Über 6000 Seiten Soziologie – der DGS-Kongressband 2006 ist da

Die aka­de­mi­schen Publi­ka­ti­ons­müh­len mah­len lang­sam, aber recht­zei­tig vor dem nächs­ten Kon­gress der Deut­schen Gesell­schaft in Sozio­lo­gie (DGS), der im Okto­ber 2008 in Jena statt­fin­den wird, ist jetzt end­lich der DGS-Kon­gress­band 2006 „Die Umwelt der Gesell­schaft“ erschie­nen (und wur­de jetzt den Tagungs­teil­neh­me­rIn­nen zugestellt). 

Kassel university campus I

Wie auch schon beim letz­ten Mal ist der Band so auf­ge­baut, dass – dies­mal in zwei Teil­bän­den – die Tex­te zu den Mit­tags­vor­le­sun­gen und Ple­nar­sit­zun­gen in gedruck­ter Form erschie­nen sind (und zum ein­fa­che­ren Zugriff auch auf CD), die Sit­zun­gen der Sek­tio­nen, Arbeits­grup­pen und ad-hoc-Grup­pen dage­gen nur auf der CD-ROM ent­hal­ten sind.

Wer sich das anschaut, weiss ich auch nicht so genau. Die CD-ROM ent­hält dies­mal nicht nur die PDFs, son­dern auch ein klei­nes Tool, um dar­in her­um­zu­blät­tern, nach AutorIn­nen oder nach dem Inhalts­ver­zeich­nis geord­net. Außer­dem gibt es auch eine Voll­text­su­che. Das macht die Daten­flut – ins­ge­samt über 6000 Druck­sei­ten, 1350 davon auch tat­säch­lich auf Papier – etwas über­sicht­li­cher, und ermög­licht es viel­leicht tat­säch­lich, die für die eige­ne Arbeit rele­van­ten Tex­te raus­zu­su­chen (zu den dun­kel erin­ner­ten Vor­trä­gen, oder auch zu denen, bei denen es nicht mög­lich war, hinzugehen).

Ich selbst war auf dem letzt­jäh­ri­gen Kon­gress auch zwei­mal prä­sent: ein­mal als Mit­or­ga­ni­sa­tor der Ad-hoc-Grup­pe „Natur und Gesell­schaft in ein neu­es Ver­hält­nis set­zen – das Bei­spiel Wald“ und ein­mal als Refe­rent in der Ad-hoc-Grup­pe „Natur­ge­walt, Gewalt gegen Natur, hybri­de Zivi­li­sa­ti­on?“ der Nach­wuchs­grup­pe Umwelt­so­zio­lo­gie (NGU). Wit­zi­ger­wei­se scheint das DGS-Her­aus­ge­ber­team um Prof. Reh­berg das etwas durch­ein­an­der gebracht zu haben – mein umwelt­so­zio­lo­gi­scher Text „Umwelt als Pra­xis“ ist jeden­falls gleich zwei­mal auf der CD zu fin­den, ein­mal da, wo er hin­ge­hört, näm­lich in der NGU-Sit­zung, und ein­mal bei der Wald-Gruppe.

Einen Über­blick über die Abs­tracts etc. gibt es übri­gens auf der Kon­gress­web­site http://www.dgs2006.de.

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Karl-Sieg­bert Reh­berg (Hrsg.): Die Natur der Gesell­schaft. Ver­hand­lun­gen des 33. Kon­gres­ses der Deut­schen Gesell­schaft für Sozio­lo­gie in Kas­sel 2006. Frank­furt am Main/New York: Cam­pus. 2 Teil­bän­de + CD-ROM, ins­ge­samt über 6000 Sei­ten. 99 Euro. Bei ama­zon bestellen.

Wes­ter­may­er, Till (2008): »Umwelt als Pra­xis – Refle­xio­nen anläss­lich einer pra­xis­theo­re­ti­schen Ana­ly­se von Umwelt­rat­ge­bern«, in Karl-Sieg­bert Reh­berg (Hrsg.): Die Natur der Gesell­schaft. Ver­hand­lun­gen des 33. Kon­gres­ses der Deut­schen Gesell­schaft für Sozio­lo­gie in Kas­sel 2006, CD-ROM-Bei­la­ge. Frank­furt am Main, New York: Cam­pus, S. 3641–3652 (hier als PDF).

