Kurz: Politik der Messinstrumente

Der Spie­gel berich­tet dar­über, dass japa­ni­sche Behör­den nach dem Reak­tor­un­fall in Fuku­shi­ma das durch­aus abschätz­ba­re Aus­maß der radio­ak­ti­ven Wol­ke bewusst ver­schwie­gen haben. Aus­führ­li­ches dazu lässt sich bei Natu­re nachlesen. 

Was mir dazu ein­fällt, ist zunächst mal die Erin­ne­rung an mei­ne Ver­wun­de­rung dar­über, dass die über Twit­ter ver­brei­te­ten Ergeb­nis­se des japa­ni­schen Orts­do­sis­mess­netz­werks aus­ge­rech­net für die Pro­vinz Fuku­shi­ma nicht ange­zeigt wur­den. Das kann auch ande­re Grün­de gehabt haben (Aus­fall der Mess­son­den bei­spiels­wei­se), wür­de aber in ein Bild des Des­in­for­ma­ti­on pas­sen. Zwei­tens fällt mir dazu ein, dass es eine gan­ze Zeit lang Streit dar­um gab, ob Daten aus dem emp­find­li­chen glo­ba­len Über­wa­chungs­netz­werk für Nukle­ar­tests aus­ge­wer­tet wer­den dür­fen, um den radio­ak­ti­ven Fall­out über dem Pazi­fik abzu­bil­den. Und drit­tens und etwas gene­rel­ler fin­de ich das gan­ze inter­es­sant, weil sich hier zeigt, wie Mess­in­stru­men­te (und Com­pu­ter­si­mu­la­tio­nen) in poli­ti­sche Abläu­fe ein­ge­bun­den wer­den, poli­tisch nutz­bar gemacht wer­den – oder eben, wenn die Mess­da­ten nicht ins poli­ti­sche Kon­zept pas­sen, igno­riert wer­den. Das hat was mit Open Data zu tun – aber auch mit der Fra­ge, ob eine Regie­rung oder eine Behör­de poten­zi­ell gefähr­li­che Infor­ma­tio­nen – es hät­te ja z.B. eine Panik­re­ak­ti­on geben kön­nen – ver­schwei­gen darf oder nicht. Gilt „infor­ma­ti­on wants to be free“ auch – oder erst recht? – für das Manage­ment einer Katastrophe?

Vulkan greift Flugverkehr an!

Eyjafjallajökull
Aus­bruch des Eyja­f­jal­la­jö­kull, Daní­el Örn, CC-BY

Vul­kan­aus­brü­che sind ein gutes Bei­spiel für Natur­er­eig­nis­se, die gro­ße Kon­se­quen­zen für mensch­li­che Gesell­schaf­ten haben, ohne dass es sich dabei um mensch­ge­mach­te Kata­stro­phen han­delt. Oder wer hät­te bis vor kur­zem jemals die Ver­mu­tung geäu­ßert, dass ein Vul­kan­aus­bruch auf Island zu Cha­os in Zügen der Deut­schen Bahn füh­ren könnte?
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Öko-Praktiken in Ratgebern – Manuskript

Im Novem­ber 2005 nahm ich am Kon­gress kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Tech­nik­for­schung des gleich­na­mi­gen Kol­legs der Uni Ham­burg teil. Ich habe dort damals auch vor­ge­tra­gen, näm­lich etwas zum nach­hal­ti­gen Umgang mit Din­gen anhand der pra­xis­theo­re­ti­schen Ana­ly­se von Öko-Ratgebern. 

Vor ein paar Wochen ist mir nun zufäl­lig beim Auf­räu­men mei­ner Fest­plat­te das Manu­skript für mei­nen Bei­trag für den Kon­gress­band wie­der in die Hän­de gefal­len. Der Kon­gress­band ist seit gerau­mer Zeit „im Druck“. „Im Druck“ ist so unge­fähr das sel­be wie die wis­sen­schaft­li­che Ver­si­on der katho­li­schen Vor­höl­le. Auch eine Nach­fra­ge bei der kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Tech­nik­for­schung konn­te lei­der nicht auf­klä­ren, obwann mit einem Wech­sel des Sta­tus von „im Druck“ zu „erschie­nen“ zu rech­nen ist. 

Ich habe mich des­we­gen ent­schie­den, dass dort ein­ge­reich­te Manu­skript zu mei­nem Vor­trag hier publik zu machen – ich glau­be, dass es für alle, die sich für eine umwelt­so­zio­lo­gi­sche Anwen­dung von Pra­xis­theo­rie und Akteur-Netz­werks-Theo­rie inter­es­sie­ren, durch­aus inter­es­sant sein könn­te. Das Manu­skript ist (bis auf die ein­gangs ein­ge­füg­te Notiz zur Zitier­wei­se) auf dem Stand von 2005/2006 – aber bes­ser so als nie:

Natur/Gesellschaft: Technik an der Grenze – Beispiel Mobiltelefon

Fragestellung: Technik als Schnittstelle?

