Science Fiction und Fantasy im Januar 2024

Alter Friedhof, Freiburg - X

Zwei sehr unter­schied­li­che Bücher haben mich in die­sem Janu­ar sehr beein­druckt. Das ist zum einen The Saint of Bright Doors von Vajra Chandra­se­kera (2023). Fet­ter ist der Sohn eines Pro­phe­ten wird von sei­ner Mut­ter mit dem Ziel erzo­gen, die­sen Pro­phe­ten umzu­brin­gen. Er hat kei­nen Schat­ten, kann Geis­ter sehen und hat auch sonst die eine oder ande­re magi­sche Fähig­keit. In der von Chandra­se­kera ima­gi­nier­ten Welt mit vager süd-asia­ti­scher Anmu­tung ist das kei­ne Unge­wöhn­lich­keit. Gleich­zei­tig gibt es hier Mobil­te­le­fo­ne und Rea­li­ty TV, im Streit mit­ein­an­der lie­gen­de Par­tei­en, und, wie sich nach und nach her­aus­stellt, ein proto­fa­schis­ti­sches Regime, das Men­schen ohne Ankla­ge weg­sperrt. Vor die­sem Hin­ter­grund eman­zi­piert sich Fet­ter in der gro­ßen Stadt von sei­ner Kind­heit, scheint ein Leben jen­seits des Über­sinn­li­chen zu fin­den, um am Ende doch vor der Fra­ge zu ste­hen, wie er sich sei­nem Vater gegen­über ver­hal­ten soll. Die titel­ge­ben­den ver­wun­sche­nen Türen sind – zur War­nung – knall­bunt ange­stri­chen, und ein biss­chen ist das ein Detail, das für das Buch steht: tur­bu­lent, magisch, und doch glaub­wür­dig – und mit gro­ßen Fra­gen, die sich dahin­ter verstecken.

In gewis­ser Wei­se eben­falls ein Buch über Faschis­mus (und eine ande­re Her­an­ge­hens­wei­se an typi­sche SF-Moti­ve) in einem Sci­ence-Fic­tion-Set­ting ist zum ande­ren Some Despe­ra­te Glo­ry von Emi­ly Tesh (2023). Die Haupt­per­son, Val­kyr, ist Teil einer mili­ta­ris­ti­schen Wider­stands­be­we­gung Gaea, in der sich die letz­ten Über­le­ben­den der Erde nach deren Zer­stö­rung zusam­men­ge­fun­den haben, um gegen das feind­li­che, aus vie­len unter­schied­li­chen Spe­zi­es bestehen­de Ali­en-Reich zu kämp­fen, die eine Wun­der­waf­fe besit­zen. Val­kyr ist wie ihre Altersgenoss*innen Teil eines bru­ta­len Trai­nings­re­gimes mit dem Ziel, sie zu einer Eli­te­kämp­fe­rin zu machen. Pri­vat­sphä­re gibt es nicht, und der ein­zi­ge Lebens­zweck ist es, Rache an den Ali­ens zu neh­men. Val­kyr fal­len Unge­reimt­hei­ten auf. Nach und nach kom­men ihr Zwei­fel, die in einer Flucht aus Gaea mün­den. Das umfasst unge­fähr das ers­te Drit­tel des Buchs, und mehr will ich hier nicht ver­ra­ten, nur: es gibt meh­re­re Kipp­punk­te, an denen Tesh die gan­ze Geschich­te auf den Kopf stellt. Ins­ge­samt ist das ein her­vor­ra­gend geschrie­be­nes Buch, das nach und nach die gan­zen Annah­men der typi­schen mili­ta­ris­ti­schen Space Ope­ra aus­ein­an­der­nimmt, über Trau­ma­ta und Pro­ble­me spricht, für die es kei­ne ein­fa­che Lösung gibt. Ich fin­de den Ver­gleich mit Le Guin durch­aus gerechtfertigt.

Was habe ich noch gele­sen: Trans­re­al Cyber­punk (2016) ist ein Buch, in dem gemein­sam von Rudy Rucker und Bruce Ster­ling geschrie­be­ne Kurz­ge­schich­ten – von den 1980er Jah­ren bis heu­te – gesam­melt sind, jeweils mit einem Kom­men­tar der bei­den Autoren ver­se­hen, der eben­falls inter­es­sant ist. Allen Kurz­ge­schich­ten – die über­dreht mit Moti­ven des Cyber­punk und der Tech-Bubble spie­len – ist gemein­sam, das es jeweils ein mehr oder weni­ger kon­flik­tär zuein­an­der ste­hen­des Paar an Haupt­per­so­nen gibt, von denen eine das Alter Ego Ruckers, die ande­re das Alter Ego Ster­lings ist. Das Ergeb­nis ist min­des­tens amüsant.