Won­ne­ber­ger, Eva; Wes­ter­may­er, Till (2008): »War­um Wald ein gutes Bei­spiel dafür ist, das Ver­hält­nis von Natur und Gesell­schaft zu dis­ku­tie­ren – Ein­füh­ren­de The­sen«, in Karl-Sieg­bert Reh­berg (Hrsg.): Die Natur der Gesell­schaft. Ver­hand­lun­gen des 33. Kon­gres­ses der Deut­schen Gesell­schaft für Sozio­lo­gie in Kas­sel 2006, CD-ROM-Bei­la­ge. Frank­furt am Main, New York: Cam­pus, S. 3769.

War­um blog­ge ich das? Sowohl wegen mei­nes noch immer vor­han­de­nen Erstau­nens dar­über, wie schwer­fäl­lig das Medi­um Papier im aka­de­mi­schen Bereich sein kann, als auch, um auf mei­nen gleich zwei­mal auf der CD-ROM zu fin­den­den Bei­trag hinzuweisen.

Von Luxusgrün zu Notwendigkeitsgrün?

Die taz berich­tet heu­te über den schrump­fen­den Umsatz der Bio­lä­den; dabei geht es vor allem um die schon etwas älte­re Kon­ven­tio­na­li­sie­rungs­de­bat­te, also Bio­pro­duk­te im Super­markt. Inter­es­san­ter fin­de ich einen zwei­ten Aspek­ten: näm­lich den Zusam­men­hang der letz­ten „Öko-Wel­len“ mit dem wirt­schaft­li­chen Auf­schwung. Ich habe das ja die letz­ten Jah­re etwas genau­er ver­folgt, und „cool green“ eben­so wie Din­ge wie das plötz­li­che Inter­es­se Pro­mi­nen­ter für den „Life­style of Health and Sus­taina­bi­li­ty“ (LOHAS) koin­zi­die­ren durch­aus mit „kei­ne ande­re Sor­gen“. Umge­kehrt wur­de das Umwelt­the­ma Anfang der 1990er Jah­re von Platz 1 der bun­des­deut­schen Sor­gen­hit­lis­te ver­drängt. Plötz­lich ging es um sozia­le Sicher­heit, Arbeits­lo­sig­keit und der­glei­chen mehr.

Visiting "Demeterhof Hiss" – XIX
Hof­la­den – Luxusgrün?

Mit dem von eini­gen jetzt wahr­ge­nom­me­nen Rüber­schwap­pen der Rezes­si­on von den USA hier­her scheint es eine ähn­li­che Ent­wick­lung zu geben. Jeden­falls kom­men­tiert die Times „Sud­den­ly being green is not cool any­mo­re“. Kurz gesagt: das nöti­ge Geld, um sich einen grü­nen Lebens­stil leis­ten zu kön­nen und die­sen als hip zu pro­pa­gie­ren, ist (in Groß­bri­tan­ni­en) nicht mehr da, die Hype­wel­le um Luxus­grün scheint sich dem Ende zuzu­nei­gen. Die Times-Kom­men­ta­to­rin Ali­ce Thom­son sieht dar­in aber auch etwas gutes:

But para­do­xi­cal­ly, just as Bri­tain is tur­ning its back on the envi­ron­ment, the coun­try is final­ly beco­ming gree­ner. Fewer peo­p­le are moving house so they are buy­ing fewer new white goods such as washing machi­nes and fri­d­ges. They may not be queu­e­ing up for £9 orga­nic Poilâ­ne bread, but for the first time in a deca­de they are dis­car­ding less food. They buy less impul­si­ve­ly and think more careful­ly befo­re their weekly shop. Child­ren are wea­ring hand-me-down uni­forms rather than new ones made in sweatshops. 

Mich erin­nert das an die Beob­ach­tung u.a. von Sil­ke Klein­hü­ckel­kot­ten (wenn ich mich jetzt an den rich­ti­gen Text erin­ne­re), dass die in der tat­säch­li­chen Wir­kung „grüns­ten“ Milieus nicht die Post­ma­te­ria­lis­ten sind, son­dern eher rela­tiv arme, mit Spar­sam­keits­wer­ten auf­ge­wach­se­ne tra­di­tio­nel­le Milieus. Das könn­te als Gegen­pol zum Luxus­grün auch als „Not­wen­dig­keits­grün“ bezeich­net wer­den (oder auch als „unfrei­wil­li­ge Umweltschützer“).

