2020/2021 – ein Fragment

Winter sky VII

Düs­te­rer, leicht lila gefärb­ter Him­mel. Die Wol­ken bewe­gen sich im Zeitraffer. 

Ein Mann holt einen Brief aus sei­nem Brief­kas­ten. Es ist das erwar­te­te Schrei­ben einer luxem­bur­gi­schen Immo­bi­li­en­hol­ding, die den beschau­li­chen Wohn­block von dem deut­schen Groß­kon­zern über­nom­men hat, der vor eini­gen Jah­ren den klei­ne­ren Kon­zern geschluckt hat. Er hat die­sen Brief schon erwar­tet. Aus Daten­schutz­grün­den müs­sen die Mieter:innen eine neue Last­schrift­er­mäch­ti­gung ertei­len – auf Papier. Der Mann kratzt sich am Kinn. Das ist ein Ana­chro­nis­mus. Sowas lässt sich doch inzwi­schen digi­tal regeln, über eine kur­ze Nach­richt. Über­haupt – er hat in den letz­ten Wochen kein Bar­geld mehr ver­wen­det, seit selbst bei den Bäcke­rei­en kon­takt­lo­se Kar­ten­le­ser auf­ge­stellt sind. Aber wenn der Kon­zern es so will, dann wird es wohl das bes­te sein, dem zu folgen.

Der Mann bringt den mit einem alt­mo­di­schen Füll­fe­der­hal­ter aus­ge­füll­ten Brief zum Post­kas­ten. Er zieht sich eine Mas­ke an, bevor er die Woh­nung ver­lässt. In die­ser Wohn­zo­ne ist der Ver­kehr auf 30 km pro Stun­de redu­ziert. In vie­len Stra­ßen fah­ren gar kei­ne Autos mehr. Die, die er doch noch sieht, sind zuneh­mend elek­tri­sche. Elon Musk von Tes­la ist inzwi­schen der reichs­te Mann der Welt. Oder es han­delt sich um die ganz gro­ßen Wagen, die halb­au­to­ma­tisch durch die Städ­te fah­ren. Übli­cher­wei­se haben Autos im Jahr 2020 ein Dis­play an der Kon­so­le, auf dem jeder­zeit der aktu­el­le Stand­ort ange­zeigt wird. Eine Com­pu­ter­stim­me gibt Anwei­sun­gen, um das Ziel zu errei­chen. Aber er geht zu Fuß. Für län­ge­re Stre­cken wür­de er nor­ma­ler­wei­se die Stra­ßen­bahn neh­men, die alle paar Minu­ten ver­kehrt. Es lohnt sich gar nicht mehr, in die Fahr­plan-App zu schau­en, die Anzei­ge an der Hal­te­stel­le ver­rät, wann die nächs­te Bahn zu erwar­ten ist. 

In die­sen Mona­ten ver­sucht der Mann aller­dings, auf die Nut­zung der öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel zu ver­zich­ten. Lie­ber bucht er ein Fahr­rad in der App. Die Pan­de­mie. Er ver­folgt jeden Tag besorgt die Fall­zah­len. In Deutsch­land ster­ben täg­lich über tau­send Men­schen an der Pan­de­mie. Inner­halb von einer Woche über­schrei­ten die Todes­zah­len die der Ver­kehrs­to­ten, und inner­halb eines Monats kommt eine Klein­stadt zusam­men. Und das nur in Deutsch­land. Das Virus wütet über­all auf der Welt. Es wird über klei­ne Tröpf­chen in der Atem­luft über­tra­gen. Jeder län­ge­re Kon­takt erhöht das Risi­ko. Noch hat die Warn-App, die Kon­tak­te regis­triert, bei ihm nicht rot geblinkt, aber er ist lie­ber vor­sich­tig. Bis der in Win­des­ei­le dage­gen ent­wi­ckel­te mRNA-Impf­stoff des Kon­zerns – ein Tri­umph der Wis­sen­schaft – alle erreicht, wird es noch etwas dauern.

Immer neue Ver­ord­nun­gen wer­den erlas­sen. Das ist in allen Län­dern so. Egal, ob die Christdemokrat:innen oder die Sozialdemokrat:innen, die Lin­ken oder die Grü­nen die Regierungschef:innen stel­len. Regel­mä­ßig tref­fen die­se sich zu Kri­sen­sit­zun­gen mit der Kanz­le­rin. In der Kri­se zeigt sich wah­rer Charakter. 

