92 % der Deutschen sind für Internetsperren im Kampf gegen Kinderpornographie. Und 90 % der Deutschen sind gegen Internetsperren im Kampf gegen Kinderpornographie. Zwei repräsentative Umfragen innerhalb von zehn Tagen, beide von infratest dimap durchgeführt. Was daran nicht stimmt, und warum das ganze ein schönes Beispiel dafür ist, wie manipulierbar Meinungsumfragen sind – und wie gut sich damit PR machen lässt – steht bei heise und auf ZEIT online. Meine Einschätzung: Hat die Chance, zum Lehrbuchbeispiel für die Gefahren manipulativer Fragen in der empirischen Sozialforschung zu werden.
Kurz zu Amazonfail, und dann darüber hinaus
Nur ein kurzer Hinweis auf die Causa Amazonfail (etwa „Amazon-Fehlschlag“). Seit einiger Zeit listet Amazon keine Bücher mit LGBT-Content (Lesbian, Gay, Bi, Trans) in den Rankings, und damit auch nicht mehr in den Bestseller-Listen und Empfehlungen. Großer Netzaufschrei, weil Amazon-Amis das Netz „sauber“ halten wollen, um die prüden Mainstream-KundInnen nicht zu verprellen.
Unerwartete Wendung: möglicherweise war Amazon nur sehr indirekt schuld – tehdely skizziert die Möglichkeit eines „Angriffs“ auf das Reputationssystem von Amazon, und weev behauptet, es gewesen zu sein (oder vielleicht auch nicht). Das dort skizzierte Vorgehen: erstelle über die Programmierschnittstelle eine Liste sämtlicher Produkte, die mit „gay“ oder „lesbian“ gekennzeichnet sind, nutze ein paar Sicherheitslücken bzw. die Möglichkeit des billigen Outsourcens von Routinetasks aus, und bewerte all diese Titel hunderte Male als „adult only“. Fertig. Und Amazon wundert sich über verärgerte AutorInnen und KundInnen.
Keine Ahnung, was wirklich dahintersteckt. Zwei Dinge werden durch „amazonfail“ aber definitiv sichtbar: das Potenzial von Nahezumonopolisten wie Amazon, zu steuern, was im Netz sichtbar ist und was nicht, und damit so etwas ähnliches wie Zensur auszuüben – ganz ohne Legitimation -, und zweitens, dass Trust- und Reputationssysteme sich mit genügend Geduld leicht „hacken“ und zu allem möglichen missbrauchen lassen.
Eine weit vom eigentlich Fall entfernt liegende Schlussfolgerung, über die ich mir (unabhängig von den hundert damit verbundenen Umsetzungsproblemen) immer mal wieder Gedanken mache: wäre es an der Zeit, eine Verstaatlichung nahezumonopolisierter Netzräume zu fordern? Durch die Netzwerkstruktur des Internet gibt es immer wieder Nahezumonopole für bestimmte Funktionen – diejenigen, die diese als erste oder als für einen bestimmten Zeitraum beste anbieten, und dann verwendet werden, weil alle sie verwenden. Bei Google oder Amazon ist diese Monopolisierung nicht notwendigerweise gegeben, bei allem, was in Richtung „social software“ geht, liegt es in der Natur der Sache, dass die Plattform oder das Medium, das „alle“ verwenden, am ehesten auch von den denen genutzt wird, die später dazu kommen (Bsp. Facebook). Aufmerksamkeitsspiralen.
Interessant wird es, wenn diese Anbieter quasi-öffentliche Leistungen zur Verfügung stellen. Die Navigation im Netz (Google). Die Kommunikation in einem neuen sozialen Raum (Facebook). Ein Medium für schnelle, synchrone, auf bestimmter Nutzerkreise beschränkte many-to-many-Kurznachrichten (Twitter). Der Zugriff auf gedruckte Bücher weltweit (Amazon)? Wenn hier Nahezu-Monopol und böse Absicht zusammenkommen – oder auch nur Sicherheitslücken und damit Ausfälle – dann fallen relativ essentielle gesellschaftliche Leistungen aus. Die Sichtbarkeit von lesbischer oder schwuler Literatur, im aktuellen Fall.
