Science Fiction und Fantasy im Februar 2024

Hamburg XXXIII

Vor­teil an Pen­del­stre­cken: viel gele­sen krie­gen. Zuerst aber ein Blick auf sons­ti­ge Medi­en. Die Gra­phic Novel Unfol­low (2020) von Lukas Jüli­ger fand ich dann doch eher verstörend/irritierend. Aber viel­leicht sind auch Gra­phic Novels nicht so ganz mein Format.

Auf dem Bild­schirm gese­hen habe ich einen der Net­flix-Wes-Ander­son-Kurz­fil­me (nach Roald Dahl), sowas wie Wes Ander­son als Essenz. Hat was. Dann haben wir Tomor­row­land (2015) ange­schaut – ein biss­chen Gib­sons Gerns­back-Kon­ti­nu­um, ein biss­chen Wer­bung für Dis­neys Ver­gnü­gungs­park. Ins­ge­samt nicht so rich­tig überzeugend.

Wow-Effekt dafür bei der zwei­ten Staf­fel The Wit­cher (Net­flix), naja vor allem Auf­grund des har­ten Über­ra­schungs­mo­ments ganz am Schluss. Ansons­ten soli­de gemach­te Fantasy.

Gele­sen habe ich Veno­mous Lump­su­cker (2022) von Ned Beau­man – eine düs­te­re und böse Sati­re auf Zer­ti­fi­kats­han­del, Kapi­ta­lis­mus und liber­tä­re Sei­fen­bla­sen­träu­me. Ober­fläch­lich geht es in die­sem Buch um die Welt in ein paar Jahr­zehn­ten. Das Arten­ster­ben hat sol­che Aus­ma­ße ange­nom­men, dass sich rund um den Erhalt der letz­ten Arten und Öko­sys­te­me ein Wirt­schafts­zweig ent­wi­ckelt hat – mit han­del­ba­ren Schutz­rech­ten, mul­ti­na­tio­na­len Kon­zer­nen und kor­rup­ten Regi­men. Der (wenn ich das rich­tig sehe, fik­ti­ve) titel­ge­ben­de Lump­fisch steht in der Ost­see kurz vor dem Aus­ster­ben. Ent­spre­chend ist die Haupt­per­son, eine Bio­lo­gin, nicht gewillt, einem mul­ti­na­tio­na­len Kon­zern den Per­sil­schein für deren Abbau­rech­te im letz­ten Habi­tat die­ses Fisches zu geben. Dem Kon­zern gefällt das nicht, auch des­we­gen, weil da schon abge­baut wur­de – und über­haupt: im Zwei­fel gibt es ja Gen­ban­ken. Bis dann ein unvor­her­ge­se­he­nes Ereig­nis dazu führt, dass eine wil­de Jagd auf die letz­ten Lump­su­cker beginnt. Eine Jagd, die Beau­man für eine exzel­lent zuge­spitz­te Sati­re diver­ser Aus­wüch­se unse­rer Gegen­warts­ge­sell­schaft nutzt.

Nach­dem mir die­ses Buch sehr gut gefal­len hat, habe ich dann Beau­mans älte­res The Tele­por­ta­ti­on Acci­dent (2012) gele­sen, damit bin ich aller­dings nicht so rich­tig warm gewor­den, bzw. konn­te erst gegen Schluss des Buches was damit anfan­gen. Set­ting hier sind die 1930er Jah­re, Ber­lin, Paris, Los Ange­les, es geht um poli­tik-des­in­ter­es­sier­te Kunst, Bohe­me und Möch­te­gern-Bohe­me – und immer wie­der um Lust und Ver­lan­gen der männ­li­chen Haupt­per­son. Das Ende dage­gen hat Poten­zi­al, bzw. spielt mit Potenzialitäten.