Vie­le Geschäf­te sind geschlos­sen, in ande­ren ist der Auf­ent­halt streng regle­men­tiert. Auch die Schu­len wur­den zuge­macht. Teil­wei­se fin­det der Unter­richt digi­tal statt. Manch­mal ver­brin­gen die Kin­der den Tag aber auch in Computerspielewelten. 

Sei­ne Kolleg:innen hat der Mann seit einem hal­ben Jahr nur noch per Video­kon­fe­renz gese­hen. Sei­ne Aus­rüs­tung funk­tio­niert unab­hän­gig von dem Ort, an dem er ist. Kon­fe­ren­zen, Bespre­chun­gen, Doku­men­te – alles ist inzwi­schen digital. 

Da, wo vie­le Men­schen sich auf­hal­ten, tra­gen alle Mas­ke – fast alle, bis auf die Spinner:innen, die lie­ber an ihre Ver­schwö­run­gen glau­ben. Auf den vie­len tau­send Kanä­len des Netz­werks gibt es Bil­der von Spinner:innen, die sin­gend über Plät­ze tan­zen. Sie leben in einer abge­schot­te­ten Welt, und glau­ben, was ihre Sektenführer:innen ihnen erzäh­len. Die Pan­de­mie sei eine Erfin­dung, in Wahr­heit gehe es dar­um, dass Bill Gates an das Blut unschul­di­ger Kin­der wolle. 

Viel­leicht gehört auch der US-Prä­si­dent dazu. Der ist gera­de abge­wählt wor­den. Die Wahl­aus­zäh­lung zog sich über Tage hin, in eini­gen Bun­des­staa­ten dran­gen Bewaff­ne­te in die Wahl­lo­ka­le ein und ver­such­ten, die Wähler:innen ein­zu­schüch­tern. In einer her­un­ter­ge­kom­me­nen Gegend hat der Prä­si­dent sei­nen Anwalt ver­kün­den las­sen, dass er die­se Wahl nicht aner­ken­nen wird, dass sie ihm gestoh­len wur­de. Vor Gericht hat er damit aller­dings kei­nen Erfolg. Den­noch erzählt er sei­nen Anhänger:innen immer wie­der über das Netz­werk, dass er der recht­mä­ßi­ge Wahl­sie­ger sei. 

Am Drei­kö­nigs­tag kommt es schließ­lich zum Putsch­ver­such. Ex-Mili­tärs, Polizist:innen und selbst­er­nann­te Patriot:innen aber auch selt­sa­me Gestal­ten mit bemal­ten Gesich­tern und Scha­ma­nen-Kos­tüm drin­gen gewalt­sam in das nor­ma­ler­wei­se gut geschütz­te Kapi­tol ein, wo gera­de der neue Prä­si­dent bestä­tigt wird. Es dau­ert Stun­den, bis die Herz­kam­mer der ame­ri­ka­ni­schen Demo­kra­tie wie­der unter Kon­trol­le ist. Die Senator:innen und Abge­ord­ne­te wer­den in Sicher­heit gebracht und müs­sen aus­har­ren. Es kommt zu Kämp­fen. Es gibt Tote. Es gibt Bil­der. Das alles lässt sich im Netz­werk mehr oder weni­ger live mit ver­fol­gen. Spä­ter gibt es Gerüch­te, dass Tei­le des Sicher­heits­ap­pa­rats den Putsch woll­ten. Dass die Auf­stän­di­schen eigent­lich das Ziel hat­ten, Gei­seln zu nehmen.

Der Mann macht sich Sor­gen. Noch hat der US-Prä­si­dent Zugriff auf die Nukle­ar­codes. Der evan­ge­li­ka­le Vize-Prä­si­dent hat zwar fak­tisch die Macht über­nom­men, aber wer weiß, was da noch passiert.

Inzwi­schen ist eine Muta­ti­on des Virus auf­ge­taucht. Stär­ker anste­ckend. In eini­gen Län­dern sind die Fall­zah­len schon hoch­ge­gan­gen. Auch in Groß­bri­tan­ni­en, das nicht mehr zur Euro­päi­schen Uni­on gehört und sei­ne Gren­zen dicht gemacht hat.

Um sich davon abzu­len­ken, holt der Mann sich ein Buch auf einen der vie­len Bild­schir­me. Oder er schaut Seri­en und Fil­me an. Die Aus­wahl ist rie­sig. Vie­les ist brand­neu, obwohl die Pan­de­mie auch das Film­ge­schäft hart unter­bro­chen hat. Oder er führt hef­ti­ge Debat­ten im Netz­werk. Mög­lich­kei­ten, sich abzu­len­ken, gibt es jeden­falls genug. 