Ist es tatsächlich der Markt, der hier am besten agiert. Oder bräuchte es – wenn schon keine Verstaatlichung dieser Leistungen; wie die EU-Suchmaschinenprojekte gezeigt haben, kommt dabei nicht unbedingt sinnvolles heraus – zumindest einen globalen ordnungspolitischen Rahmen, der garantiert, dass die Nahezu-Monopolisten eben nicht politisch nicht legitimierte Zensur etc. ausüben, bzw. Schnittstellen anbieten, um Aufmerksamkeitsmonopole aufzubrechen. Nur mal so als Denkanregung.
Warum blogge ich das? Nach fast zwei Tagen offline und Familie bin ich heute „ins Netz zurückgekehrt“ – und habe dann (neben Mixas Osterwünschen) erstmal #amazonfail gesehen. Und mich gewundert.
Update: Charles Stross verweist auf eine Entschuldigung seitens Amazon – und auf die Möglichkeit menschlichen Versagens als Ursache.
Mein Wurzelwerk-Tagebuch, Teil I
Heute ist Wurzelwerk, die grüne Vernetzungsplattform nach einer mehrwöchigen Wartungspause endlich wieder online. Ich habe ja immer noch die Hoffnung, dass es sowas wie die von mir schon lange geforderte Ent-Eventisierung eines Virtuellen Parteitags werden könnte; gerade in der Kommunikationspartei Bündnis 90/Die Grünen vielleicht tatsächlich einmal zu einem wichtigen Instrument innerparteilicher Meinungsbildung, Sozialisation und Netzwerk-Verknüpfung werden kann. Deswegen möchte ich in diesem Beitrag nach und nach über meine Erfahrungen mit dem Wurzelwerk berichten.
Heute tagsüber konnte ich via Twitter verfolgen, dass das System offensichtlich läuft. Von ziemlich vielen Menschen habe ich ein „Ich bin drin“ gehört. Ich selbst hatte meine Passwort-Daten nicht dabei und konnte deswegen nicht gleich zum Mittagspausentest schreiten. Interessant dabei – nur im Beobachten des Twitter-Streams – schon eine ganze Reihe von offensichtlichen Problemen. So wird bei vergessenem Passwort erwartet, dass die Antwort auf die vorher gewählte Sicherheitsfrage eingegeben wird. Nur diese Frage wird nicht dargestellt. Ist natürlich besonders sicher, aber wer merkt sich schon, welche Frage ausgewählt wurde?
Twitter informierte mich auch schnell über eine zweite Schwierigkeit: eine der wichtigsten Funktionen sozialer Netzwerke, nämlich das Kontakte-Knüpfen, scheint noch nicht richtig zu gehen. Jedenfalls gab es einige Meldungen der Form „kann niemand finden, wo seid ihr alle“, aber auch Beschwerden darüber, dass eine anonyme Nutzung nicht möglich ist.
Noch deutlich gravierender schließlich ein anderes Problem, dass auch mich dann am Abend ereilte: bei manchen geht gar nichts, ein Aufruf der Seite „Wurzelwerk“ landet in einer Endlosschleife. Firefox bringt dazu eine schöne Fehlermeldung:
Auch Twitter wusste hier keinen Rat, Cache leeren, Seite gezwungen neu laden oder Browser neu starten – alles half nicht. Es blieb bei der grünen Endlosschleife. Endless Wurzelwerking, sozusagen.
Also musste für meinen zweiten erster Eindruck von Wurzelwerk-Beta dann doch ein nicht genannter anderer Browser herhalten, in dem keine Altdaten umhergeisterten. Damit bin ich dann tatsächlich (EMail + Passwort) reingekommen.
Erster Eindruck: sieht optisch schon mal schöner aus als beim letzten Mal. Ein paar augenfällige Verbesserungen, z.B. ist die Liste der Gruppen jetzt durchblätterbar und keine eine lange Liste. Und auch der Landesverbands-Content sieht schon ganz ordentlich aus.
Zum ersten Eindruck gehört aber auch: huch, ist das winzig. Die Schriftgröße ist sehr sehr klein, und die kann zwar in jedem modernen Browser vergrößert werden, ist aber trotzdem eine Zumutung.
Ein paar Funktionen habe ich dann gleich ausprobiert. Das Hochladen eines Profilfotos ging problemlos. Ansonsten finde ich die vorgegebene Liste an Beschreibungsfeldern für das Profil immer noch eher ärgerlich – das hatte ich schon im closed-beta angemerkt.