Ganz was ande­res: Rebec­ca Camp­bells Band Arbo­rea­li­ty (2022) – ich wür­de das als mit­ein­an­der ver­schlun­ge­ne Vignet­ten aus einer Zukunft nach der Kli­ma­kri­se bezeich­nen, ver­or­tet zwi­schen Van­cou­ver und Seat­tle, zusam­men­ge­hal­ten durch Bäu­me (und durch Per­so­nen, die bzw. deren Kin­der und Enkel immer wie­der auf­tau­chen). Nicht auf­re­gend, ohne gro­ße Action, immer aus der indi­vi­du­el­len Per­spek­ti­ve, aber gera­de des­we­gen ein­drück­lich und lesenswert.

Von Mal­ka Older ist der zwei­te Band ihrer auf einem zur neu­en Hei­mat der von der Erde geflo­he­nen Mensch­heit gewor­de­nen „Steampunk“-Jupiter („Giant“) spie­len­den Detek­tiv­se­rie („cozy space ope­ra detec­ti­ve mys­tery“) erschie­nen, und The Impo­si­ti­on of Unneces­sa­ry Obs­ta­cles (2024) hat mich – viel­leicht weil ich das Set­ting schon kann­te – dann doch mehr abge­holt als der ers­te Band. Uni­ver­si­tä­ten und deren inter­ne Poli­tik spie­len eine Rol­le, und natür­lich die nicht ganz ein­fa­che Bezie­hung zwi­schen Mos­sa und Plei­ti, den bei­den Haupt­fi­gu­ren. Und Io kommt auch vor.

R.F. Kuangs Roman Babel (2022) war in den Schlag­zei­len, weil er vom Hugo-Preis­ver­lei­hungs­ko­mi­tee kur­zer­hand von der Short­list gestri­chen wur­de, wohl aus vor­aus­ei­len­der Angst vor mög­li­chen chi­ne­si­schen Zen­sur­ver­su­chen. Der Roman spielt zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts in einem bri­ti­schen Impe­ri­um, das auf lin­gu­is­ti­sche Magie setzt statt auf Koh­le. Genau­er gesagt: in der Über­set­zung in ihren Bedeu­tun­gen aus­ein­an­der­ge­hen­de Wort­paa­re, die in Sil­ber ein­gra­viert wer­den, ver­ur­sa­chen hier magi­sche Wir­kun­gen. Der Roman ist auch ein Roman über Über­set­zun­gen, vor allem aber einer über Kolo­nia­lis­mus (aus der Per­spek­ti­ve von „Robin Swift“, in Kan­ton auf­ge­wach­sen, dann nach Lon­don und schließ­lich nach Oxford gebracht, um die magi­sche Über­set­zungs­kunst zu erler­nen) und – bevor es in der Oxford-Vari­an­te der Zau­ber­schu­le all­zu gemüt­lich wird – über Klas­sen­kampf, Revo­lu­ti­on und die Fra­ge, wann Gewalt ein­ge­setzt wer­den darf und wann nicht. Ein­drucks­voll und zurecht ein Anwär­ter auf den Hugo.

Und noch­mal eine Vari­an­te des Zau­be­rei­schul-Motivs – dies­mal in James Isling­tons The Will of the Many (2023). Der Roman spielt in einem Pseu­do-Rom, mit einer rigi­den sozia­len Schich­tung, die dar­auf beruht, einen Teil des eige­nen Wil­lens wei­ter­zu­ge­ben. Wer an der Spit­ze der­ar­ti­ger Pyra­mi­den – Reli­gi­on, Mili­tär, Ver­wal­tungs­ap­pa­rat haben je ihre eige­nen – steht, wird zum Super­held. Und wer ganz unten steht, wird halb­tot nur als Wil­lens­lie­fe­rant am Leben erhal­ten. In die­sem Set­ting ist der Wai­se Vis unser Fokus­punkt – er wird adop­tiert und kommt als 17-jäh­ri­ger Spi­on in die hie­si­ge Vari­an­te der Eli­te-Zau­be­rei-Aka­de­mie, die durch har­te Aus­wahl und auf­fäl­lig vie­le töd­li­che Unglü­cke von sich reden macht. Wem er dort trau­en kann und wem nicht, wer wel­che Intri­gen spinnt und was echt ist, und was insze­niert – das zeigt sich erst im Lauf des Geschich­te. Und auch hier spielt Impe­ria­lis­mus eine Rol­le – Vis leb­te vor der Inva­si­on durch das Pseu­do-Rom in einem bis dato selbst­stän­di­gen Insel­kö­nig­reich. Teil der Aka­de­mie ist ein mys­te­riö­ses Laby­rinth. Ohne das Ende vor­weg­zu­neh­men: da ist dann auch noch­mal man­ches ganz ande­res, als es scheint. Inso­fern bin ich schon sehr auf den zwei­ten Band gespannt.

