Über Infrastruktur, und wie wir sie erhalten können

Ich gebe zu, dass ich bei dem The­ma etwas vor­ein­ge­nom­men bin. Eine von den Din­gen, die ich wirk­lich aus mei­nem Sozio­lo­gie­stu­di­um mit­ge­nom­men habe, ist Pra­xis­theo­rie: gesell­schaft­li­che Regeln, Erwar­tun­gen usw. ver­fes­ti­gen sich, indem sie immer wie­der wie­der­holt wer­den – und damit Bah­nen schla­gen für genau die­se Regeln und Erwar­tun­gen. Es ist so, weil es schon immer so war. Sozia­le Struk­tur­bil­dung ist flui­de. Jetzt kommt Tech­nik ins Spiel: in Infra­struk­tur und Arte­fak­te gegos­se­ne Erwar­tun­gen sind sehr viel fes­ter als blo­ße sozia­le Erwar­tungs­bün­del und tra­gen dazu bei, die­se über die Zeit fest­zu­schrei­ben. Bis hin zu kon­tin­gen­ten Ent­schei­dun­gen, die heu­te extre­men Ein­fluss dar­auf haben, was wir glau­ben zu tun zu kön­nen und was nicht. Egal, ob es das Lay­out von Tas­ta­tu­ren ist oder die Spur­wei­te der Eisen­bahn oder die Ori­en­tie­rung gan­zer Städ­te auf das Auto. Mit Eliza­beth Sho­ve gespro­chen: sozia­le Prak­ti­ken bestehen aus einer Tri­as aus Skills/Handeln, Bildern/Vorstellungen/Wissen und eben Arte­fak­ten. Was ich sagen will: das Wech­sel­spiel zwi­schen Infra­struk­tur und sozia­ler Struk­tur­bil­dung fas­zi­niert mich.

Genau da setzt Deb Chach­ras Buch How Infra­struc­tu­re Works. Insi­de the Sys­tems That Shape Our World (2023) an. Chach­ra – eine Pro­fes­so­rin für Mate­ri­al­wis­sen­schaft – beginnt (wie im gan­zen Buch mit einem sehr lako­ni­schen, anspie­lungs­rei­chen und auch vor Wort­spie­len nicht zurück­schre­cken­den Stil) mit einer Ein­füh­rung, was Infra­struk­tu­ren über­haupt sind, wie es dazu kommt, dass es sie gibt, und wie Infra­struk­tu­ren auf­ein­an­der auf­bau­en. Und schon ziem­lich früh in ihrem Buch macht sie klar, dass Infra­struk­tur eben auch etwas mit Macht zu tun hat, und ohne sozia­le Ein­bet­tung – und ohne sozia­le Wir­kung – über­haupt nicht denk­bar ist. Beson­ders an dem Buch ist zudem die viel­fäl­ti­ge Per­spek­ti­ve. Chach­ra ist die Toch­ter von nach Kana­da ein­ge­wan­der­ten Inder*innen, und sie lebt inzwi­schen in den USA, zwi­schen­zeit­lich in Groß­bri­tan­ni­en. Das sind die Kon­trast­fo­li­en, die immer wie­der auftauchen.

Was im ers­ten Teil eher wie eine gute geschrie­be­ne Ein­füh­rung in die Geschich­te von Was­ser, Gas, Elek­tri­zi­tät (und Ver­kehr) wirkt, wird dann schnell zu einem poli­ti­schen Buch. Die Infra­struk­tur, die wir als gege­ben hin­neh­men, und die ein Ergeb­nis (und eine Grund­la­ge) der Akku­mu­la­ti­on von Reich­tum in den west­li­chen Gesell­schaf­ten dar­stellt, ist ohne lan­ge Hand­lungs­ket­ten, ohne Aus­beu­tung des glo­ba­len Südens, nicht denk­bar. Infra­struk­tur ist in sozia­le und poli­ti­sche Sys­te­me ein­ge­bet­tet und per­p­etu­iert diese.

Oder, um es in zwei Zita­te zu packen: „Infra­struc­tu­ral net­works, by their natu­re, increase indi­vi­du­al free­dom coll­ec­tively.“ (S. 115) – „Infra­struc­tu­ral net­works could be fair­ly descri­bed as vast con­s­truc­tions who­se pur­po­se is to cen­tra­li­ze resour­ces and agen­cy to a small frac­tion of extre­me­ly pri­vi­led­ged humans and to dis­place the harms to many others.“ (S. 134)