Aller­dings hat Armut (über deren Uner­wünscht­heit geht es hier gar nicht) nicht nur öko­lo­gisch posi­ti­ve Effek­te. Neben den von Thom­son beschrie­be­nen ste­hen die feh­len­den Mög­lich­kei­ten, mit­tel­fris­tig in öko-spar­sa­me Pro­duk­te zu inves­tie­ren. Thom­son spricht von wei­ter­ge­nutz­ten Wasch­ma­schi­nen und Kühl­schrän­ken – genau die sind aber eben­so wie schlecht­ge­dämm­te Woh­nun­gen mög­li­cher­wei­se ein gro­ßes öko­lo­gi­sches Pro­blem. Und wer gezwun­gen ist, die bil­ligs­ten Nah­rungs­mit­tel zu wäh­len, schmeißt die­se zwar viel­leicht nicht weg, trägt aber trotz­dem unge­wollt zur Ver­stär­kung indus­tri­el­ler Agrar­wirt­schaf­ten und zu lan­gen Trans­port­kreis­läu­fen bei. Not­wen­dig­keits­grün muss also nicht unbe­dingt funk­tio­nie­ren. Das kann an feh­len­den idel­len Wer­ten lie­gen (Spar­sam­keit und auch das von Thom­son eben­falls ange­führ­te Bei­spiel, selbst Gemü­se anzu­bau­en, funk­tio­nie­ren nur mit ent­spre­chen­dem Wis­sen), die feh­len­den mate­ri­el­len Wer­te kön­nen zu öko­lo­gi­schen Fehl­al­lo­ka­tio­nen füh­ren, und feh­len­de Rah­men­be­din­gun­gen (Dis­coun­ter nimmt Bio wie­der aus dem Ange­bot, um nur ein Bei­spiel zu wäh­len) zei­gen die Abhän­gig­keits­struk­tu­ren deut­lich auf, unter denen Not­wen­dig­keits­grün steht. 

Damit wird auch poli­ti­scher Hand­lungs­be­darf in allen drei Berei­chen sicht­bar: in der Popu­la­ri­sie­rung der Wis­sens- und Wert­grund­la­gen eines trag­fä­hi­gen „Suf­fi­zi­enz­le­bens­stil“ (der ja – eben­so wie Sub­sis­tenz – durch­aus mit Spar­sam­keit und nicht Aske­se ver­markt­bar ist), in der Unter­stüt­zung öko­lo­gi­scher Inves­ti­to­nen bei feh­len­den Ein­kom­men (der Öko-Bonus geht in die­se Rich­tung, aber auch mobi­le Ener­gie­spar-Bera­tun­gen sozia­ler Ein­rich­tun­gen, die es neu­er­dings gibt), aber auch in der ord­nungs­po­li­ti­schen Steue­rung der Rah­men­be­din­gun­gen (d.h. letzt­lich auch: Inter­na­li­sie­rung exter­ner Kon­se­quen­zen in Preis­struk­tu­ren, auch wenn das erst mal unso­zi­al aussieht).

Soweit ein paar ers­te rohe Über­le­gun­gen zur Fra­ge, ob das Ende der LOHAS-Wel­le erreicht ist, und was danach kom­men könnte.

War­um blog­ge ich das? Mich inter­es­siert der schein­bar kon­junk­tur­ab­hän­gi­ge Zusam­men­hang von Umwelt und Milieu, aber auch die poli­ti­sche Fra­ge, wie unter wirt­schaft­lich schwie­ri­ger wer­den­den Bedin­gun­gen Nach­hal­tig­keit gestal­tet wer­den kann.

Die Freude, Papier in der Hand zu halten

Titel Mensch – Technik – Ärger?

