Im Herbst 2015 gelesen – Teil II

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Eini­ge weni­ge der Bücher, die unten bespro­chen wer­den – viel liegt auf der Kind­le-App, ande­res steht schon im Regal …

Heu­te set­ze ich dann mei­nen von eini­gen Wochen gepos­te­ten Über­blick dar­über fort, was ich seit dem Som­mer 2015 gele­sen habe.

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Nach­dem ich mit Among others die Autorin Jo Walt­on für mich ent­deckt hat­te, las ich mich wei­ter durch ihr Werk. Tooth and claw (2003), ein Jane-Aus­ten-Fami­li­en­dra­ma, nur mit Dra­chen, war nicht so ganz meines.

Begeis­tert hat mich My real child­ren (2014) – die fik­ti­ve Dop­pel­bio­gra­phie einer in den 1920er Jah­ren gebo­re­nen Eng­län­de­rin, Patri­cia Cowan – zwei sich über­la­gern­de Rück­blen­den über zwei erfüll­te Leben, die in den 1940er Jah­ren an einem Bif­ur­ka­ti­ons­punkt aus­ein­an­der­lau­fen und sich ganz unter­schied­lich ent­wi­ckeln. Wenn My real child­ren in ein Gen­re gepackt wer­den müss­te, wäre es der his­to­ri­sche Was-wäre-wenn-Roman, aller­dings hier aus der Per­spek­ti­ve von unten. Ob Ken­ne­dy ermor­det wird oder nicht, fin­det nur im Hin­ter­grund statt. Im Vor­der­grund zeich­net Walt­on den Weg Patri­cia Cowans zur gefei­er­ten Rei­se­füh­rer-Autorin, die in einem zuneh­mend geein­ten Euro­pa mit ihrer Part­ne­rin und ihren Kin­dern zwi­schen Flo­renz und Groß­bri­tan­ni­en lebt, – und den Weg von Patri­cia Cowan, die nach einer unglück­li­chen Ehe zur loka­len Akti­vis­tin für Frie­den, Frau­en­rech­te und den Erhalt des his­to­ri­schen Stadt­kerns wird. Oder anders gesagt: ein Buch über die Ungleich­zei­tig­kei­ten des 20. Jahr­hun­derts aus bio­gra­phi­scher Per­spek­ti­ve. (Lei­der gibt es kei­ne deut­sche Über­set­zung – ich könn­te mir vor­stel­len, dass das Buch auch außer­halb des Gen­res Anklang fin­den könnte …)

Und schließ­lich habe ich von Jo Walt­on The Just City und The Phi­lo­so­pher Kings gele­sen, die in zwei Bän­den (bei­de 2015) erzähl­te Geschich­te eines Fleisch und Stein gewor­de­nen Gedan­ken­ex­pe­ri­ments. Die Göt­tin Athe­ne, unter ande­rem für Weis­heit zustän­dig, eta­bliert gemein­sam mit dem Gott Apol­lo in einem ver­bor­ge­nen Win­kel der Zeit Pla­tons Repu­blik. Das Ziel ist es, die gerechte/richtige Stadt auf­zu­bau­en, mit dem Ziel, nach „are­te“ zu stre­ben (Tugend/Exzellenz). Athe­ne hat dazu glü­hen­de Verehrer*innen Pla­tons aus ganz unter­schied­li­chen Zei­ten zusam­men­ge­sam­melt – und ihnen Robo­ter und 10.000 zehn­jäh­ri­ge Kin­der zur Sei­te gestellt. Aller­dings wur­de Pla­ton ganz unter­schied­lich gele­sen. Auch die gerech­te Stadt ist trotz gött­li­chen Inter­ven­tio­nen eine des Kom­pro­mis­ses und der Intri­gen, und vie­les, was Pla­ton sich zum Stre­ben nach Exzel­lenz über­legt und nie­der­ge­schrie­ben hat, stößt in der tat­säch­li­chen Umset­zung auf Gren­zen. Im Ergeb­nis gibt das ver­mut­lich die span­nends­te Aus­ein­an­der­set­zung mit anti­ker Phi­lo­so­phie seit langem.