Der Jah­res­wech­sel fand weit­ge­hend ohne Feu­er­werk statt. Nie­mand woll­te den über­las­te­ten Kli­ni­ken auch noch abge­ris­se­ne Hän­de und Brand­ver­let­zun­gen zumu­ten. Es war ein selt­sa­mer Jah­res­wech­sel. Heim­lich hat­ten vie­le gehofft, das nach dem Jahr 2020 mit sei­nen Wald­brän­den und Tor­na­dos, mit dem Kome­ten und der Kli­ma­kri­se, den Flüch­ten­den und der Pan­de­mie wie­der Ruhe ein­keh­ren wird. Wenn es doch nur zu Ende gin­ge. Doch das hier ist jetzt unse­re Zukunft. 

Leseprotokoll Juli 2017

Mein Juli war recht lese­reich, zumin­dest was den Bereich Sci­ence Fic­tion und Fan­ta­sy angeht. Und natür­lich bewahr­hei­te­te sich dabei ein­mal mehr, dass Sci­ence Fic­tion vor allem von der Gegen­wart handelt. 

Wie bei­spiels­wei­se in Ste­phen Gas­kells Antho­lo­gie Tales from the Edge: Escala­ti­on (die ich auch gekauft habe, weil eine Geschich­te dar­in von Alai­star Rey­nolds stammt). Der gemein­sa­me Hin­ter­grund für die hier ver­sam­mel­ten, schnell gele­se­nen Sto­rys ist ein Pla­ne­ten und Son­nen­sys­te­me ver­schlin­gen­der „Maelstrom“. Ein sol­ches Ereig­nis löst Eva­ku­ie­run­gen und Flucht­be­we­gun­gen aus, und auch reli­giö­se Kul­te blü­hen auf. Wer kann es sich leis­ten, einen Platz auf einem der Eva­ku­ie­rungs­raum­schif­fe zu bekom­men? Wer erschwin­delt sich einen? Was ist der Preis dafür – und wie geht es danach weiter?

Auch in Tomorrow’s Kin von Nan­cy Kress bil­det ein kata­stro­pha­les Ereig­nis den Hin­ter­grund einer Geschich­te, in der es – in die­sem Fall – um Ver­trau­en, Poli­tik und Wis­sen­schaft im Spät­ka­pi­ta­lis­mus geht. Tech­no­lo­gisch über­le­ge­ne Cou­si­nen der Mensch­heit lan­den vor New York, um vor einer dro­hen­den Begeg­nung der Erde mit einer inter­pla­ne­ta­ren Spo­ren­wol­ke zu war­nen. Sie rufen dazu auf, in einer gemein­sa­men wis­sen­schaft­li­chen Anstren­gung ein Gegen­mit­tel zu ent­wi­ckeln. Die Prot­ago­nis­tin ist eine mäßig erfolg­rei­che Wis­sen­schaft­le­rin, die durch einen Zufall zum Teil des Teams wird, das hier zusam­men­kommt. Aber ist es rich­tig, den außer­ir­di­schen Cou­si­nen zu ver­trau­en? Gibt es die­se Spo­ren­wol­ke wirk­lich – und war­um exis­tiert nicht längst ein Gegen­mit­tel? Der Hand­lungs­bo­gen die­ses ers­ten Ban­des erstreckt sich über meh­re­re Jah­re, schlägt dabei eini­ge Vol­ten und hat mich bis zum Schluss nicht kalt gelassen.

Dass es in Charles Stross’ Deli­ri­um Brief, dem neus­ten Band der Laun­dry-Serie (Hor­ror meets bri­ti­sche Büro­kra­tie), eben­falls um Kata­stro­pha­les geht, ist nicht ver­wun­der­lich. Nach­dem die Exis­tenz der Laun­dry im letz­ten Band öffent­lich bekannt wur­de, geht es jetzt dar­um, mit den poli­ti­schen Fol­gen umzu­ge­hen – Regie­rungs­kom­mis­sio­nen, Talk­shows, rol­len­de Köp­fe und ein Pro­zess, der im Out­sour­cing die­ser Behör­de mün­den wird. Hier liegt dann auch der wah­re Hor­ror … (neben­bei bemerkt: die Laun­dry wür­de sich her­vor­ra­gend für eine Seri­en­ver­fil­mung eignen).