Mit Ever­y­whe­re (2019) von Ian MacLeod habe ich noch einen zwei­ten Kurz­ge­schich­ten­band gele­sen (Ian MacLeod bit­te weder mit Ian McDo­nald noch mit Ken MacLeod ver­wech­seln!) – die­se Kurz­ge­schich­ten sind sehr natu­ra­lis­tisch geschrie­ben, sind teil­wei­se sehr düs­ter, ohne dass das auf den ers­ten Blick zu sehen ist, und haben alle einen SF/­Fan­ta­sy-Dreh.

Gele­sen habe ich dann noch Seth Dick­in­sons Exor­dia (2024), das gera­de erschie­nen ist. Gar nicht so ein­fach zu sagen, was ich davon hal­ten soll – einer­seits ist das ein extrem packen­des Buch, schließ­lich steht schon wie­der das Schick­sal der Mensch­heit auf der Kip­pe, und neben­bei wird es in die­sem SF-Thril­ler sehr nerdig, wenn es etwa um Prim­zahl­theo­rien, rei­ne Mathe­ma­tik oder Frak­ta­le geht (oder auch um die Geschich­te Kur­di­stans). Ande­rer­seits funk­tio­niert das Buch nur, weil See­len, eine Schöp­fungs­gott­heit und das abso­lut Böse als real ange­nom­men und dar­ge­stellt wer­den – und zum Gegen­stand von außer­ir­di­schen inge­nieur­tech­ni­schen Meis­ter­leis­tun­gen wer­den. Auch wenn das im Augen­blick des Lesens passt, bleibt ein selt­sa­mer Nachgeschmack.

Eben­falls düs­ter, eben­falls mit einer Erde, die vor ihrer Ver­nich­tung steht: Simon Stå­len­hags Bild­band The Laby­rinth (2021). Der war mir zu düs­ter, viel­leicht weil die unbe­schwert-nost­al­gi­schen Zwi­schen­tö­ne aus Tales from the Loop hier fehlten. 

Und jen­seits von SF & Fan­ta­sy habe ich noch Die Erfin­dung des Lächelns von Tom Hil­len­brand (2023) gele­sen – aus dem tat­säch­lich gesche­he­nen Raub der Mona Lisa 1911 zau­bert Hil­len­brand hier ein – wie heißt das so schön – Sit­ten­ge­mäl­de der Zeit vor den bei­den Welt­krie­gen, ein Paris, in dem tech­ni­sche, poli­ti­sche und künst­le­ri­sche Revo­lu­tio­nen auf­ein­an­der sto­ßen, und in dem es plau­si­bel erscheint, dass Picas­so gemein­sam mit Apol­lin­aire hin­ter dem Dieb­stahl der Mona Lisa steckt.

Auf dem Bild­schirm habe ich mir die Fol­gen 3 und 4 des Doc­tor Who Christ­mas Spe­cials ange­schaut, die ich deut­lich über­zeu­gen­der fand als 1 und 2, und außer­dem Zack Sny­ders Rebell Moon – bild­ge­wal­tig, aber ansons­ten eher Patch­work aus schon oft gese­he­nen Stücken.

Leseprotokoll September – Oktober 2017

Neben Mal­te Spitzs Sach­buch Daten – das Öl des 21. Jahr­hun­derts? Nach­hal­tig­keit im digi­ta­len Zeit­al­ter habe ich auch im Herbst 2017 in Buch­form vor allem Sci­ence Fic­tion und Fan­ta­sy gele­sen (und begon­nen, The Expan­se und Star Trek: Dis­co­very anzuschauen).

Das mit dem „gele­sen“ trifft nicht ganz zu auf Simon Sta­len­hågs Buch Tales from the Loop, das ich trotz­dem heiß emp­feh­len kann: Sta­len­håg malt Bil­der, in denen v.a. skan­di­na­vi­sche Land­schaft sich mit tris­ten Robo­tern, den neu­es­ten Tech­no­lo­gien der 1980er Jah­re einer Alter­na­tiv­welt und nicht ganz ech­ten schwe­di­schen Staats­kon­zer­nen mischen. Mit den Tales from the Loop ist eine wun­der­ba­re Geschich­ten­samm­lung zu die­sen Bil­dern her­aus­ge­kom­men, die so etwas wie eine Retro­cy­ber­punk­kind­heit aus der skan­di­na­vi­schen Pro­vinz zusam­men­bin­det. Wer mag, kann auch an Bla­derun­ner [2049] nahe am Polar­kreis den­ken. Kos­ten­pro­ben von Sta­len­hågs Stil gibt es auf sei­ner Web­site.

