Temporäre Freiräume

Die letz­ten zwei Tage habe ich vor allem damit zuge­bracht, mich aus­zu­ku­rie­ren – Ende Janu­ar, fie­se Erkäl­tung, eigent­lich hät­te ich damit rech­nen sol­len. Fie­ber, und ab und zu ein Blick in die Twit­ter-Time­line, die so wirk­te, als sei sie soeben einem Par­al­lel­uni­ver­sum ent­stie­gen. Trump-Ban­non setzt um, was Trump im Wahl­kampf ver­spro­chen hat, und zwar in rasan­tem Tem­po und mit maxi­ma­ler Schock­wir­kung. Das wird sei­ne Grün­de haben. Ich fin­de es jeden­falls extrem gru­se­lig, dass mit einem Feder­strich Visas außer Kraft gesetzt wer­den, Men­schen aus Flug­zeu­gen gezerrt wer­den, Fami­li­en aus­ein­an­der geris­sen wer­den und selbst Greencard-Inhaber*innen fürch­ten müs­sen, ent­we­der die USA nie wie­der ver­las­sen oder nie wie­der in die­se ein­rei­sen zu kön­nen. Und, nein: kein hit­zi­ger Fie­ber­traum, leider.

Checks and balan­ces, mel­ting pot, das Ein­wan­de­rungs­land per se – das, was ich in der Schu­le über die USA gelernt habe, scheint schon lan­ge nicht mehr zu stim­men, und das wird gera­de so rich­tig deut­lich. Ein­zi­ges ermu­ti­gen­des Licht am Hori­zont: doch recht deut­li­che Wor­te der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft (und eini­ger High­tech-Fir­men), und vor allem eine extrem akti­ve Zivil­ge­sell­schaft, mit Eil­kla­gen der ACLU, Taxifahrer*innen-Streiks, frei­wil­li­gen Rechtsanwält*innen und Demos an Flug­hä­fen. Wenn es eine Stu­fe gab, die Trump über­stei­gend konn­te, um deut­lich zu machen, dass er das gan­ze Gere­de von Mau­ern, Abschie­bung und „Ame­ri­ca first“ ernst meint, dann sind das die Dekre­te, die er in die­ser Woche unter­zeich­net hat. Wer jetzt noch glaubt, es mit poli­tics as usu­al zu tun zu haben, muss ver­dammt naiv sein. (Inso­fern wür­de ich mir auch von den US-Demokrat*innen wün­schen, sehr bald sicht­bar und stra­te­gisch fun­diert vor­zu­ge­hen, und nicht auf­grund von par­la­men­ta­ri­schen Tra­di­tio­nen etc. z.B. Trumps Per­so­nal durch­zu­win­ken. Es ist ernst.)

Jeden­falls: Wäh­len ändert was. Und es kann auf weni­ge Stim­men ankom­men, die dar­über ent­schei­den, ob am Schluss die eine oder die ande­re Zukunft steht. Ich glau­be, dass das eine Bot­schaft ist, die auch für die Bun­des­tags­wahl im Sep­tem­ber die­sen Jah­res wich­tig ist. (Die ande­re Bot­schaft: manch­mal ist not­wen­dig, sich nicht intern zu zer­strei­ten, son­dern zusam­men­zu­ste­hen … gera­de in erns­ten Zeiten).

Aber eigent­lich woll­te ich gar nicht über Trump schrei­ben, son­dern über die Bücher, die ich im Janu­ar gele­sen habe. Ich habe mir zu Weih­nach­ten einen eBook-Rea­der gegönnt, seit­dem fehlt der Bücher­sta­pel. Des­we­gen habe ich mir mal auf­ge­schrie­ben, was ich so gele­sen habe. Dazu gehört Neil Gai­mans Essay­band The view from the cheap seats, und er schreibt dort unter ande­rem so schö­ne Din­ge wie das hier (S. 8 und 9, mei­ne Übersetzung).