Science Fiction und Fantasy im Vorfrühling 2023 (Teil II)

Glitchy easter decoration

Irgend­wie kam Ostern dazwi­schen (s.o.) – jeden­falls folgt hier nun Teil II zu mei­ner Vor­früh­lings­le­se­lis­te. Teil I mit den Fan­ta­sy-Roma­nen, die ich gele­sen habe, ist am 6. April erschienen.

In medi­as res: Rich­tig gut gefal­len hat mir Ken MacLeods Bey­ond the Reach of Earth (2023), der zwei­te Teil sei­ner Lightspeed-Tri­lo­gie. Kurz zum Hin­ter­grund: die bei­den gro­ßen Blö­cke, die kapi­ta­lis­ti­sche Alli­ance rund um die USA und die Coor­di­na­ted Sta­tes (Russ­land, Chi­na) haben schon vor eini­gen Jahr­zehn­ten eine Metho­de ent­deckt, um U‑Boote in der Raum­zeit zu bewe­gen und damit fer­ne Ster­ne zu erkun­den. Auf dem erd­ähn­li­chen Stern Apis gibt es gehei­me Basen bei­der Blö­cke. Im ers­ten Teil geht es vor allem dar­um, dass nun auch Wissenschaftler*innen der mehr oder weni­ger kom­mu­nis­ti­schen euro­päi­schen Uni­on (inkl. Schott­land) – MacLeod macht aus sei­nen poli­ti­schen Sym­pa­thien kein Geheim­nis – die­se Tech­no­lo­gie ent­de­cken. Am Schluss stürzt die euro­päi­sche Venus-Kolo­nie ab – und v.a. wer­den intel­li­gen­te Außer­ir­di­sche ent­deckt. Was es mit die­sen auf sich hat, war­um das mit der über­licht­schnel­len Raum­fahrt nicht ganz so ein­fach ist, wie es am Anfang aus­sah, und was euro­päi­sche Siedler*innen so auf Apis erle­ben, davon han­delt Teil II. Beson­ders aktu­ell die Rol­le ver­schie­de­ner Robo­ter und all­ge­gen­wär­ti­ger AI-Sys­tem-Assis­ten­zen. Erfri­schend anders als der Space-Ope­ra-Main­stream, sehr plau­si­bel beschrie­ben und trotz­dem kom­plett abge­dreht – und gera­de des­we­gen lesenswert.