Ein wei­te­rer Band einer Serie ist Luna: Wolf Moon von Ian McDo­nald. „Game of Thro­nes“ auf dem Mond wür­de für eini­ge der Ent­wick­lun­gen, die sich aus dem Regime­wech­sel am Ende des ers­ten Ban­des (Luna: New Moon) erge­ben, durch­aus auch pas­sen. Wie Mond und Erde sich näher­kom­men, und wie die Intri­gen der luna­ren Fami­li­en­kon­zer­ne sich wei­ter­spin­nen, ist lesens­wert – ins­be­son­de­re, weil McDo­nald es hier, wie auch in vie­len sei­ner frü­he­ren Bücher, schafft, eine ganz eige­ne, syn­kre­ti­sche Kul­tur leben­dig wer­den zu las­sen, in der er Ele­men­te, die er z.B. afri­ka­ni­schen, bra­si­lia­ni­schen, aus­tra­li­schen und asia­ti­schen Lebens­wel­ten ent­nom­men hat, mit ganz neu­en Erfin­dun­gen, wie sie nur in der Nied­rig-Gra­vi­ta­ti­ons-Gesell­schaft des Mon­des ent­ste­hen kön­nen, zusam­men­bringt, und zu einem über­zeu­gen­den Gan­zen zusam­men­wach­sen lässt. Sei­ne Mond­zu­kunft ist im Gro­ßen alles ande­re als eine Uto­pie (wie gesagt, gewis­se Grund­struk­tu­ren erin­nern an „Game of Thro­nes“) – die eine oder ande­re uto­pi­sche Nische fin­det sich aller­dings doch.

Last but not least: Ada Pal­mer war mir bis­her kein Begriff. Durch Zufall bin ich auf ihre bei­den Bän­de Too Like The Light­ning und Seven Sur­ren­ders gesto­ßen und bin hin- und her­ge­ris­sen, was ich davon hal­ten soll. Die His­to­ri­ke­rin Pal­mer ent­wirft eine post­na­tio­na­le Zukunft, eini­ge hun­dert Jah­re nach unse­rer Gegen­wart. Dass der Natio­nal­staat hier an Bedeu­tung ver­lo­ren hat und teil­wei­se durch ande­re Instan­zen ersetzt wur­de, erin­nert an Mal­ka Olders Info­mo­cra­cy. Jede und jeder kann wäh­len, wel­cher der hier sie­ben welt­um­span­nen­den Ein­hei­ten er oder sie zuge­hö­rig ist. Da und dort schim­mern noch ein­zel­ne regio­na­le Bünd­nis­se (die EU), glo­ba­le Kon­zer­ne (Mitsu­bi­shi-Green­peace) oder ande­re Vor­bil­der (die olym­pi­schen Spie­le und deren Ver­mark­tung, das römi­sche Reich, die sci­en­ti­fic com­mu­ni­ty) als Ker­ne die­ser Post­na­tio­nen durch. Die Zukunft ist ratio­nell – Geschlecht ist tabui­siert und zugleich flui­de, Fami­li­en sind durch Wahl­ver­wand­schaf­ten und kom­mu­na­le Lebens­for­men ersetzt, Reli­gi­on ist nach schreck­li­chen Reli­gi­ons­krie­gen höchst­pri­vat, und Pro­ble­me wie der Ver­kehr (com­pu­ter­ge­steu­er­te sub­or­bi­ta­le Taxis) oder der Umgang mit Verbrecher*innen (für­sorg­li­che Ver­skla­vung) haben klu­ge Lösun­gen gefun­den. Com­pu­ter und Mensch-Com­pu­ter-Hybri­de sor­gen für opti­ma­le Steue­rung. Doch hin­ter die­ser hei­len Ober­flä­che taucht eine Par­al­lel­welt der Rei­chen und Mäch­ti­gen auf, die in barock anmu­ten­der Aus­schwei­fung durch Sexua­li­tät, Reli­giö­si­tät, phi­lo­so­phi­sche Lek­tü­re und ande­re Tabu­brü­che zusam­men­ge­hal­ten wird. Dazu kom­men fast schon mys­ti­sche Bege­ben­hei­ten. Der (eigen­wil­li­ge und sicher­lich nicht beson­ders zuver­läs­si­ge) Erzäh­ler büßt für ein bru­ta­les Ver­bre­chen, und ist doch zugleich der­je­ni­ge, der nach und nach die Puz­zle­stei­ne der zunächst nach Kri­mi aus­se­hen­den Geschich­te zusam­men­setzt. Span­nend ist Pal­mers Serie (ein drit­ter Band erscheint dem­nächst) auch durch die­se Geschich­te – vor allem aber wirft der Roman Fra­gen dazu auf, was das kon­se­quen­te Wei­ter­den­ken heu­ti­ger Ent­wick­lun­gen bedeu­ten wür­de. Die Ant­wor­ten fas­zi­nie­ren, sto­ßen aber zugleich ab. 

