der unsor­tier­ten Gedan­ken los­zu­wer­den, die mir seit ges­tern 18:00 Uhr so gekom­men sind.