Dann habe ich eine Gruppe angelegt. Das hat – mit etwas herumprobieren – auch gut funktioniert (wobei auch hier beispielsweise das Eingabefeld für die Gruppenbeschreibung winzig ist).
Sogar das Einbinden eines externen RSS-Feeds in die Startseite der Gruppe klappte, nachdem ich mal kapiert habe, dass die Fehlermeldung „diese URLs sind ungültig“ sich auf leere URL-Felder bezog. ((Wer es nachmachen will: dafür ist die Funktion „Portlets einfügen“ im „Verwaltungsbereich“ zuständig, da kann dann eine Zusatzanwendung für RSS-Streams eingebunden werden. Die zeigt erstmal Yahoo-News etc., das lässt sich aber konfigurieren – dafür ist das zahnradartige Icon oben im Fensterrahmen da)).
Die Finger weggelassen habe ich von der Funktion „Kontrollbereich“. Im closed beta konnte damit ziemlicher Unsinn angestellt werden. Das auszuprobieren, ist mir meine neue Gruppe dann doch zu schade.
Verzweifelt bin ich beim Versuch, Leute in die Gruppe einzuladen. Das scheint immer noch nicht sinnvoll möglich zu sein – oder ich bin blind.
Überhaupt: Leute finden. Wer genau weiss, wenn er oder sie sucht, kann die Suche verwenden. Die scheint zu funktionieren. Ich finde mich jedenfalls selbst. Auch die Suche z.B. nach Vornamen geht. An so gefundene Leute lassen sich dann Kontaktanfragen schicken. Ich hätte gerne eine durchblätterbare Liste aller Leute, die angezeigt werden wollen. Oder auch nur die aus einer bestimmten Gliederungsebene.
Auch Gruppen können über die Suchfunktion gefunden werden. Z.B. die meines KVs, die mein Vorstandskollege schon heute mittag angelegt hat. Da habe ich dann gleich mal die Mitgliedschaft beantragt. Hier (vielleicht nicht bei einer KV-Gruppe, aber generell) vermisse ich die Möglichkeit, eine Gruppe so freizuschalten, dass jeder sofort beitreten kann. Oder habe ich das auch übersehen?
Soviel erstmal für heute. Gleich wird das Wurzelwerk eh erstmal für die tägliche Wartung heruntergefahren.
Mein erstes Fazit: die Perfomanzprobleme sind wohl weg. Optisch hat sich einiges verbessert. Die Funktionalität ist noch gewöhnungsbedürftig und definitiv noch nicht massentauglich. Da muss sich noch einiges tun – was nichts daran ändert, dass eine solche Plattform unbedingt notwendig ist. Zum Glück sind Grüne an Provisorien und Improvisation gewöhnt. Trotzdem bin ich gespannt, ob bis zur BDK im Mai alles einigermaßen glatt läuft – oder ob Wurzelwerk da noch für einen Basisaufstand sorgt.
Kurz: Wurzelwerk
Natürlich: heute ist Freitag der 13. Wie könnte es auch anders sein, wenn der Launch einer Mitgliederplattform erstmal ziemlich schief geht. Aber hier mal die positiven Seiten der neuen grünen Community Wurzelwerk:
1. Sie wird pünktlich zur heißen Wahlkampfphase sicher prima laufen.
2. Der Name ist originell.
3. Wurzelwerk ist gut gemeint.
Nein, ernsthaft: gerade für eine stark von interner Kommunikation, Mobilisierung und Meinungsbildung lebende Partei wie Bündnis 90/Die Grünen ist sowas wie „Wurzelwerk“ – quasi als Verstetigung virtueller Parteitage – unerlässlich. Die Premiere heute steht zu recht unter dem „Beta“-Label. Ich kann schon jetzt prophezeien, dass die Menschen der dahinterstehenden Agentur in den nächsten Tagen noch einiges an Arbeit haben werden. Wenn’s danach rund läuft, schreibe ich gerne auch noch einmal ausführlicher etwas übers Wurzelwerk.
P.S.: InformatikerInnen dürfen sich darüber amüsieren, dass Krabbeltiere („bugs“) und Wurzelwerk prima zueinander passen.