DIE WELT MUSS NICHT SO SEIN, WIE SIE IST. ALLES KANN ANDERS SEIN.

Roma­ne kön­nen dir eine ande­re Welt zei­gen. Sie kön­nen dich an Orte brin­gen, an denen du nie warst. Und wenn du ein­mal ande­re Wel­ten besucht hast – wie bei einer Frucht aus dem Feen­reich – wirst du nie wie­der ganz zufrie­den sein mit der Welt in der du auf­ge­wach­sen bist. 

[…]

Wenn du dich in einer unmög­li­chen Situa­ti­on gefan­gen fän­dest, an einem unfreund­li­chen Ort, mit Men­schen, die dir Böses wol­len – und jemand bie­tet dir an, für eine Zeit zu ent­flie­hen: war­um soll­test du die­ses Ange­bot nicht anneh­men? Und eska­pis­ti­sche Roma­ne sind genau das: sie öff­nen eine Tür, zei­gen das Son­nen­licht da drau­ßen, geben dir einen Ort, an dem du die Kon­trol­le hast, mit den Men­schen, mit denen du zusam­men sein willst (und Bücher sind ech­te Orte, kei­ne Illu­sio­nen dar­über!); und, noch wich­ti­ger: wäh­rend der Aus­zeit kön­nen Bücher dir Wis­sen über die Welt und über dei­ne Situa­ti­on ver­mit­teln, sie geben dir Waf­fen und eine Rüs­tung. Ech­te Din­ge, die du mit zurück in dein Gefäng­nis neh­men kannst. Fähig­kei­ten und Wis­sen und Werk­zeu­ge, die du nut­zen kannst, um wirk­lich zu entkommen. 

The view from the cheap seats ent­hält nicht nur Reden zur Bedeu­tung des Lesens, der Biblio­the­ken und „Make gre­at art“ (sowie eine sehr ein­drück­li­che Repor­ta­ge aus Syri­en), son­dern auch Tex­te, die eher inner­halb der SF-Sze­ne inter­es­sant sind; Ein­füh­run­gen zu Klas­si­kern der Sci­ence Fic­tion oder Por­träts wich­ti­ger Autor*innen.

Das zwei­te Non-Fik­ti­on-Buch war Kris­tin Kopfs Das klei­ne Ety­mo­lo­gi­cum – eine schön geschrie­be­ne, mäan­dern­de Geschich­te der deut­schen Spra­che inmit­ten eines Geflechts ver­wand­ter Spra­chen und im leben­di­gen Aus­tausch mit ande­ren Spra­chen und Kulturen.

Und der Rest waren dann spe­ku­la­ti­ve Roma­ne und Erzählungen. 

Ken MacLeod schreibt in The Cor­po­ra­ti­on Wars über einen Robo­ter­auf­stand irgend­wann in der fer­nen Zukunft, irgend­wo fern im Welt­all. Und ja, das hat viel mit Poli­tik zu tun; auch in die­ser Hin­sicht kann SF sehr lehr­reich sein. (Und wie immer, wenn es um Robo­ter geht, auch um die Fra­ge, was eigent­lich den Men­schen ausmacht …)

Alas­ta­ir Rey­nolds The Iron Tac­ti­can scheint im Vor­der­grund auch von Künst­li­chen Intel­li­gen­zen – als ulti­ma­ti­ver Waf­fe im Krieg zwei­er ewig ver­fein­de­ten Sys­te­me – zu han­deln. Tat­säch­lich aber ist alles ganz anders. 

Weil es irgend­wo emp­foh­len wur­de, habe ich auch Joe McDer­motts The Fort­ress at the End of Time gele­sen. Das Set­ting ist ganz inter­es­sant (irgend­wo am Rand der Milch­stra­ße ist ein Außen­pos­ten der Mensch­heit, über ein Ansi­ble – hier eine Mischung aus „Bea­mer“, Fas­ter-than-Light-Kom­mu­ni­ka­tor und Repli­ka­tor – wer­den Men­schen und Güter dort­hin geschickt; genau­er gesagt: deren Klo­ne bzw. Kopien). Mir war das gan­ze zu sehr reli­gi­ös durchtränkt.

