Nachdem ich begründet habe, warum ich nicht kandidiere (und gesagt habe, was es sonst so im Vorfeld der Listenaufstellung noch zu sagen gibt) und einen kurzen Vorbericht zur grünen Landesdelegiertenkonferenz 2012 verfasst habe, möchte ich mich doch noch kurz zu den Ergebnissen äußern.
Das Glatteis der Mitregierung
Wie immer vor wichtigen Wahlen diskutieren wir Grüne heftig darüber, ob bestimmte Koalitionen ausgeschlossen werden dürfen oder nicht. Ein Argument hier finde ich spannend, weil es ziemlich rutschig ist. Das bringt hier Konstantin von Notz in die Debatte – aber er ist nicht der einzige:
Klingt erstmal plausibel. Es gibt eine Menge der möglichen Koalitionen K = {k1, k2, …}, und ein optimales Wahlergebnis für Grüne ist erreicht, wenn die Koalition aus der Menge K realisiert wird, die den größten „Nutzen“ fgrün(k) aufweist. fPartei(k) könnte daran gemessen werden, wie viele Vorhaben aus dem Wahlprogramm einer Partei sich im vermuteten Koalitionsvertrag wiederfinden. Klar:
fgrün(kCDU+GRÜNE) > fgrün(kCDU+SPD)
Fies daran ist: Aus dieser Perspektive ist höchstwahrscheinlich jede Koalition mit grüner Beteiligung besser als irgendeine mögliche Koalition ohne grüne Beteiligung – es sei denn, eine große Koalition oder rot-rot oder schwarz-gelb würde mehr grüne Projekte umsetzen als eine mögliche Koalition mit grüner Beteiligung.
Nun ist es allerding so, dass die ProponentInnenen der generellen Koalitionsoffenheit meistens keine Lust haben, fgrün(kGRÜNE+SPD+LINKE) zu berücksichtigen. Obwohl doch auch dort der Nutzen aus grüner Sicht höchstwahrscheinlich größer wäre als für z.B. fgrün(kCDU+FDP). Warum ist das so?
Vielleicht allein schon deswegen, weil die Nutzenfunktion f ziemlich naiv ist (und weil Politik nur begrenzt rational funktioniert, aber das ist eine andere Debatte). Eine nicht naive Nutzenfunktion müsste z.B. auch berücksichtigen, wie groß der Glaubwürdigkeits- oder Grundwertsverstoßfaktor ggrün(k) ist. Und für einige wäre eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei hier ein großer negativer Effekt.
Anders gesagt: Zieht eine Koalition, die zunächst einmal positive Effekte bringt, auf der anderen Seite Konsequenzen nach sich, die ganz und gar nicht gewollt sind?
Selbst die kGRÜN+SPD hier in Baden-Württemberg schneidet beim Blick auf ggrün(kGRÜN+SPD) nicht nur positiv ab – schließlich gehört auch die Innenpolitik des SPD-Innenministers Gall und die Verkehrspolitik der SPD-Fraktionsvorsitzenden Schmiedel zum Gesamttableau. Und dann, da wird mir die Mathematik aber zu kompliziert, gibt es noch Effekte zweiter Ordnung mit mittel- bis langfristigen Folgen. Wählerbindung, Stärkung oder Schwächung der Konkurrenz, Nutzenfunktionen anderer Parteien, die diese wiederum in ihre strategischen Überlegungen einbeziehen, …
Letztlich ist der Nutzen einer Koalition damit eher …
ugrün(k) = a*fgrün(k) + b*ggrün(k) + c*zgrün(fgrün, fSPD, fCDU, … ggrün, … zSPD( …), … x, y )
… und danach sollten wir die Menge K bewerten, nicht alleine nach Schema f.
Warum blogge ich das? Ich bin überhaupt nicht davon überzeugt, dass der Nutzen bestimmter Koalitionen sich mathematisch fassen lässt. Insofern keine Sorge, ganz ernst ist dieser Blogbeitrag nicht gemeint. Ernst ist es mir allerdings damit, dass wir mögliche Koalitionen nicht nur danach beurteilen sollten, ob wir Grüne etwas positives verändern können, sondern auch danach, was eine Koalition langfristig mit uns macht, und welchen Nutzen andere davon haben.
Was fehlt: Klare Konzepte für 2013
17, 15, 12, 14 – so ungefähr sehen die grünen Bundesumfragewerte in den letzten Wochen aus. Wird es in gut einem Jahr für Rot-Grün reichen? Vier‑, Fünf‑, Sechsparteienparlamente? Paprikakoalitionen gar?