Zum Teil tref­fen die­se Beschrei­bun­gen auch auf Anna­lee Newitz lang erwar­te­tes Buch The Ter­ra­for­mers (2023) zu. In meh­re­ren Zeit­ebe­nen (10.000 Jah­re und ähn­lich gro­ße Zeit­span­nen vom heu­te ent­fernt) erle­ben wir die Besied­lung eines im Auf­trag eines gro­ßen, gala­xien­weit agie­ren­den Kon­zerns ter­ra­form­ten Pla­ne­ten, Wirt­schafts­spio­na­ge, Intri­gen, Auf­stän­de der mehr oder weni­ger Skla­ven-Klo­ne, sehr viel Gen- und Bio­tech­nik und irgend­wie auch eine Uto­pie des ver­netz­ten Zusam­men­le­bens ganz unter­schied­li­cher Lebens­for­men. Das ist alles wun­der­bar aus­ge­dacht – trotz­dem hat mich eini­ges immer wie­der aus dem Lese­fluss gewor­fen; etwa die schon ange­spro­che­nen rie­si­gen Zeit­räu­me, qua­si-unsterb­li­che Per­so­nen, aber auch das das Buch durch­zie­hen­de tie­fen­öko­lo­gi­sche Kon­zept, das alle Lebe­we­sen am gro­ßen Gan­zen teil­ha­ben (und durch eine Art Uplif­ting Intel­li­genz bekom­men). Bei Kühen ist das noch irgend­wie glaub­wür­dig, bei Insek­ten­ko­lo­nien … nicht so? Auf jeden Fall inter­es­sant und beein­dru­ckend, aber kein Buch zum Verlieben. 

Mal­ka Olders The Mimi­cking of Known Suc­ces­ses (2023) hat eben­falls ein inter­es­san­tes Set­ting, kommt aber nicht an ihre Info­mo­cra­cy-Rei­he her­an. Die Erde ist ver­wüs­tet, die Über­le­ben­den haben rund um Jupi­ter ein Eisen­bahn- und Platt­form-Ring­sys­tem auf­ge­baut, auf dem die­ses Buch – zunächst ein Kri­mi­nal­ro­man – spielt. Die Haupt­fi­gu­ren waren mal zusam­men, es gibt poli­ti­sche Bewe­gun­gen, die sich zwi­schen nost­al­gi­scher Bewah­rung der ver­lo­re­nen Erde und Blick nach vor­ne bewe­gen, und ins­ge­samt mag „cozy“ durch­aus eine zutref­fen­de Beschrei­bung sein. Ein recht kur­zes, freund­li­ches Buch (trotz meh­re­rer Todes­fäl­le), eine inno­va­ti­ve Sze­na­rie, aber irgend­wie fehl­te mir etwas.

Anders­her­um ging’s mir mit Greg Egans Sca­le (2022). Hier war ich zwar auf das Set­ting neu­gie­rig – neben­ein­an­der her leben­de und z.T. mit­ein­an­der inter­agie­ren­de Gesell­schaf­ten von Men­schen ganz unter­schied­li­cher Grö­ße, unter The Sci­ence of Sca­le gibt es auf Egans Web­site auch eine Her­lei­tung davon, wie das wis­sen­schaft­lich plau­si­bel gemacht wird; letzt­lich geht es um unter­schied­li­che inner-ato­ma­re Zusam­men­set­zung – neben Elek­tro­nen und Muo­nen gibt es hier gleich acht unter­schied­li­che Lep­to­nen, die jeweils bestimm­te Eigen­schaf­ten haben und v.a. Maßen, die von 1 bis 128 rei­chen. Die Men­schen unter­schied­li­cher Grö­ße bestehen jeweils aus Ato­men, die eine Art von Lep­to­nen bevor­zu­gen, und kom­men ent­spre­chend z.B. auch nur mit Was­ser oder Nah­rungs­mit­teln aus die­ser Zusam­men­set­zung klar. Ent­spre­chend ver­hal­ten sich die Grö­ßen (mir ist nicht ganz klar­ge­wor­den, ob die Kleins­ten zu den Größ­ten hier 1:8, 1:64 oder 1:128 aus­ma­chen, es sind aber beacht­li­che Unter­schie­de). Zugleich ist die Dich­te sehr unter­schied­lich – kleins­te und größ­te Men­schen bestehen aus der glei­chen Zahl von Ato­men, wie­gen also auch „das sel­be“. Zeit läuft für klei­ne­re Men­schen viel schnel­ler ab als für grö­ße­re Men­schen usw. Jeden­falls: das klingt alles erst ein­mal furcht­bar kom­pli­ziert und her­bei­ge­dacht, aber Egan gelingt es, vor die­sem Hin­ter­grund nicht nur einen Kri­mi, son­dern letzt­lich einen Thril­ler und einen Revo­lu­ti­ons­ro­man zu schrei­ben. Das hat mich sehr posi­tiv über­rascht. Wer selbst rein­le­sen möch­te, fin­det den – harm­lo­sen – Anfang auf der oben ver­link­ten Website.