Der schmale Grat der SPD

Gerhard Schröder in the shadows

Irgend­wann ist dann die SPD auf­ge­wacht und hat fest­ge­stellt, dass die­se komi­sche Kell­ner-Par­tei ihr bedroh­lich nahe rückt, in den Umfra­gen. Was also tun? Am bes­ten nach der But­ter schnap­pen, die auf dem Tablett der grü­nen Kell­ner liegt. Da ist zum Bei­spiel das The­ma Volks­ent­scheid. Was SPD-Chef Gabri­el hier völ­lig rich­tig sagt: es wäre längst an der Zeit, mehr direk­te Demo­kra­tie auch auf Bun­des­ebe­ne zuzu­las­sen.* Schön und bequem aber auch, dass er den schwar­zen Peter hier der Bun­des­re­gie­rung zuschie­ben kann. Über­haupt: es scheint bei der SPD gera­de beliebt zu sein, nach Volks­ent­schei­den zu rufen – beim sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Wackel­pro­jekt Stutt­gart 21, und – wenn es ein The­ma ist, zu dem die Mas­sen gera­de auf die Stra­ße strö­men – dann eben auch zum Atomausstieg. 

Soweit ok. Dann aber sagt Gabri­el in eben die­sem oben zitier­ten Inter­view auch Din­ge, die ich eher haa­resträu­bend fin­de. Von Volks­par­tei und Volks­ent­scheid geht’s da näm­lich zu Vol­kes Mei­nung, sprich der belieb­ten Übung „Sar­ra­zin kri­ti­sie­ren, aber man darf ja mal sagen, dass …“. Zwi­schen den Zei­len tun sich hier Abgrün­de auf in eine Par­tei nicht der Arbei­ter­klas­se, son­dern der ver­un­si­cher­ten Milieus „klei­ner Leu­te“. Und da fal­len dem SPD-Chef plötz­lich lau­ter Din­ge zur Stär­kung der „Sicher­heits­ge­fühls“ ein, bei denen einem das Gru­seln kom­men kann:

Aber natür­lich müs­sen wir auch for­dern. Egal ob Deut­scher oder Aus­län­der: Wer sei­ne Kin­der nicht regel­mä­ßig und pünkt­lich in die Schu­le schickt, dem schi­cken wir die Poli­zei vor­bei und der zahlt auch emp­find­li­che Buß­gel­der – auch dann, wenn er Hartz-IV-Bezie­her ist. Wer auf Dau­er alle Inte­gra­ti­ons­an­ge­bo­te ablehnt, der kann eben­so wenig in Deutsch­land blei­ben wie vom Aus­land bezahl­te Hass­pre­di­ger in Moscheen. 

Volks­er­zie­hung durch das groß­zü­gi­ge (und groß­mäu­li­ge) Ver­tei­len von Watschn? Bes­se­re Bil­dung für alle durch Poli­zei und „emp­find­li­che“ Buß­gel­der (statt z.B. durch Schul­so­zi­al­ar­beit, bes­se­re Schu­len, Stadt­teil­po­li­tik, …)? Die Idee der „Gast­ar­bei­ter“ mit Rück­kehr­zwang im neu­en Gewan­de statt Ein­wan­de­rungs­po­li­tik? Groß­zü­gi­ges Rauswerfen?

In der Apo­lo­gie eines Gabri­el-Fan­boys bei Twit­ter klingt das dann so:

„Das Sicher­heits­ge­fühl der Deut­schen ist auch etwas, vor dem man Respekt haben muss.“ (Sig­mar Gabri­el) – Inne­re Sicher­heit ist ein sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Kern­the­ma, bzw. soll­te eines sein. Die „klei­nen Leu­te“ sind auf Sicher­heit ange­wie­sen. Regeln und Geset­ze gibt es nicht zum Spaß. Die müs­sen durch­ge­setzt wer­den. Ohne Sicher­heit bringt Frei­heit nichts. Die SPD muss wirk­lich dank­bar sein, dass sie einen Vor­sit­zen­den wie Sig­mar Gabri­el hat. 