Chach­ra geht nun dar­auf ein, wie Infra­struk­tur „fails“ (fehl­schlägt, kaputt geht – ich fin­de, das lässt sich nicht so rich­tig gut über­set­zen). Das sind näm­lich nicht nur Ter­ror­an­schlä­ge etc., son­dern ins­be­son­de­re auch lang­sam anwach­sen­de War­tungs­pro­ble­me, weil zum Bei­spiel kein Geld da ist, um Brü­cken zu sanie­ren. Die­se Art von Pro­ble­men nennt Chach­ra in Abgren­zung von „black swans“ und „gray swans“ dann „red ter­mi­tes“ – läs­tig, fast unsicht­bar, gut igno­rier­bar, und irgend­wann stürzt die Brü­cke dann ein. („Any suf­fi­ci­ent­ly advancded neg­lie­gence is indis­tin­gu­is­ha­ble from mali­ce.“ (S. 161))

Funk­tio­nie­ren­de Erhal­tung von Infra­struk­tur hat wie­der­um sehr viel damit zu tun, wie die­se poli­tisch ein­ge­bet­tet ist – geht es dar­um, einen Pro­fit zu erwirt­schaf­ten, oder steht das All­ge­mein­wohl im Vor­der­grund? Wie viel Geld wird zur Ver­fü­gung gestellt, und wie wird die schein­bar so lang­wei­li­ge Rou­ti­ne­ar­beit der Über­prü­fung und Instand­set­zung bewertet?

Neben Schwä­nen und Ter­mi­ten taucht dann auch ein „gray rhi­no“ auf – das graue Nas­horn, das längst im Raum steht, und ger­ne igno­riert wird, egal, wie es sich benimmt: der Kli­ma­wan­del. Das es die­sen gibt, hat viel mit Infra­struk­tur zu tun – im Bau und Betrieb von Infra­struk­tur steckt Ener­gie, und die ist für die letz­ten 200 Jah­re vor allem fos­si­le Ener­gie. Gleich­zei­tig führt der Kli­ma­wan­del dazu, dass Infra­struk­tur Pro­ble­men aus­ge­setzt ist, die bis­her unvor­her­ge­se­hen sind. Jahr­hun­dert­stür­me und ‑hoch­was­ser häu­fen sich, Tem­pe­ra­tu­ren schwan­ken über Berei­che hin­aus, für die Stra­ßen oder Strom­lei­tun­gen vor­ge­se­hen sind. Der Kli­ma­wan­del trägt also dazu bei, dass unse­re für selbst­ver­ständ­lich hin­ge­nom­me­ne Infra­struk­tur schnel­ler und schnel­ler brö­ckelt und repa­riert und ange­passt wer­den muss.

Wie das gesche­hen kann – und damit schlägt Chach­ra dann den ganz gro­ßen Bogen – wird in den letz­ten Kapi­teln des Buchs aus­ge­führt, in dem sie eine Zukunfts­vi­si­on zeich­net. Die besteht nicht aus glit­zern­der High­tech, son­dern baut auf einer dezen­tra­li­sier­ten, fle­xi­blen und resi­li­en­ten Grund­la­ge auf. Das mag lang­wei­lig wir­ken, ist aber eine sehr viel kon­kre­te­re Uto­pie. Aus einer Ein­füh­rung in die Poli­tik der Infra­struk­tu­ren wird hier ein gut begrün­de­tes poli­ti­sches Mani­fest, das in sechs Hand­lungs­ma­xi­men mündet:

  1. Plan for Abun­dant Ener­gy and Fini­te Materials
  2. Design for Resilience
  3. Build for Flexibility
  4. Move Toward an Ethics of Care
  5. Reco­gni­ze, Prio­rit­ze, and Defend Non-mone­ta­ry Benefits
  6. Make It Public

Das schei­nen mir sehr gute Ori­en­tie­rungs­plan­ken zu sein – und zwar ganz egal, ob es um Ver­kehrs­sys­te­me, Städ­te­pla­nung, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sys­te­me, Elek­trik oder die Was­ser­ver- und ‑ent­sor­gung geht. Die Zusam­men­hän­ge, die Chach­ra zwi­schen Nach­hal­tig­keit im Sin­ne von Dau­er­haf­tig­keit, einer gewis­sen Nut­zungs­fle­xi­bi­li­tät und dem Fokus auf Resi­li­enz auf macht, erschei­nen sehr plau­si­bel. Dazu gehört auch der inhä­ren­te Wider­spruch zwi­schen Optimierung/Effizienz einer­seits und Resi­li­enz ande­rer­seits. Ein Sys­tem, das mit Ände­run­gen sei­ner Umwelt, mit Pro­ble­men und Stö­run­gen klar kom­men soll, braucht eine gewis­se Red­un­danz, braucht „slack“. Und genau die fällt weg, wenn das Sys­tem bis zum letz­ten Win­kel auf Effi­zi­enz getrimmt wird. 