Wahlcomputer-Urteil (Update: CCC, Grüne)
Das Bundesverfassungsgericht hat soeben das Urteil zu zwei Wahlprüfungsbeschwerden, die sich gegen den Einsatz von „Wahlcomputern“ gewandt haben, veröffentlicht. Tenor: der Bundestag muss nicht aufgelöst werden, weil es keine Hinweise auf Manipulationen gab, der Einsatz von Wahlcomputern bei der Bundestagswahl 2005 war jedoch verfassungswidrig.
Twitter und das CCC-Umfeld jubeln jetzt erstmal. Auch ich finde das Urteil gut. Das hat zum einen etwas damit zu tun, dass ich in der fehlenden Nachvollziehbarkeit der Auszählung und in der Gefahr „unsichtbarer“ Manipulierbarkeit eben auch große Schwachstellen von Wahlcomputern und Internetwahl sehe.
Zum anderen gefällt mir das Urteil – und unterscheide ich mich wohl vom netzpolitischen Mainstream – weil es die Möglichkeit offen lässt, verfassungskonforme Varianten von Wahlcomputern und Internetwahl zu entwickeln. Bei Spiegel Online wird dazu Andreas Vosskuhle zitiert:
„Der Tenor der Entscheidung könnte dazu verleiten, zu meinen, das Gericht sei technikfeindlich und verkenne die Herausforderungen und Möglichkeiten des digitalen Zeitalters“, sagte Vosskuhle. Dies treffe jedoch nicht zu. Der Einsatz von Wahlgeräten sei durchaus möglich. „Auch Internet-Wahlen hat das Gericht nicht etwa einen endgültigen Riegel vorgeschoben.“
Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, zuviel Euphorie an digitale Stimmabgabe dranzuhängen – etwa in der Hoffnung, dass dann die Wahlbeteiligung steigen und die Politikverdrossenheit abnehmen würde. Die Leute gehen nicht deswegen nicht zur Wahl, weil der Weg zum Wahllokal zu weit.
Trotzdem halte ich es für sinnvoll, darüber nachzudenken, wie eine digitale Wahl (Internet, Wahlcomputer, digitales Einlesen von Stimmzetteln, …) aussehen kann, die den Verfassungsansprüchen der gleichen, geheimen und im Ergebnis nachvollziehbaren Wahl genügt, aber trotzdem den Weg öffnet, zum Beispiel Volksabstimmungen zu vereinfachen.
Die derzeitigen Wahlen sind teuer und aufwändig. Das wird derzeit z.B. in NRW von den Grünen angeführt – als Gegenargument zu einem Extra-Wahltermin für die Kommunalwahl (42 Millionen). Wenn es hier gelingt, mit Hilfe von Informationstechnik die Transaktionskosten der Demokratie zu senken, wäre etwas dafür gewonnen, demokratische Beteiligung zu erleichtern. Dafür dürfen dann natürlich keine neuen Hürden aufgebaut werden, etwa komplizierte Anmeldeverfahren – oder eben die fehlende Nachvollziehbarkeit der Wahl. Aber mit dem Urteil jetzt von vorneherein jede Form digitaler Stimmabgabe zu verteufeln, halte ich für falsch. Und freue mich deswegen, dass das BVerfG das wohl auch so sieht.
Bleibt die Frage, ob per Televoting zustande gekommene Parteilisten verfassungskonform sind ;-) ((Für die grüne Europaliste: Ja, weil über die eigentliche Liste nochmal auf Papier abgestimmt wurde))
Warum blogge ich das? Weil ich es wichtig finde, das Thema Wahlcomputer differenziert zu betrachten. Auch und gerade nach diesem Urteil.
Update: Bei netzpolitik.org ist ein ganz lesenswertes Interview mit Andreas Bogk vom CCC zu finden („Allerdings bleibt die Forschung ja auch nicht stehen, und so ganz ausschließen kann man nicht, daß jemand auf die entscheidende Idee kommt, wie eine elektronische oder gar Online-Wahl so durchgeführt werden kann, daß sie demokratischen Prinzipien entspricht. Wir werden das kritisch weiter verfolgen.“). In der – noch nicht online stehenden – Presseerklärung der Grünen heißt es dagegen pauschal: „Wahlcomputer müssen endlich der Vergangenheit angehören“. Dem CCC mag ich tatsächlich keine Technikfeindlichkeit vorwerfen; bei meiner Partei frage ich mich schon, ob es so undifferenziert sein muss. Und bin gespannt auf die nächsten Wahlen auf einem Parteitag mit Wahlcomputern.