Von Bruce Ster­ling habe ich sowohl Love is stran­ge (ein wil­der Ritt mit ita­lie­ni­schen Open-Source-Hackern, bra­si­lia­ni­schem Voo­doo und schein­bar auf der Suche nach Kunst­ge­gen­stän­den befind­li­chen US-Pro­fes­so­rin­nen; emp­feh­lens­wert) sowie sein neus­test Buch, Pira­te Uto­pia gele­sen. Letz­te­res ist ein ganz schön har­ter Bro­cken. Ster­ling erzählt hier eine fik­tio­na­li­sier­te Geschich­te der Stadt Rijeka/Fiume, die nach dem ers­ten Welt­krieg eigen­mäch­tig von ita­lie­ni­schen Frei­schär­lern besetzt wur­de und vier Jah­re lang ein Frei­staat war. Haupt­fi­gur des Buchs ist Gabrie­le D’Annunzio – laut Wiki­pe­dia ein „prä­fa­schis­ti­scher“ Dich­ter und Natio­nal­held. Wiki­pe­dia schreibt:

D’Annunzio sah in dem ita­lie­ni­schen Faschis­ten Mus­so­li­ni trotz eini­ger Dif­fe­ren­zen den Erfül­ler sei­ner schwär­me­ri­schen natio­na­lis­ti­schen Ideen und dien­te die­sem umge­kehrt als Vor­bild. In Fiume wur­den die von den Faschis­ten über­nom­me­nen Ritua­le ein­ge­übt, mit denen Euro­pa kurz dar­auf zu gro­ßen Tei­len tota­li­tär regiert wur­de und spä­ter in den Spa­ni­schen Bür­ger­krieg und den Zwei­ten Welt­krieg drif­te­te: Die Funk­ti­ons­wei­sen der „Ästhe­tik“ des Faschis­mus, die die Mas­sen in ihren Bann zog, wur­den in Fiume erst­mals ange­wen­det und von D’Annunzio erprobt. 

Pira­te Uto­pia ist teils über­dreh­te Aben­teu­er­ge­schich­te, teils Far­ce, die die­se his­to­ri­sche Situa­ti­on – ver­scho­ben und künst­le­risch durch­wirkt – nach­stellt. Was das gan­ze schwie­rig macht, ist die Tat­sa­che, dass die Protagonist*innen, durch deren Augen wir Fiume sehen, alle­samt dem Futu­ris­mus anhän­gen, und durch und durch faschis­tisch den­ken, ohne dass der zwei­te Welt­krieg und alle damit ver­bun­de­nen Ver­bre­chen bereits statt­ge­fun­den hät­ten. Die­se Per­spek­ti­ve ist nicht bequem.

Wo wir schon bei Klein­staa­ten sind: gele­sen habe ich auch den Klas­si­ker von Leo­nard Wib­ber­ley aus dem Jahr 1955: The Mou­se that Roared, in dem ein win­zig klei­nes Alpen­kö­nig­reich bri­ti­scher Prä­gung durch eine Ver­ket­tung von dum­men Zufäl­len den Welt­frie­den ermög­licht. Hin­ter­grund der Erzäh­lung ist das ato­ma­re Wett­rüs­ten im kal­ten Krieg. Und Trump hat ja schon ange­kün­digt, dass auch das Nukle­ar­ar­se­nal der USA dar­auf­hin über­prüft wer­den soll, ob es erneu­ert wer­den müsse.

Ganz wo anders hin geht es in Nne­di Oko­ra­fors Roman Lagoon (auf deutsch als Lagu­ne erschie­nen). Die­ser Roman setzt der nige­ria­ni­schen Stadt Lagos ein magisch-rea­lis­ti­sches Denk­mal, auf dem eben­so gestalt­wan­deln­de Außer­ir­di­schen wie Figu­ren aus der loka­len Mytho­lo­gie erscheinen. 