Weni­ger über­zeugt haben mich zwei „klas­si­sche“ SF-Roma­ne. Arkas’d World von James L. Cam­bi­as (2019) spielt auf einem Pla­ne­ten, der ein Geheim­nis birgt, auf dem Wesen aus sehr unter­schied­li­chen – aber doch irgend­wie ste­reo­ty­pen – Ali­en-Kul­tu­ren zusam­men­le­ben; die Mensch­heit ist von einer die­ser Kul­tu­ren unter­wor­fen wor­den, der titel­ge­ben­de Arkad als auf dem Pla­ne­ten gebo­re­ner Mensch auf der Flucht auf die­sem Pla­ne­ten hat etwas von toll­pat­schi­gem Aus­er­wähl­ten. Bis er stirbt und das Gan­ze einen meta­phy­si­schen Drall bekommt. 

Und auch Count to a Tril­li­on von John C. Wright (2011) war dann nicht so ganz meins. Ich glau­be, ich habe irgend­wo Wal­ter Jon Wil­liams und John C. Wright zusam­men­ge­wor­fen und zu einer Per­son gemacht – der­je­ni­ge mit den wirk­lich schlimm reak­tio­nä­ren Ideen ist John C. Wright (sor­ry, W.J. Wil­liams!). Jeden­falls gelingt es ihm, eine weit in der Zukunft lie­gen­de Erde vor­zu­stel­len, in der fast nur Män­ner wich­ti­ge Rol­len spie­len, in der kul­tu­rel­le und eth­ni­sche Unter­schei­dun­gen hoch­ge­hal­ten wer­den, und in der his­to­ri­sche Moden von der Anti­ke über die Kreuz­fah­rer bis zum Cow­boy-Wes­tern wie­der­auf­le­ben, wäh­rend gleich­zei­tig hoch­in­tel­li­gen­te Com­pu­ter­sys­te­me, inter­stel­la­re Raum­schif­fe und die Ver­ar­bei­tung von Anti­ma­te­rie (sowie extrem über­le­ge­ne Außer­ir­di­sche) vor­kom­men. Das mag mal amü­sant sein, aber warm gewor­den bin ich damit nicht, und die Agen­da dahin­ter, ein Zurück zur guten alten Zeit, als Män­ner noch Män­ner und Unter­ta­nen noch Unter­ta­nen waren, gefällt mir über­haupt nicht. 

Leseprotokoll September – Oktober 2017

Neben Mal­te Spitzs Sach­buch Daten – das Öl des 21. Jahr­hun­derts? Nach­hal­tig­keit im digi­ta­len Zeit­al­ter habe ich auch im Herbst 2017 in Buch­form vor allem Sci­ence Fic­tion und Fan­ta­sy gele­sen (und begon­nen, The Expan­se und Star Trek: Dis­co­very anzuschauen).