Pro­vo­ka­ti­on gelun­gen – aber was da durch­schim­mert an Glau­ben an den star­ken Staat, an die Gefähr­dung der Öffent­lich­keit durch Tole­ranz und an nicht zuletzt einem selt­sa­men Recht­staats­be­wusst­sein – also bit­te! Natür­lich sind Geset­ze, die nicht durch­ge­setzt wer­den, sinn­los; das macht aber noch nicht jedes Gesetz, nur weil es im for­mal rich­ti­gen Ver­fah­ren beschlos­sen wur­de, auch poli­tisch sinn­voll und klag­los mitzutragen!

Wenn ich die­se Rand­be­ob­ach­tun­gen zusam­men­neh­me, und mei­nen Ein­druck ein biß­chen zuspit­ze, dann kommt dabei das Bild einer SPD als Par­tei her­aus, die an Volks­be­geh­ren und Volks­ent­schei­den eigent­lich nur den Popu­lis­mus von „Vol­kes Stim­me“ gut fin­det; die noch immer dar­an zu knab­bern hat, vor etwa hun­dert Jah­ren vom dama­li­gen bür­ger­li­chen Estab­lish­ment als vater­lands­lo­se Gesel­len bezeich­net wor­den zu sein, und die in der Kri­se dann fast schon reflex­haft ver­sucht, patrio­ti­scher und volks­treu­er auf­zu­tre­ten als sonst wer. Es könn­te ihr ja sonst jemand einen Vor­wurf machen. 

Mit einer gewis­sen Berech­ti­gung lie­ßen sich sogar Schrö­ders Agen­da-2010-Refor­men die­sem Reflex zuord­nen: nur ja die Regie­rungs­fä­hig­keit bewei­sen, klar machen, dass „man“ eine rich­ti­ge Par­tei ist – also ob das nach über hun­dert Jah­ren irgend­wer bezwei­feln wür­de. Aber der Min­der­wer­tig­keits­kom­plex scheint tief zu sit­zen, so tief, dass es immer dann, wenn es wich­tig wäre, schwie­rig wird, an die ver­schüt­te­ten eman­zi­pa­to­ri­schen und letzt­lich auch libe­ra­len Grund­strö­mun­gen der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie her­an­zu­kom­men. Die setzt dann lie­ber auf Num­mer sicher, auf Sicher­heit, auf Ein­heit, auf Einig­keit, auf Recht – aber sel­ten auf Freiheit.

Zu die­sen Refle­xen passt es dann auch, wenn die SPD in Nord­rhein-West­fa­len zur Min­der­hei­ten­re­gie­rung getra­gen wer­den muss­te, und anders­wo lie­ber Sta­bi­li­tät und CDU-Regie­ren­de in Kauf nimmt, statt sich für pro­gres­si­ve Koali­tio­nen zu öffnen.

Damit sind wir beim zwei­ten Trau­ma, dem der spä­ten 1960er und 1970er Jah­re, als die pro­gres­si­ve Lin­ke dann ande­re Orte gesucht und gefun­den hat, es gar gewagt hat, sich als Par­tei zu for­mie­ren. Auch das zu über­win­den scheint bei der SPD ein Pro­zess zu sein, der nur sehr lang­sam zu einem Abschluss kommt. Und die gesell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen, die seit den 1970er Jah­ren statt­fin­den, schei­nen auch noch immer nicht wirk­lich begrif­fen wor­den zu sein, von den SozialdemokratInnen.

Ich glau­be nicht, dass die SPD als Par­tei bald Geschich­te sein wird. Als domi­nan­te gesell­schaft­li­che Strö­mung hat sie ihre Blü­te­zeit längst hin­ter sich; die Wahl in Schwe­den ist da nur ein i‑Tüpfelchen. Ob sie es schafft, sich als Par­tei, die etwa ein Vier­tel der Stim­men auf sich ver­ei­nen kann, wirk­lich neu auf­zu­stel­len? Oder schleppt sie sich wei­ter, öltankergleich?

War­um blog­ge ich das? Aus Sor­ge um eine Par­tei, die wir dann doch zum Regie­ren brauchen.

* Was mich dabei aller­dings auch irri­tiert: das es mal wie­der nur dar­um gehen soll, rich­tig zu erklä­ren, was als rich­ti­ge Poli­tik erkannt wur­de, und Gabri­el den Volks­ent­scheid nicht als Par­ti­zi­pa­ti­ons­in­stru­ment, son­dern als Druck, Poli­tik zu erklä­ren, begründet.