Eben­falls von Oko­ra­for (auf die ich übri­gens über den Roman Bin­ti gesto­ßen bin) ist Zah­rah the Wind­see­ker, ein Young Adult-Roman, der in einer fer­nen, west­afri­ka­nisch und bio­nisch inspi­rier­ten Zukunft spielt. Die Haupt­fi­guer, Zah­rah, hat magi­sche Fähig­kei­ten, mit denen sie aller­dings auch erst ein­mal zu Ran­de kom­men muss – erst recht, als sie in einem anders­welt­li­chen Dschun­gel schein­bar ganz auf sich allein gestellt ist. Hat mir gut gefal­len, gibt es aber lei­der nicht über­setzt, sonst hät­te ich das mei­ner Toch­ter in die Hand gedrückt.

Blei­ben noch zwei wei­te­re eska­pis­ti­sche Bücher: Gene­vie­ve Cog­man hat mit The Bur­ning Page den drit­ten Band ihrer Libra­ry-Serie vor­ge­legt (samt Macht­kämp­fen zwi­schen Feen­we­sen und Dra­chen und einem furio­sen Fina­le), und auch Bran­don San­der­sons The Bands of Mour­ning (der zwei­te Band der zwei­ten Mist­born-Tri­lo­gie – letzt­lich eine Art Mischung aus Super­hel­den­ge­schich­te und Steam­punk in einem ganz eige­nen Set­ting) habe ich gele­sen. Bei­de Bücher fand ich unterhaltsam.

Um zu Trump zurück­zu­kom­men, schließ­lich noch das letz­te Buch von mei­ner Lese­lis­te im Janu­ar. Charles Stross Empire Games setzt sei­ne Mer­chant-Prin­ce-Serie etwa 20 Jah­re spä­ter fort. Das Buch spielt in zwei par­al­le­len Uni­ver­sen – in dem einen hat sich das revo­lu­tio­nä­re „New Ame­ri­can Com­mon­wealth“ (NAC) ent­wi­ckelt (mit allen Ver­wick­lun­gen zwi­schen Par­tei und Regie­rung, und unter­schied­li­chen Frak­tio­nen, die sich in einem gro­ßen revo­lu­tio­nä­ren Staat so erge­ben), das dabei ist, tech­no­lo­gisch mäch­tig auf­zu­ho­len, in dem ande­ren fin­den eine nach meh­re­ren Anschlä­gen extrem para­no­ide USA, in der die unter­schied­li­chen Frak­tio­nen inner­halb des Sicher­heits­diens­tes sich gegen­sei­tig bekämp­fen. Miri­am Beck­stein, Hel­din der ers­ten Mer­chant-Prin­ce-Tri­lo­gie, ist jetzt Minis­te­rin für den inter­tem­po­ra­len Tech­no­lo­gie­dieb­stahl (das Minis­te­ri­um heißt augen­zwin­kernd MITI, wie über­haupt das Buch mit kul­tu­rel­len Ver­wei­sen gespickt ist) im NAC. Und sie weiß, dass es nur eine Fra­ge der Zeit ist, bis die USA auf die­ses Uni­ver­sum auf­merk­sam wer­den wird. Wie alle Bücher von Stross sehr emp­feh­lens­wert. Wobei sei­ne Bücher auch die unvor­teil­haf­te Ten­denz haben, zu nahe an der tat­säch­li­chen Ent­wick­lung zu lie­gen. Nicht, was Rei­sen zwi­schen unter­schied­li­chen Zeit­li­ni­en anbe­langt – aber der im Detail ima­gi­nier­te Sicher­heits­staat könn­te schon über­mor­gen Wirk­lich­keit sein. 

War­um blog­ge ich das? Weil ich schon län­ger mal wie­der etwas dar­über schrei­ben woll­te, was ich so lese, und das jetzt ein Anlass war.

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