Ganz neben­bei räumt Chach­ra hier in gelun­ge­ner Wei­se mit dem Mythos auf, dass der indi­vi­du­el­le Fuß­ab­druck, wie ihn BP erfun­den hat, ein hilf­rei­ches Maß ist. Ent­schei­dend sind die gro­ßen tech­ni­schen Sys­te­me, weil die­se nicht nur unser Han­deln ermög­li­chen und len­ken, son­dern in deren Bau und Betrieb auch der Löwen­an­teil unse­rer CO2-Emis­sio­nen steckt.

Ins­ge­samt also ein rund­um emp­feh­lens­wer­tes Buch, nicht nur für Nerds, son­dern für alle, die eine Hand­lungs­an­lei­tung für den Umbau der tech­ni­schen Welt, in der wir leben, brau­chen können. 

In eigener Sache: Swap, share, experience

2014-swap-share-experienceDie Vor­trä­ge der Degrowth 2014 sind inzwi­schen in einem Online-Doku­men­ta­ti­ons­sys­tem verfügbar. 

Dazu gehört auch der Vor­trag, den ich im letz­ten Sep­tem­ber zusam­men mit Jen­ny Lay zum The­ma „Swap, share, expe­ri­ence“ geschrie­ben und gehal­ten habe. Genau­er gesagt: Sowohl unse­re hüb­sche Power­point-Datei (eng­lisch) als auch das (deutsch­spra­chi­ge) Manu­skript „Tau­schen, tei­len, Erfah­run­gen sam­meln: Das trans­for­ma­ti­ve Poten­ti­al sozi­al-öko­lo­gi­scher Pra­xis­for­men“ sind jetzt online abruf­bar (bei­des sind PDF-Dateien).

Inhalt­lich geht es dar­um, mal aus­zu­pro­bie­ren, wie weit ein pra­xis­theo­re­ti­sches Voka­bu­lar hilf­reich dabei sein kann, sich unter­schied­li­chen Pra­xis­for­men der – im wei­te­ren Sin­ne – Share Eco­no­my – zu nähern, und mit Bezug auf u.a. Eliza­beth Sho­ves Ras­ter aus stuff, images und skills zu unter­su­chen, wo das trans­for­ma­ti­ve Poten­zi­al die­ser Pra­xis­for­men liegt. Aus­pro­biert haben wir das an den Bei­spie­len urba­ner Gär­ten und Umsonstläden. 

Das gan­ze ist ein ers­ter Ent­wurf, aber viel­leicht trotz­dem inter­es­sant für alle, die sich umwelt­so­zio­lo­gisch der­ar­ti­gen Phä­no­me­nen nähern wollen. 

Lay, Jen­ny; Wes­ter­may­er, Till (2014): »Swap, share, expe­ri­ence: the trans­for­ma­ti­ve poten­ti­al of socio-eco­lo­gi­cal forms of prac­ti­ce«, in Fourth Inter­na­tio­nal Con­fe­rence on Degrowth for Eco­lo­gi­cal Sus­taina­bi­li­ty and Social Equi­ty, Leip­zig, 2014, URL: http://degrowth.co-munity.net/conference2014/scientific-papers/3543. (Bzw. per­sis­ten­te URL bei SSOAR: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-420416).

Nachdenken über Nachhaltigen Konsum

Fast food III

Vor ein paar Tagen habe ich ein biss­chen was über die Mün­che­ner Tagung zu Kon­sum und Nach­hal­tig­keit geschrie­ben. Jetzt bin ich am Über­le­gen, ob ich für die Tagung Sus­tainable Con­sump­ti­on – Towards Action and Impact im Novem­ber in Ham­burg einen Abs­tract ein­rei­che (die Dead­line ist heu­te abend). Mir gefällt jeden­falls die Aus­rich­tung der Tagung, und eini­ge der Key­note-Spea­k­er klin­gen auch sehr span­nend. Das mal als Vor­be­mer­kung zu den fol­gen­den Über­le­gun­gen zum The­ma „Nach­hal­ti­ger Konsum“.

Ein Grund­pro­blem der sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Nach­hal­tig­keits­de­bat­te ist mei­ner Mei­nung nach die dop­pel­te Bedeu­tung des Begriffs „nach­hal­tig“. Und damit mei­ne ich jetzt nicht die Tat­sa­che, dass das Adjek­tiv auch als Syn­onym für „dau­er­haft“ ver­wen­det wer­den kann, son­dern die Unter­schei­dung zwi­schen einer mate­ri­el­len und einer sym­bo­li­schen Ebe­ne, wenn es um „nach­hal­ti­gen Kon­sum“ oder um „nach­hal­ti­ge Lebens­sti­le“ geht. Das sieht dann unge­fähr so aus:
„Nach­den­ken über Nach­hal­ti­gen Kon­sum“ weiterlesen