Auch in digi­ta­len Zei­ten erfreut es einen – mich jeden­falls – dann doch immer noch, eige­ne Tex­te schwarz auf weiss gedruckt in der Hand zu hal­ten. In die­sem Fall han­delt es sich um mei­nen Bei­trag „Trans­for­ma­ti­on durchs Tele­fon?“, der im end­lich erschie­ne­nen Sam­mel­band Mensch – Tech­nik – Ärger? von Dori­na Gumm, Moni­que Lanneck, Roman Lan­ger und Edouard J. Simon ent­hal­ten ist. Eine Zusam­men­fas­sung der forst­re­le­van­te Sei­te davon ist schon vor ein paar Wochen in den Forst­tech­ni­schen Infor­ma­tio­nen (FTI) erschie­nen (und wird ab Herbst/Winter 2008 unter der FTI-Web­site auch online abruf­bar sein). 

Ziel des Sam­mel­ban­des – die Arbeit dazu begann schon im Herbst 2006 und zog sich u.a. des­we­gen lan­ge hin, weil es rein Review-Ver­fah­ren gab – war es, das The­ma „Immer Ärger mit der Tech­nik?“ inter- und trans­dis­zi­pli­när auf­zu­drö­seln. Ich habe dazu das Fall­bei­spiel Mobil­te­le­fon gewählt und mir ange­schaut, wie die­se kon­kre­te Infor­ma­ti­ons- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gie mit dazu bei­getra­gen hat bzw. dafür genutzt wur­de, Struk­tu­ren aus­ge­la­ger­ter Arbeit (Forst­dienst­leis­ter) in der Forst­wirt­schaft zu schaf­fen – und damit natür­lich auch ganz neue Poten­zia­le für Ärger. Den theo­re­ti­schen Hin­ter­grund dafür bil­de­te die Idee der Netz­werk­ge­sell­schaft, wie sie Cas­tells ent­wi­ckelt und neu­er­dings auch in Rich­tung Mobil­te­le­fon adap­tiert hat. Am forst­li­chen Bei­spiel wird sicht­bar, wie das Mobil­te­le­fon sowohl als nütz­li­ches Werk­zeug wie auch als „vir­tu­el­le Fes­sel“ fun­gie­ren kann – und dass dar­über, also auch über das Aus­maß an Ärger­lich­keit, weni­ger die Tech­nik selbst als viel­mehr die sozia­le Gestal­tung der Tech­nik­nut­zung, also die akzep­tier­ten Prak­ti­ken und Erwar­tun­gen ent­schei­den (wann darf das Mobil­te­le­fon aus­ge­schal­tet wer­den, ohne als Kleinst­un­ter­neh­mer wirt­schaft­li­che Sank­tio­nen erwar­ten zu müs­sen?). Inso­fern fin­den sich in mei­nem Text – im Samm­eband selbst wird er vor allem als Bei­trag zum The­ma Arbeits­welt dis­ku­tiert – auch über den forst­li­chen Kon­text hin­aus­ge­hen­de Anschlüs­se und Überlegungen.

Zum Sam­mel­band ins­ge­samt: er ist zwar trans­dis­zi­pli­när ange­legt, aber letzt­lich doch ziem­lich IT-las­tig gewor­den; Tech­nik wird in vie­len Bei­trä­gen sehr stark ein­ge­grenzt auf „infor­ma­ti­ons­tech­ni­sche Sys­te­me“, und vie­le AutorIn­nen haben einen direk­ten oder (selbst bei mir) zumin­dest indi­rek­ten Infor­ma­tik­hin­ter­grund. Das fin­de ich inso­fern ein biß­chen scha­de, als das Buch ins­ge­samt damit sei­nen eige­nen Anspruch nur teil­wei­se ein­löst. Trotz­dem sind für sich genom­men eini­ge sehr span­nen­de Bei­trä­ge her­aus­ge­kom­men. Für mich per­sön­lich fand ich vor allem drei Tex­te brauch­bar: Peter Bröd­ner zum „Elend com­pu­ter­un­ter­stüt­zer Orga­ni­sa­ti­on“, Paul F. Sie­gert zur Tech­nik­ge­schich­te der E‑Mail und den Abschluss­text von Roman Lan­ger et al., in dem ein Modell skiz­ziert wird, sozio­tech­ni­sche Sys­te­me zu erfor­schen, das vie­les aus der Tech­nik­so­zio­lo­gie auf­nimmt, was mir auch sinn­voll erscheint. Das mag aber je nach Inter­es­sen­schwer­punk­ten auch ganz anders aus­se­hen. Wer sich ganz kon­kret mit Infor­ma­ti­ons­tech­nik­so­zio­lo­gie (oder dem Bereich „Infor­ma­tik und Gesell­schaft“) befasst, wird eine gan­ze Men­ge mehr brauch­ba­res finden.