Interessanter als diese weitreichenden Zahlenspiele (und als die Spekulationen über mögliche SpitzenkandidatInnen) finde ich die Frage, warum Deutschland 2013 einen Regierungswechsel braucht. Und vor allem die Frage, welche Rolle dabei uns Grünen zukommen könnte.
Ganz abstrakt gesprochen, würde ich darauf antworten, dass Merkels Regierung zwei Dinge erreicht hat: Sie hat die scheinbare Alternativlosigkeit als politisches Standardmodell etabliert, und sie hat das Kohl’sche Aussitzen zu einem ultrapragmatischen Politikstil des Nicht-Entscheidens perfektioniert. Verloren hat dabei der politische Diskurs. Über Alternativen wird nicht geredet.
Wenn wir 2013 einen Politikwechsel plausibel, d.h. denkbar und dann im Herbst wählbar, machen wollen, müssen wir diesen Nebel lichten. Dass wir Grüne staatsmännisch können, ist uninteressant – dafür werden wir nicht gewählt werden. Nein, wir müssen – meine ich jedenfalls – klar konturierte Konzepte anbieten. Wir müssen darüber reden, und uns darüber streiten, was wir anders machen werden, und wie. Wir müssen dabei in den Versprechen ehrlich bleiben (das unterscheidet uns vom sozialdemokratischen Populismus verschiedener anderer Parteien).
Kurz: Wir müssen rüberbringen – stimmig in Personen und Programm – dass es ganz konkreten Bedarf für eine Neuausrichtung der Bundespolitik gibt, und dass wir selbstbewusst (und zugleich demütig) ganz konkrete Vorschläge machen können, auf Grundlage klarer Überzeugungen. Und wir müssen dabei anknüpfen an existierenden Veränderungswillen.
Binsenweisheit? Mag sein – aber momentan beschleicht mich das Gefühl, dass manche diese Binsenweisheiten vergessen haben könnten.
Nochmal konkreter wird all das, wenn danach gefragt wird, welche Hoffnungen bestehen, was sich mit grün in der Bundespolitik ändern kann. Interessanterweise haben viele meiner Crowd hier an erster Stelle die Sozialpolitik genannt.
Und jetzt seid ihr dran: Wozu braucht es 2013 Grüne in der Bundesregierung?
Kontrovers: Auf dem Weg zur Volkspartei der vorderen Mitte? (Update)
Nicht nur die SPD, nein, auch wir Grüne diskutieren über unseren zukünftigen Kurs (vgl. u.a. SpOn). Ich habe dazu vor ungefähr einer Stunde mal einen kleinen TwtPoll gestartet: „Wohin soll’s mit den Grünen gehen?“. Der stößt auf einige Resonanz. Unter den Antwortvorgaben am beliebtesten ist bis dato (N=61) die „Volkspartei der vorderen Mitte“ (34% Zustimmung, wie es sich für eine Volkspartei gehört). Nach links wollen 23%, so bleiben, wie sie sind ebenfalls 23%, und 18% wollen mehr oder weniger stärker ins bürgerliche Lager.
Mehrfach angemerkt wurde dabei die Unklarheit darüber, was eine Volkspartei der vorderen Mitte eigentlich auszeichnet. Und wo die vordere Mitte überhaupt liegt. Diese Fragen kann ich auch nicht beantworten, sondern will sie lieber hier stellen: was versteht ihr unter der so anziehenden Volkspartei der vorderen Mitte? Wodurch zeichnet sie sich aus?
Update: Na, so richtig diskutieren will das hier wohl keineR?
Spannend finde ich, dass auch bei N=97 weiterhin ein gutes Drittel die „Volkspartei der vorderen Mitte“ will (Abb.). Weil’s gut klingt, weil was sinnvolles dahinter vermutet wird – oder als Notlösung?
Nach der Wahl
Die Umfragen in den Tagen vorher hatten es schon angedeutet; auch der ernsthafte Ausschluss einer Ampel durch die FDP – der dieser sicher noch eine ganze Reihe zusätzliche Stimme einbrachte – senkte die Erwartungen. Die große Frage am Wahlabend war die nach dem Juniorpartner der Merkel-CDU. Ebenso war schon seit einigen Tagen klar, dass die sommerlich euphorischen 13 bis 14 Prozent, die uns Grünen auch schon mal vorhergesagt worden waren, nicht erreicht werden würden.