Das mit dem „gele­sen“ trifft nicht ganz zu auf Simon Sta­len­hågs Buch Tales from the Loop, das ich trotz­dem heiß emp­feh­len kann: Sta­len­håg malt Bil­der, in denen v.a. skan­di­na­vi­sche Land­schaft sich mit tris­ten Robo­tern, den neu­es­ten Tech­no­lo­gien der 1980er Jah­re einer Alter­na­tiv­welt und nicht ganz ech­ten schwe­di­schen Staats­kon­zer­nen mischen. Mit den Tales from the Loop ist eine wun­der­ba­re Geschich­ten­samm­lung zu die­sen Bil­dern her­aus­ge­kom­men, die so etwas wie eine Retro­cy­ber­punk­kind­heit aus der skan­di­na­vi­schen Pro­vinz zusam­men­bin­det. Wer mag, kann auch an Bla­derun­ner [2049] nahe am Polar­kreis den­ken. Kos­ten­pro­ben von Sta­len­hågs Stil gibt es auf sei­ner Web­site.

Auch Syl­vain Neu­vels Buch Waking Gods – die Fort­set­zung von Slee­ping Giants hat etwas mit über­gro­ßen Robo­tern zu tun. In die­sem Fall: außer­ir­di­schen Ursprungs und auf der Erde gefun­den. Die Macht­spie­le aus dem ers­ten Band haben ein vor­läu­fi­ges Ende gefun­den, doch plötz­lich tau­chen wei­te­re Robo­ter auf, und erwei­sen sich als unfreund­lich. Wie reagieren?

Gele­sen habe ich N.K. Jemi­sins The Stone Sky, eben­falls eine Fort­set­zung und nach The Fifth Sea­son und The Obe­lisk Gate der drit­te (und fina­le?) Teil von Jemi­sins Bro­ken-Earth-Serie. Wei­ter­hin sind die Oro­ge­ne Essun und ihre eben­falls oro­ge­nisch begab­te Toch­ter Nas­sun der Fokus­punkt der Geschich­te. Im drit­ten Band wird nach und nach deut­lich, wie es zu der ers­ten glo­ba­len Kata­stro­phe („fifth sea­son“) kam, und wie die magisch erschei­nen­den Fähig­kei­ten der Oro­ge­nen und der Stein­es­ser eigent­lich funk­tio­nie­ren. Auch hier gilt, dass hoch genug ent­wi­ckel­te Tech­no­lo­gie wie Zau­be­rei erschei­nen kann. Essun und Nas­sun ent­wi­ckeln (auf ihren unab­hän­gig von­ein­an­der statt­fin­den­den Ques­ten) unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen davon, was die rich­ti­ge Ant­wort auf die Kon­flik­te zwi­schen „Nor­ma­len“, Oro­ge­nen und Stein­es­sern sein könn­te, und wie mit dem aus der Bahn gera­te­nen Mond der Erde umzu­ge­hen ist. Erst im Fina­le begeg­nen sie sich – und zer­ren in unter­schied­li­che Rich­tun­gen. Mehr sei hier nicht ver­ra­ten, The Stone Sky ist jeden­falls ein ful­mi­nan­ter Abschluss einer ganz ande­ren Art von Sci­ence Fiction/Fantasy.

Kei­ne Fort­set­zung, auch wenn der Roman im sel­ben Uni­ver­sum wie ihre vor­he­ri­gen Bücher spielt, ist Ann Leckies Pro­ven­an­ce. Dadurch, dass dies­mal nicht die sehr anders wir­ken­den Rad­ch und deren AI im Mit­tel­punkt ste­hen (auch wenn die­se eben­so wie die kom­plett außer­ir­di­schen Geck am Ran­de auf­tau­chen), son­dern die für uns nähe­ren Bewohner*innen von Hwae, fand ich es ein­fa­cher, eine Bezie­hung zu den Haupt­per­so­nen auf­zu­bau­en. Es geht in Pro­ven­an­ce vor­der­grün­dig um Aben­teu­er mit Raum­schif­fen und auf unter­schied­li­chen Pla­ne­ten, mit­tel­grün­dig um poli­ti­sche Ver­wick­lun­gen und Macht­spie­le, und letzt­lich dar­um, wie Ingray Aughskold trotz des Drucks ihrer berühm­ten Adop­tiv­mut­ter Net­a­no Aughskold einen eige­nen Weg fin­det, sowas wie late coming of age also. In der Mischung sehr lesenswert.