In mei­nem Pro­mo­ti­ons­vor­ha­ben beschäf­ti­ge ich mich mit dem Umgang mit all­täg­li­cher Tech­nik in Nach­hal­tig­keits­mi­lieus – ein Bei­spiel ist das Mobil­te­le­fon. An die­ser Stel­le möch­te ich aller­dings nur ein Detail her­aus­grei­fen, näm­lich pas­send zum The­ma „Grenz­über­schrei­tun­gen“ das Drei­ecks­ver­hält­nis zwi­schen „Gesell­schaft“, „Natur“ und „Tech­nik“ (Abb. 1). Zwi­schen den zwei For­men von Mate­ria­li­tät spannt sich ein Kon­ti­nu­um mit den Polen „Natur“, die ich als im Ver­hält­nis zum Men­schen unbe­streit­bar eigen­sin­ni­ge Mate­ria­li­tät defi­nie­re, und „Tech­nik“ als in Form gebrach­te und „infor­mier­te“ Mate­ria­li­tät. Am Bei­spiel des Mobil­te­le­fons sol­len nun unter­schied­li­che Ebe­nen dar­ge­stellt wer­den, auf denen Tech­nik an der Schnittstelle/Grenze zwi­schen Natur und Gesell­schaft agiert.

Abb. 1. Wechselwirkungen zwischen Materialität (Kontinuum 'Natur' – 'Technik') und Sozialität ('Gesellschaft')
Abb. 1. Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Mate­ria­li­tät (Kon­ti­nu­um „Natur“ – „Tech­nik“) und Sozia­li­tät („Gesell­schaft“)

Theorien sozio-materieller Wechselwirkung

Im tra­di­tio­nel­len Blick der Sozio­lo­gie von Durk­heim bis Luh­mann zählt nur, was inner­halb der Gesell­schaft geschieht. „Natur“ wie „Tech­nik“ sind nur als kom­mu­ni­ka­ti­ve, also kul­tu­rel­le Reprä­sen­ta­tio­nen ver­tre­ten. Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Sozia­li­tät und Mate­ria­li­tät wer­den igno­riert, eben­so die Tat­sa­che, dass sozia­le Prak­ti­ken (Reck­witz 2000; Sho­ve 2002) durch ihre mate­ri­el­len Grund­la­gen ulti­ma­tiv begrenzt sind und zugleich erst ermög­licht wer­den. Gleich­zei­tig trans­for­mie­ren Prak­ti­ken immer Mate­rie: gezielt in der Her­stel­lung z.B. einer tech­ni­schen Kon­fi­gu­ra­ti­on, aber eben­so in Form nicht inten­dier­ter und zuerst ein­mal „unsicht­ba­rer“ Hand­lungs­fol­gen (vgl. Beck 1986; Gid­dens 1992). Geziel­ten Trans­for­ma­tio­nen sind aller­dings auf­grund der mate­ri­el­len Eigen­dy­na­mik Gren­zen gesetzt (Picke­ring spricht von „mate­ri­al agen­cy“, Micha­el von „co-agen­cy“). Eine nicht in gesell­schaft­li­cher Selbst­be­schau ver­blei­ben­de Umwelt­so­zio­lo­gie muss die­se Bezü­ge auf­neh­men (vgl. Brand 1998); etwa im inter­dis­zi­pli­nä­ren Ansatz sozi­al-öko­lo­gi­scher For­schung (Becker/Jahn 2006). Über die bereits von Marx betrach­te­te Arbeits­welt (vgl. Görg 1999) hin­aus sind es Arte­fak­te, die die­se Wech­sel­wir­kun­gen im All­tag ver­mit­teln und verstärken.

Abb. 2. An der Praxis des Mobiltelefonierens beteiligte 'Akteure'
Abb. 2. An der Pra­xis des Mobil­te­le­fo­nie­rens betei­lig­te „Akteu­re“

Veranschaulichung am Beispiel Mobiltelefon

Eine heu­te sim­pel erschei­nen­de Pra­xis wie die Nut­zung eines Mobil­te­le­fons ist vor­aus­set­zungs- und fol­gen­reich. Neben der sozia­len Ein­bet­tung und kul­tu­rel­len Zuschrei­bun­gen (vgl. Bur­kart 2007) spielt dabei Mate­ria­li­tät eine gro­ße Rol­le (vgl. Agar 2003, Rel­ler et al. 2009). Das Arte­fakt Mobil­te­le­fon ist, getra­gen von viel­fäl­ti­gen „Akteu­ren“ (Abb. 2), in mehr­fa­cher Wei­se in die Ver­mitt­lung zwi­schen Natur und Gesell­schaft eingebunden:

1. Vor­aus­set­zung der Nut­zungs­pra­xis ist das Arte­fakt Mobil­te­le­fon als Pro­dukt eines glo­ba­len Her­stel­lungs­pro­zes­ses, der auf knap­pe Roh­stof­fe ange­wie­sen ist und der ris­kan­te Neben­ef­fek­te in der Roh­stoff­ge­win­nung und Pro­duk­ti­on aus­lö­sen kann.