Lite­ra­tur­an­ga­ben
Gumm, Dori­na / Janneck, Moni­que / Lan­ger, Roman / Simon, Edouard J. (Hrsg.) (2008): Mensch – Tech­nik – Ärger? Zur Beherrsch­bar­keit sozio­tech­ni­scher Dyna­mik aus trans­dis­zi­pli­nä­rer Sicht. Müns­ter: LIT. 24,90 Euro, 209 Sei­ten, ISBN 3–8258-1347–9. Bei Ama­zon bestellen.

Wes­ter­may­er, Till (2008): »Immer erreich­bar sein? Über­le­gun­gen zum forst­li­chen Mobil­te­le­fon«, in Forst­tech­ni­sche Infor­ma­tio­nen, Jg. 60, Nr. 3+4/2008, S. 25–29.

Wes­ter­may­er, Till (2008): »Trans­for­ma­ti­on durchs Tele­fon? Mobi­le Kom­mu­ni­ka­ti­on und die Aus­la­ge­rung von Arbeit in der Netz­werk­ge­sell­schaft, dar­ge­stellt am Bei­spiel forst­li­cher Dienst­leis­tungs­un­ter­neh­men«, in Gumm et al., S. 135–152.

War­um blog­ge ich das? Ein biß­chen auch als Reak­ti­on auf den wis­sen­schaft­li­chen Her­stel­lungs­pro­zess, der für mich zeit­wei­se eher nach „Immer Ärger mit dem Buch?“ klang – für die Her­aus­ge­be­rIn­nen war das sicher noch deut­lich stär­ker so. Was mich immer noch nicht ganz über­zeugt, ist die Buch­ge­stal­tung – das Titel­bild ist gelun­gen, der Innen­teil sieht lei­der stark nach print on demand aus, was eigent­lich nicht not­wen­di­ger­wei­se so sein müss­te, selbst wenn die­ses Her­stel­lungs­ver­fah­ren gewählt wird.

Soziologie, die unreine Wissenschaft?


Quel­le: xkcd

xkcd bringt ein (aus Sozio­lo­gen­sicht) oft gehör­tes Vor­ur­teil auf den Punkt: Sozio­lo­gie als unreins­te Wis­sen­schaft, nichts wei­ter als eine (schlech­te) Ablei­tung aus den Natur­wis­sen­schaf­ten. Viel­leicht will ja jemand was dazu sagen – mög­li­cher­wei­se ist’s gera­de die feh­len­de Rein­heit, die zum Erkennt­nis­ge­winn beiträgt.

Lesenswert: Wovon Menschen leben

Cover »Wovon Menschen leben«Die Mün­che­ner anstif­tung ist eine der klei­ne­ren, wenig bekann­ten Stif­tun­gen – umso inter­es­san­ter erscheint mir das, was dort gear­bei­tet wird. Ein in jeder Hin­sicht hand­fes­tes Ergeb­nis der Arbeit der anstif­tung ist das Buch „Wovon Men­schen leben. Arbeit, Enga­ge­ment und Muße jen­seits des Mark­tes“ der Sozio­lo­gin­nen Andrea Bai­er, Chris­ta Mül­ler und Karin Wer­ner (mit Foto­gra­fien von Cor­ne­lia Suhan). 