Trotz der dermassen reduzierten Erwartungen war das Wahlergebnis insgesamt enttäuschend: Eine klare Mehrheit für Schwarz-gelb, auch ohne Überhangmandate. Eine am Boden zerstörte SPD. Keine grünen Direktmandate jenseits von Kreuzberg. Grüne nur auf Platz 5, erst im Vergleich zu den vorherigen Wahlen wird bewusst, dass 10,7 Prozent Zweitstimmen für die Grünen eine Größe sind, die vor wenigen Monaten für eine Bundestagswahl noch als kaum vorstellbar galt. Insofern stimmt der Spruch auf gruene.de, dass es sich hier um ein historisches Ergebnis handelt. In den Geschichtsbüchern wird aber wohl doch eher die strukturellen Verschiebungen im Parteiensystem landen als das bis dato beste Ergebnis der kleinsten Oppositionspartei.
68 Grüne sitzen in der neuen Fraktion. Erst spät am Wahlabend, gegen 3.30 Uhr, war klar, wie sich diese 68 Mandate zwischen den Ländern verteilen werden. Insgesamt wird die Fraktion ein Stück bunter, linker, jünger werden – zum Beispiel mit Sven-Christian Kindler, mit Agnieszka Malczak (was mich ganz besonders freut), oder auch mit Beate Müller-Gemmecke, die in Baden-Württemberg die Grundeinkommensdebatte massgeblich beeinflusst hatte. Ich glaube, dass es eine gute grüne Fraktion werden wird und bin schon gespannt, wie sich hier Themen und Zuständigkeiten verteilen werden.
Letztlich ist das aber eine Momentaufnahme. Jetzt steht die Frage an, ob die Konstellation Schwarz-gelb vs. Rot-rot-grün eine neue Lagerbildung automatisch nach sich zieht – oder ob wir diese unbedingt vermeiden sollten. Die Koalitionsbildungen im Saarland und in Thüringen werden erste handfeste Antworten auf diese Frage darstellen. Die Grünen in Schleswig-Holstein sind ohne Koalitionsaussage in den Wahlkampf gezogen, und haben – hier lässt sich das wirklich sagen – ein historisch gutes Ergebnis erreicht. Lag’s daran, oder doch nur an der Schlammschlacht der Großen?
Wie weit kann grüne Eigenständigkeit gehen? Wann muss die Opposition zusammenstehen, um Druck auf die Raubkatzen-Regierung auszuüben, wann geht’s drum, vom letzten Platz aus lautstark Gehör zu finden? Ich rechne damit, dass stärker als in den letzten vier Jahren – und auch da gab es diese Entwicklung ja schon – eine Hinwendung zurück zu den alten und neuen sozialen Bewegungen festzustellen sein wird. So ruft Campact aktuell dazu auf, einen offenen Brief an die neue Regierung zu unterzeichnen, den Atomausstieg beizubehalten – schon knapp 20.000 Menschen haben diese Bitte unterschrieben. Die Anti-Atom-Mobilisierung kurz vor der Wahl war ein weiterer Hinweis darauf, dass hier – nicht im Sinne eines wollsockigen Zurück-zur-Basis-Gefühls, sondern als wohlüberlegtes gesellschaftliches Bündnis – der Schulterschluss zwischen Partei(en) und Bewegung wieder enger geworden ist.
(Nebenbei: eine Forderung der Gesellschaft an die FDP müsste jetzt eigentlich sein, das Innenministerium für sich zu reklamieren und es mit einem oder einer Bürgerrechtsliberalen zu besetzen. Glaube nicht, dass die das machen – wäre aber ein Signal.)
Spannend wird es, wenn die neue Netzbewegung dabei in den Blick gerät. Zwei Prozent für die Piraten (zwei Prozent, die anderswo gefehlt haben), deutlich höhere Werte in einigen Unistädten und unter männlichen! Erstwählern (bis zu 13 Prozent in der jüngsten Altersgruppe!) sind definitiv ein Signal, dass Bürgerrechte im Netz mobilisieren können. Hinsichtlich der weiteren Parteikarriere dieser sozialen Formation bleibe ich skeptisch. Diese Forderungen aufzunehmen, sie innerparteilich ernsthaft zu diskutierten, und auch personell – über die üblichen Verdächtigen hinaus – hier bündnisfähig zu werden, erscheint mir wichtig für jede Oppositionspartei. Wir sollten hier die ersten sein, die sich aus dem Fenster lehnen. Warum beispielsweise nicht die Forderung nach einem „netzpolitischen Sprecher“ (oder einer „netzpolitischen Sprecherin“) in der neuen grünen Fraktion umsetzen?