2. Die Nut­zung des Mobil­te­le­fons ist an die Exis­tenz meh­re­rer Infra­struk­tu­ren gebun­den (Strom­netz; Funk­tür­me, um mobi­le Kom­mu­ni­ka­ti­on zu ermög­li­chen; IT), die wie­der­um fol­gen­reich sind.

3. Der meist dis­ku­tier­te Effekt wäh­rend der Nut­zung sind die Emis­sio­nen des Tele­fons und der Funk­tür­me („Elek­tro­smog“). Auch der ver­wen­de­te Ener­gie­mix ist nicht ohne Umwelt­fol­gen. Zudem wirkt das Arte­fakt selbst als mate­ri­el­ler Kör­per im Raum.

4. Am Ende der Gebrauchs­pha­se steht nicht nur die Ent­sor­gung (Elek­tro­schrott, Müll­hal­de, Recy­cling?), son­dern bei­spiels­wei­se auch der damit ver­bun­de­ne Ver­lust sel­te­ner Metalle.

5. Zu die­sen „direk­ten“ mate­ri­el­len Effek­ten kommt die Ebe­ne kom­mu­ni­ka­ti­ver Ver­mitt­lung: von der Land­schafts­wahr­neh­mung im Han­dy-Foto bis hin zur Umwelt­in­for­ma­ti­on per SMS.

Fehlende Verschränkung der Perspektiven

In sozio­lo­gi­scher Per­spek­ti­ve wird das Mobil­te­le­fon v.a. als per­so-nali­sier­tes, kul­tu­rell auf­ge­la­de­nes Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­um behan­delt, das sozia­le Bezie­hun­gen trans­for­miert. In öko­lo­gi­scher Per­spek­ti­ve steht das mög­li­che Gesund­heits­ri­si­ko im Vor­der­grund; in neue­rer Zeit kommt der Blick auf glo­ba­le Effek­te der Ver­wen­dung sel­te­ner Metal­le hin­zu. Dage­gen fehlt bis­her der sys­te­ma­ti­sche Blick auf die Ver­schrän­kung „mate­ri­el­ler“ und „dis­kur­si­ver“ Effek­te beim all­täg­li­chen Mobil­te­le­fo­nie­ren, bzw. auf deren Fehlen.

Zitierte Literatur

Agar, Jon (2003): Con­stant Touch. Cam­bridge: Icon Books.
Beck, Ulrich (1986): Risi­ko­ge­sell­schaft. Frank­furt am Main: Suhrkamp.
Becker, Egon; Jahn, Tho­mas (Hrsg.) (2006): Sozia­le Öko­lo­gie. Frank­furt am Main, New York: Campus.
Brand, Karl-Wer­ner (Hrsg.) (1998): Sozio­lo­gie und Natur. Opla­den: Leske+Budrich.
Bur­kart, Gün­ter (2007): Han­dy­ma­nia. Frank­furt am Main/New York: Campus.
Gid­dens, Antho­ny (1992): Die Kon­sti­tu­ti­on der Gesell­schaft. Frankfurt/ New York: Campus.
Görg, Chris­toph (1999): Gesell­schaft­li­che Natur­ver­hält­nis­se. Müns­ter: West­fä­li­sches Dampfboot.
Micha­el, Mike (2000): Recon­nec­ting Cul­tu­re, Tech­no­lo­gy and Natu­re: Lon­don: Routledge.
Picke­ring, Andrew (1995): The Mang­le of Prac­ti­ce. Chicago/London: Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press.
Reck­witz, Andre­as (2000): Die Trans­for­ma­ti­on der Kul­tur­theo­rien. Wei­ler­swist: Velbrück.
Rel­ler, Armin et al. (2009): „The Mobi­le Pho­ne: Powerful Com­mu­ni­ca­tor and Poten­ti­al Metal Dis­si­pa­tor“, in GAIA 18, 2, 127–135.
Sho­ve, Eliza­beth (2002): Sus­taina­bi­li­ty, sys­tem inno­va­ti­on and the laun­dry. Lan­cas­ter: Lan­cas­ter University.

War­um blog­ge ich das? Text für ein Pos­ter für ein Pro­mo­vie­ren­den-Kol­lo­qui­um an der Uni­ver­si­tät Frei­burg – bin damit nicht so ganz zufrie­den (naja, vor allem unglück­lich über das von mir für das gewähl­te The­ma eher als ein­schrän­kend emp­fun­de­ne Pos­ter-For­mat) und woll­te das gan­ze mal in einem ande­ren For­mat und mit Feed­back-Mög­lich­keit sehen.

P.S.: War natür­lich der ein­zi­ge, der nicht genau gele­sen hat und A0 abge­lie­fert hat statt des erwünsch­te A1-For­mats, hat aber kei­ne gro­ße Rol­le gespielt. Das Pos­ter als PDF: Pos­ter „Natur/Gesellschaft“, Mile­sto­nes-Tagung 2009.