Ich bin auf die­ses Buch gesto­ßen, weil mich das The­ma Nach­hal­tig­keit und Lebens­sti­le auf­grund mei­nes Pro­mo­ti­ons­vor­ha­bens beschäf­tigt. Aber anders als vie­le ande­re Bücher zu die­sem The­men­feld geht es bei „Wovon Men­schen leben“ nun zwar auch um die wis­sen­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung: um einen neu­en Begriff von Arbeit, der in der Tra­di­ti­on von Ben­n­holdt-Thom­sen die Bedeu­tung von Sub­sis­tenz, also Pro­duk­ti­on, die sich am eige­nen Leben und nicht am Markt ori­en­tiert, in den Vor­der­grund stellt; um die Fra­ge, wie Sub­sis­tenz und das Leben in einer funk­tio­nal dif­fe­ren­zier­ten Gesell­schaft zusam­men­passt (oder ob es nicht eben gera­de die infor­mel­len Zwi­schen­stü­cke sind, die das Funk­tio­nie­ren einer sol­chen Gesell­schaft erst ermög­li­chen); um den Zusam­men­hang zwi­schen Sub­sis­tenz, Indi­vi­du­um und Gemein­schaft; und nicht zuletzt um die Fra­ge, ob Sub­sis­tenz (im Sin­ne der Kon­sum­ver­zicht posi­tiv wer­ten­den Suf­fi­zi­enz­stra­te­gie) zu mehr Nach­hal­tig­keit im All­tag füh­ren kann. 

Das ist jedoch nur die eine Sei­te des Buches. Die ande­re besteht aus 28 Por­träts ein­zel­ner Men­schen und Paa­re, zu deren All­tag „Arbeit, Enga­ge­ment und Muße jen­seits des Mark­tes“ gehört. Die­se Por­träts sind die Grund­la­ge inten­si­ver Inter­view- und Beob­ach­tungs­tä­tig­keit der For­sche­rin­nen, wer­den hier aber nicht nüch­tern prä­sen­tiert, son­dern die Autorin­nen neh­men bewusst Stel­lung, gehen auf die Posi­ti­on der Befrag­ten ein und stel­len die­se mit­füh­lend und „unver­hoh­len sym­pa­thi­sie­rend“ dar. Beglei­tet wer­den die­se Por­träts von schö­nen Foto­gra­fien und einer DVD, auf der Video­ma­te­ri­al aus den Inter­views ent­hal­ten ist. Geord­net haben die Autorin­nen die Por­träts nach vier Kate­go­rien: „Für ande­re sor­gen“, „Nah­raum gestal­ten“, „Natur erle­ben – Natur bewah­ren“, „Sel­ber machen“ – damit sind auch die The­men ange­spro­chen, die das Buch als rote Fäden durchziehen. 

Ein biß­chen – aber mit ande­ren Gewich­tun­gen, und einer ande­ren Aus­sa­ge – erin­nert das Buch an Ulrich Becks „Eige­nes Leben“, das eben­falls auf die Kom­bi­na­ti­on aus Ana­ly­se, Por­trät und Foto­gra­fie auf­baut. Aller­dings ist Becks Blick auf die Welt ein ande­rer. Viel­leicht macht fol­gen­des Zitat die Grund­hal­tung der Autorin­nen am bes­ten deutlich:

Wir woll­ten nicht nach den Defi­zi­ten der Men­schen Aus­schau hal­ten – z.B. ihrer man­geln­den Bereit­schaft in Sachen umwelt­be­wuss­tes Han­deln -, wir woll­ten viel­mehr wis­sen, wel­che posi­ti­ven Ansät­ze es für Nach­hal­tig­keit, sprich die Erhal­tung der natür­li­chen und sozia­len Res­sour­cen, im ganz nor­ma­len All­tag ganz nor­ma­ler Leu­te gibt. (S. 18)

Auch das Buch selbst ist – viel­leicht sogar ein biß­chen unüb­lich für das The­ma beim oekom-Ver­lag – als schön gestal­te­tes Hard­co­ver erschie­nen; das passt zur Grund­hal­tung, die die theo­re­ti­schen Über­le­gun­gen und die Por­träts durch­zieht: die Vor­stel­lung, dass auch im hier und jetzt ein „gutes Leben“ im bes­ten Sin­ne mög­lich ist.

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Andrea Bai­er, Chris­ta Mül­ler, Karin Wer­ner (2007): Wovon Men­schen leben. Arbeit, Enga­ge­ment und Muße jen­seits des Mark­tes. Mün­chen: oekom. 301 Sei­ten plus DVD, Hard­co­ver. 24,90 Euro. Bei Ama­zon kau­fen.

Mit der neu­en Rubrik „Lesens­wert“ möch­te ich kur­ze Hin­wei­se auf inter­es­san­te Bücher geben.