Spannend wird es aber auch, wenn neue grüne Eigenständigkeit bedeutet, – möglicherweise einfach aus rechnerischen Gründen bedeuten muss – neue Koalitionsoptionen ernsthaft in Erwägung zu ziehen, ernsthafte thematische Projekte mit den „Bürgerlichen“ zu bedenken. Wie könnte beispielsweise, um im Hypothetischen zu bleiben, ein baden-württembergischer Landtagswahlkampf 2011 aussehen, wo je nach Gegend die Größenunterschiede zwischen SPD, FDP und uns Grünen marginalisiert sind, und wo Mehrheiten ohne entweder die CDU oder die FDP derzeit undenkbar erscheinen? Lassen sich grüne Inhalte und realisierbare Gestaltungsoptionen in so einem Wahlkampf zusammenbringen, ohne auf ein „linkes Lager“ festgelegt zu sein? Was sind die Projekte und Hürden, die mit den rechten Parteien CDU und FDP auf Landesebene umsetzbar wären, ohne dass wir uns verbiegen? Und was bedeutet das alles für die Wahl 2013?
Vielleicht muss die SPD hier noch einmal als abschreckendes Beispiel dienen: sie hat den Bogen überspannt, ihre Stammwählerschaft verloren, es nicht hingekriegt, sich aus der Umklammerung der großen Koalition inhaltlich und personell zu lösen, sondern ist in diesem Bundestagswahlkampf als Staatspartei aufgetreten. Die Quittung ist deutlich (und ob daraus ein inhaltlicher und personeller Neuanfang erwächst, bleibt nicht nur fraglich, sonder vor allem auch vorraussetzungsreich). Klar ist jedenfalls: mit einer auf künstliche Geschlossenheit bedachten, jede Regung im Keim erstickenden Parteiführung, die den Kontakt zur Parteibasis und zur Wählerschaft und den dort vorhandenen Präferenzen verloren hat, wäre es vermutlich selbst mit einer charismatischeren Persönlichkeit kaum gelungen, ein deutlich besseres SPD-Ergebnis einzufahren.
Auf dem Weg zur Volkspartei? Grünes Zweitstimmenergebnis im Visuellen Atlas
Im Umkehrschluss bedeutet das: gerade jetzt, wo wir Grüne von den Wahlergebnissen und der internen Bandbreite an Positionen da und dort in die Nähe einer Volkspartei geraten, ist es extrem wichtig, einen Modus der innerparteilichen Organisation zu finden, der Geschlossenheit nicht durch Erstickungstod simuliert (so interpretiere ich das „Volkspartei-Vorbild“ SPD), sondern tragfähige Formen der internen Auseinandersetzung, Diskussion und Meinungsbildung ermöglicht.
Die Anlagen dafür haben wir – wie weit sie umgesetzt werden, und dann auch noch dazu führen, dass Mitglieder motiviert statt frustiert werden, hängt nicht zuletzt am Führungspersonal in der Partei, in der Fraktion und in den Landesverbänden. Das muss die unterschiedlichen Richtungen in der Partei integrieren können, es muss nach außen für die Partei (und nicht für Partikularitäten) stehen, und es muss mittelfristig auch den Generationenumbruch widerspiegeln.
Zum Schluss noch einmal zurück vom Grünen zum Allgemeinen: was diese Bundestagswahl auch deutlich gemacht hat, und was mehr noch die Landtagswahl in Schleswig-Holstein deutlich gemacht hat, sind die Wechselwirkungen zwischen Wahlsystem und Wahlverhalten. Stimmensplitting und taktisches Wählen gehören ebenso dazu wie die unzähligen – im Bund überhaupt nicht ausgeglichenen – Überhangmandate, die aus einer Zeit herrühren, in der zwei 40%-Parteien miteinander konkurriert haben. Hier sind Reformen und intelligentere Wahlsysteme überfällig.
Wenn diese nicht oder nur in Minimalform kommen, dann wird es 2013 wichtig sein – und vielleicht wird die SPD dann auch bereit dazu sein – hier bindenden Absprachen zu treffen. Mindestens drei der zehn baden-württembergischen Überhangmandate hätten vermieden werden können, wenn es im Ländle zu vorherigen Absprachen zwischen SPD und Grünen gekommen wäre. Bisher hatte die SPD den grünen Verzicht auf Erststimmenwahlkampf als naturgegeben hingenommen. Auf die Idee, dafür eine Gegenleistung zu erbringen, wollte sie sich bis heute nicht einlassen. Diese Arroganz einer sich selbst überschätzenden Traditionspartei gehört hoffentlich 2013 zum Abfallhaufen der Geschichte.
Warum blogge ich das? Um mal einen Teil der unsortierten Gedanken loszuwerden, die mir seit gestern 18:00 Uhr so gekommen sind.