Ganz anders Nico­la Grif­fiths Hild: ein his­to­ri­scher, sehr umfang­rei­cher Roman, der zur Zeit der Chris­tia­ni­sie­rung des angel­säch­si­schen Eng­lands spielt. Die Haupt­per­son Hild leb­te – so Grif­fith – tat­säch­lich, und wur­de ca. 614 als Toch­ter des Königs Here­ric von Dei­ra gebo­ren. Aus ihrem ech­ten Leben ken­nen wir nur Bruch­stü­cke – 627 wur­de sie getauft, 647 tritt sie in East Anglia eine Schiffs­rei­se nach Gal­li­en an. Grif­fiths Roman ist eine fik­ti­ve Bio­gra­phie von Hild, die der Fra­ge nach geht, wie aus den klei­nen, zer­strit­te­nen angel­säch­si­schen König­rei­chen tat­säch­li­che Staa­ten wur­den. Sie zeich­net Hilds Weg von ihrer Kind­heit über ihre „Ent­de­ckung“ als heid­ni­sche Sehe­rin und enge Bera­te­rin des Königs an einem der klei­nen Königs­hö­fe bis zum Auf­bau eines eige­nen Haus­halts am Ende vie­ler Schlach­ten (und nicht, wie in der Rea­li­tät, als Äbtis­sin eines Klos­ters). Das alles wohl rela­tiv nah an dem, was über das Leben im 7. Jahr­hun­dert bekannt war – und mit einem, wie mir scheint, dezi­diert femi­nis­ti­schen Blick auf die dama­li­gen Geschlech­ter­rol­len. Ich habe jeden­falls eini­ge gelernt – nicht nur über das begin­nen­de Mit­tel­al­ter, son­dern auch über die Geschich­te der eng­li­schen Spra­che, denn nor­man­ni­sche Lehn­wör­ter gibt es in die­sem Buch noch nicht. 

Eben­falls um klei­ne König­rei­che und eine Reichs­grün­dung geht es in Ken Lius The Grace of Kings – dies­mal aller­dings in einem fik­ti­ven süd­ost­asia­ti­schen Set­ting, dem Insel­reich Dara. Den Auf­stieg des trick­rei­chen Kuni Garus vom rebel­li­schen Tau­ge­nichts zum Kai­ser zu ver­fol­gen, ist durch­aus amü­sant; nicht zuletzt durch die immer wie­der dazwi­schen geschal­te­ten Inter­ven­tio­nen der Göt­ter und Göt­tin­nen Dar­as. Nicht die Chry­san­the­me, son­dern der zähe und viel­fach nütz­li­che Löwen­zahn ist das Leit­mo­tiv von Kuni Garu, und sei­ne Phi­lo­so­phie und sein Han­deln – mit allen Rück­schlä­gen und Erfol­gen – haben etwas von Till Eulen­spie­gel. Am Ende, nach vie­len Intri­gen und Ver­wick­lun­gen, ist Kuni Garu zwar Kai­ser – aber er steht auch vor gro­ßen Zwei­feln und einem Scher­ben­hau­fen sei­ner Inte­gri­tät. Lius Buch ist der ers­te Band einer Tri­lo­gie, aber eigent­lich kann sich im zwei­ten (der bereits erschie­nen ist), nur als Tra­gö­die wie­der­ho­len, was hier mehr oder weni­ger Far­ce war. Inso­fern weiß ich noch nicht, ob ich ihn lesen will.