Auch Syl­vain Neu­vels Buch Waking Gods – die Fort­set­zung von Slee­ping Giants hat etwas mit über­gro­ßen Robo­tern zu tun. In die­sem Fall: außer­ir­di­schen Ursprungs und auf der Erde gefun­den. Die Macht­spie­le aus dem ers­ten Band haben ein vor­läu­fi­ges Ende gefun­den, doch plötz­lich tau­chen wei­te­re Robo­ter auf, und erwei­sen sich als unfreund­lich. Wie reagieren?

Gele­sen habe ich N.K. Jemi­sins The Stone Sky, eben­falls eine Fort­set­zung und nach The Fifth Sea­son und The Obe­lisk Gate der drit­te (und fina­le?) Teil von Jemi­sins Bro­ken-Earth-Serie. Wei­ter­hin sind die Oro­ge­ne Essun und ihre eben­falls oro­ge­nisch begab­te Toch­ter Nas­sun der Fokus­punkt der Geschich­te. Im drit­ten Band wird nach und nach deut­lich, wie es zu der ers­ten glo­ba­len Kata­stro­phe („fifth sea­son“) kam, und wie die magisch erschei­nen­den Fähig­kei­ten der Oro­ge­nen und der Stein­es­ser eigent­lich funk­tio­nie­ren. Auch hier gilt, dass hoch genug ent­wi­ckel­te Tech­no­lo­gie wie Zau­be­rei erschei­nen kann. Essun und Nas­sun ent­wi­ckeln (auf ihren unab­hän­gig von­ein­an­der statt­fin­den­den Ques­ten) unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen davon, was die rich­ti­ge Ant­wort auf die Kon­flik­te zwi­schen „Nor­ma­len“, Oro­ge­nen und Stein­es­sern sein könn­te, und wie mit dem aus der Bahn gera­te­nen Mond der Erde umzu­ge­hen ist. Erst im Fina­le begeg­nen sie sich – und zer­ren in unter­schied­li­che Rich­tun­gen. Mehr sei hier nicht ver­ra­ten, The Stone Sky ist jeden­falls ein ful­mi­nan­ter Abschluss einer ganz ande­ren Art von Sci­ence Fiction/Fantasy.

Kei­ne Fort­set­zung, auch wenn der Roman im sel­ben Uni­ver­sum wie ihre vor­he­ri­gen Bücher spielt, ist Ann Leckies Pro­ven­an­ce. Dadurch, dass dies­mal nicht die sehr anders wir­ken­den Rad­ch und deren AI im Mit­tel­punkt ste­hen (auch wenn die­se eben­so wie die kom­plett außer­ir­di­schen Geck am Ran­de auf­tau­chen), son­dern die für uns nähe­ren Bewohner*innen von Hwae, fand ich es ein­fa­cher, eine Bezie­hung zu den Haupt­per­so­nen auf­zu­bau­en. Es geht in Pro­ven­an­ce vor­der­grün­dig um Aben­teu­er mit Raum­schif­fen und auf unter­schied­li­chen Pla­ne­ten, mit­tel­grün­dig um poli­ti­sche Ver­wick­lun­gen und Macht­spie­le, und letzt­lich dar­um, wie Ingray Aughskold trotz des Drucks ihrer berühm­ten Adop­tiv­mut­ter Net­a­no Aughskold einen eige­nen Weg fin­det, sowas wie late coming of age also. In der Mischung sehr lesenswert.

Ganz anders Nico­la Grif­fiths Hild: ein his­to­ri­scher, sehr umfang­rei­cher Roman, der zur Zeit der Chris­tia­ni­sie­rung des angel­säch­si­schen Eng­lands spielt. Die Haupt­per­son Hild leb­te – so Grif­fith – tat­säch­lich, und wur­de ca. 614 als Toch­ter des Königs Here­ric von Dei­ra gebo­ren. Aus ihrem ech­ten Leben ken­nen wir nur Bruch­stü­cke – 627 wur­de sie getauft, 647 tritt sie in East Anglia eine Schiffs­rei­se nach Gal­li­en an. Grif­fiths Roman ist eine fik­ti­ve Bio­gra­phie von Hild, die der Fra­ge nach geht, wie aus den klei­nen, zer­strit­te­nen angel­säch­si­schen König­rei­chen tat­säch­li­che Staa­ten wur­den. Sie zeich­net Hilds Weg von ihrer Kind­heit über ihre „Ent­de­ckung“ als heid­ni­sche Sehe­rin und enge Bera­te­rin des Königs an einem der klei­nen Königs­hö­fe bis zum Auf­bau eines eige­nen Haus­halts am Ende vie­ler Schlach­ten (und nicht, wie in der Rea­li­tät, als Äbtis­sin eines Klos­ters). Das alles wohl rela­tiv nah an dem, was über das Leben im 7. Jahr­hun­dert bekannt war – und mit einem, wie mir scheint, dezi­diert femi­nis­ti­schen Blick auf die dama­li­gen Geschlech­ter­rol­len. Ich habe jeden­falls eini­ge gelernt – nicht nur über das begin­nen­de Mit­tel­al­ter, son­dern auch über die Geschich­te der eng­li­schen Spra­che, denn nor­man­ni­sche Lehn­wör­ter gibt es in die­sem Buch noch nicht. 