Intri­gen­rei­che Poli­tik mit Thril­ler­ele­men­ten geht auch ohne König­rei­che, ja sogar ohne Natio­nal­staa­ten. Wenn es das Gen­re des „poli­ti­cal sci­ence fic­tion“ gäbe, wäre Mal­ka Older des­sen Haupt­ver­tre­te­rin. Sie hat jetzt mit Null Sta­tes die Fort­set­zung von Info­mo­cra­cy vor­ge­legt. Wäh­rend Info­mo­cra­cy sich auf das Innen­le­ben der Mikro­de­mo­kra­tie – eine in „Cen­tenals“, also jeweils 100.000 Wahl­be­rech­tig­te in einem geo­gra­fi­schen Bezirk, orga­ni­sier­te Welt – kon­zen­trier­te, wei­tet sich in Null Sta­tes der Blick – auf die Tran­si­ti­on von einer Super­mehr­heit zur ande­ren, die ganz und gar nicht rei­bungs­los ver­läuft, auf den Über­gang von Staa­ten und Frei­heits­be­we­gun­gen zu Cen­tenals – hier: im Sudan, im Kau­ka­sus – und vor allem auf die wei­ter bestehen­den, in ihrem Ein­fluss geschrumpf­ten Natio­nal­staa­ten, den weit­ge­hend ohne die all­ge­gen­wär­ti­ge Trans­pa­renz (und Über­wa­chung) durch die trans­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on „Infor­ma­ti­on“ aus­kom­men, „null sta­tes“ also. Ein Krieg zwi­schen Kir­gi­si­stan und Kasach­stan droht auf die angren­zen­den Cen­tenals über­zu­grei­fen, aber auch die Res­te Chi­nas und der Schweiz wer­den zum Teil des Plots. Glo­ba­li­sier­te poli­ti­sche Sci­ence Fic­tion mit viel Hin­ter­grund­wis­sen über das Innen­le­ben inter­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen – auf jeden Fall empfehlenswert!

Last but not least habe ich zur Abwechs­lung mal ein Buch auf deutsch gele­sen – Marc-Uwe Kling hat mit Qua­li­ty­Land eine bei­ßen­de Sati­re über unse­re zuneh­mend ver­netzt-kom­mer­zia­li­sier­te Gegen­wart geschrie­ben. In der nahen Zukunft ori­en­tiert sich Poli­tik an PR, und das Leben wird durch Likes und Matches bestimmt. Ich habe die „dunk­le Edi­ti­on“ gele­sen, aber auch die „hel­le“ soll emp­feh­lens­wert sein. Ich wür­de fünf von fünf Ster­nen dafür geben, und hof­fe, dass ich damit mein Ran­king erhal­ten kann, und nicht gesell­schaft­lich absinke. 

Leseprotokoll April 2017

New York L (High Line)

Ich habe ja ange­fan­gen, regel­mä­ßig auf­zu­schrei­ben, was ich so gele­sen habe. Das hat auch was mit dem Kind­le zu tun, den es seit ein paar Mona­ten in mei­nem Leben gibt – und der den Sta­pel der gele­se­nen Bücher unsicht­bar gemacht hat. Dass ich jetzt mas­siv E‑Books lese, hät­te ich ers­tens frü­her nicht gedacht und scheint zwei­tens ziem­lich hin­ter dem Trend zu lie­gen. Zumin­dest für Groß­bri­tan­ni­en berich­tet der Guar­di­an dar­über, wie E‑Books ihren Glanz und ihre Ver­füh­rungs­kraft ver­lo­ren haben. Ein biss­chen was ist da schon dran: Bücher als phy­si­ka­li­sche Objek­te haben einen Charme, den der Kind­le nicht erset­zen kann. Aber prak­tisch ist er trotz­dem – nicht nur für das Lesen unter­wegs, son­dern auch des­we­gen, weil er dazu ver­lei­tet, Fort­set­zun­gen zu kau­fen. Oder sich mal im Werk eines Autors oder einer Autorin umzu­se­hen und die eige­ne Biblio­thek zu ergänzen.

Damit zu mei­nen im April gele­se­nen Büchern – acht Stück, davon zwei auf Papier, der Rest digital. 

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