Eben­falls um klei­ne König­rei­che und eine Reichs­grün­dung geht es in Ken Lius The Grace of Kings – dies­mal aller­dings in einem fik­ti­ven süd­ost­asia­ti­schen Set­ting, dem Insel­reich Dara. Den Auf­stieg des trick­rei­chen Kuni Garus vom rebel­li­schen Tau­ge­nichts zum Kai­ser zu ver­fol­gen, ist durch­aus amü­sant; nicht zuletzt durch die immer wie­der dazwi­schen geschal­te­ten Inter­ven­tio­nen der Göt­ter und Göt­tin­nen Dar­as. Nicht die Chry­san­the­me, son­dern der zähe und viel­fach nütz­li­che Löwen­zahn ist das Leit­mo­tiv von Kuni Garu, und sei­ne Phi­lo­so­phie und sein Han­deln – mit allen Rück­schlä­gen und Erfol­gen – haben etwas von Till Eulen­spie­gel. Am Ende, nach vie­len Intri­gen und Ver­wick­lun­gen, ist Kuni Garu zwar Kai­ser – aber er steht auch vor gro­ßen Zwei­feln und einem Scher­ben­hau­fen sei­ner Inte­gri­tät. Lius Buch ist der ers­te Band einer Tri­lo­gie, aber eigent­lich kann sich im zwei­ten (der bereits erschie­nen ist), nur als Tra­gö­die wie­der­ho­len, was hier mehr oder weni­ger Far­ce war. Inso­fern weiß ich noch nicht, ob ich ihn lesen will.

Intri­gen­rei­che Poli­tik mit Thril­ler­ele­men­ten geht auch ohne König­rei­che, ja sogar ohne Natio­nal­staa­ten. Wenn es das Gen­re des „poli­ti­cal sci­ence fic­tion“ gäbe, wäre Mal­ka Older des­sen Haupt­ver­tre­te­rin. Sie hat jetzt mit Null Sta­tes die Fort­set­zung von Info­mo­cra­cy vor­ge­legt. Wäh­rend Info­mo­cra­cy sich auf das Innen­le­ben der Mikro­de­mo­kra­tie – eine in „Cen­tenals“, also jeweils 100.000 Wahl­be­rech­tig­te in einem geo­gra­fi­schen Bezirk, orga­ni­sier­te Welt – kon­zen­trier­te, wei­tet sich in Null Sta­tes der Blick – auf die Tran­si­ti­on von einer Super­mehr­heit zur ande­ren, die ganz und gar nicht rei­bungs­los ver­läuft, auf den Über­gang von Staa­ten und Frei­heits­be­we­gun­gen zu Cen­tenals – hier: im Sudan, im Kau­ka­sus – und vor allem auf die wei­ter bestehen­den, in ihrem Ein­fluss geschrumpf­ten Natio­nal­staa­ten, den weit­ge­hend ohne die all­ge­gen­wär­ti­ge Trans­pa­renz (und Über­wa­chung) durch die trans­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on „Infor­ma­ti­on“ aus­kom­men, „null sta­tes“ also. Ein Krieg zwi­schen Kir­gi­si­stan und Kasach­stan droht auf die angren­zen­den Cen­tenals über­zu­grei­fen, aber auch die Res­te Chi­nas und der Schweiz wer­den zum Teil des Plots. Glo­ba­li­sier­te poli­ti­sche Sci­ence Fic­tion mit viel Hin­ter­grund­wis­sen über das Innen­le­ben inter­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen – auf jeden Fall empfehlenswert!

Last but not least habe ich zur Abwechs­lung mal ein Buch auf deutsch gele­sen – Marc-Uwe Kling hat mit Qua­li­ty­Land eine bei­ßen­de Sati­re über unse­re zuneh­mend ver­netzt-kom­mer­zia­li­sier­te Gegen­wart geschrie­ben. In der nahen Zukunft ori­en­tiert sich Poli­tik an PR, und das Leben wird durch Likes und Matches bestimmt. Ich habe die „dunk­le Edi­ti­on“ gele­sen, aber auch die „hel­le“ soll emp­feh­lens­wert sein. Ich wür­de fünf von fünf Ster­nen dafür geben, und hof­fe, dass ich damit mein Ran­king erhal­ten kann, und nicht gesell­schaft­lich absinke.