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Das anti­ke Grie­chen­land – bzw. das hier matri­ar­chisch-femi­nis­tisch gezeich­ne­te Kre­ta in der vor­hel­le­ni­schen Zeit – ist auch einer der Schau­plät­ze von Lisa Gold­steins Weig­hing Shadows (2015). Die Prot­ago­nis­tin des Buchs – eine nerdi­ge Außen­sei­te­rin in unse­rer Gegen­wart – fin­det in einem undurch­sich­ti­gen Kon­zern die Mög­lich­keit, zur Zeit­rei­sen­den zu wer­den. Mit klei­nen Ein­grif­fen in der Ver­gan­gen­heit soll die Zukunft zu einem bes­se­ren Ort wer­den. Bald wird jedoch deut­lich, dass die Din­ge nicht so klar geschnit­ten sind, wie sie scheinen. 

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Von N.K. Jemi­sin habe ich The Fifth Sea­son (2015) gele­sen – und war beein­druckt. Das Buch (dem wohl wei­te­re fol­gen sol­len) spielt in einem Fan­ta­sy-Set­ting: ein Pla­net, der tek­to­nisch insta­bil ist, und immer wie­der in eine apo­ka­lyp­ti­sche „fünf­te Jah­res­zeit“ gerät. Alles Leben ist dar­auf aus­ge­rich­tet – von der stren­gen Orga­ni­sa­ti­on in Kas­ten bis zur Vor­rats­hal­tung. Eini­ge Men­schen haben die Fähig­keit ent­wi­ckelt, Erd­be­ben und Vul­kan­aus­brü­che zu erspü­ren und deren Ener­gie umzu­lei­ten; der Zen­tral­staat macht sich dies zu nut­ze und baut sei­ne Domi­nanz dar­auf auf. Jemi­sin ent­fal­tet auf die­sem Tableau eine dra­ma­ti­sche Geschich­te von Unter­drü­ckung und Wider­stand, und ja, neben­bei geht es auch um Ras­sis­mus und um Geschlechterverhältnisse.

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Dar­in fin­den sich Par­al­le­len zu Seth Dick­in­sons Buch The Trai­tor (bzw. zum Teil unter dem Titel The Trai­tor Baru Cor­mo­rant; 2015). Ein zen­tra­lis­ti­sches und durch und durch büro­kra­ti­sches Impe­ri­um – das Reich der Mas­ken – unter­wirft ande­re Natio­nen, unter ande­rem auch den kari­bisch wir­ken­den Insel­staat, in dem Baru Cor­mo­rant mit ihrer Mut­ter und ihren bei­den Vätern lebt. (Ein Arran­ge­ment, das aus Sicht des streng hete­ro­se­xu­ell ori­en­tier­ten Impe­ri­ums als unhy­gie­nisch und bar­ba­risch gilt …). Baru ent­schei­det sich für den „Marsch durch die Insti­tu­tio­nen“, um das Impe­ri­um von innen her anzu­grei­fen. Sie steigt schnell auf und wird obers­te Finanz­be­am­tin in einem mit­tel­eu­ro­pä­isch wir­ken­den Teil des Reichs der Mas­ken, in dem unter­halb der impe­ria­len Struk­tu­ren wei­ter­hin alte Bünd­nis­se wir­ken. Baru muss sich ent­schei­den, wel­cher Sei­te sie sich anschließt, wem sie ver­trau­en kann, wen sie ver­ra­ten wird, und zu wes­sen Nut­zen sie ihre nicht unwe­sent­li­chen finanz­po­li­ti­schen Hand­lungs­spiel­räu­me ein­setzt. Wer Game of Thro­nes wegen der Macht­spie­le liest/anschaut, wird auch hier fün­dig wer­den – und neben­bei schafft Dick­in­son es mehr­mals im Buch, die bis dahin auf­ge­bau­ten Erwar­tun­gen und Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten auf den Kopf zu stellen. 

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Emma New­mans Pla­net­fall (2015) ist auf den ers­ten Blick eine Geschich­te, die dem übli­chen Sche­ma der ver­lo­re­nen mensch­li­chen Kolo­nie auf einem fas­zi­nie­ren­den außer­ir­di­schen Pla­ne­ten folgt. Nach und nach wird deut­lich, dass Ren, die Haupt­per­son, aus deren nicht unbe­dingt zuver­läs­si­gen Blick­win­kel wir die­se Geschich­te erle­ben, nicht nur als Inge­nieu­rin zen­tral für die Funk­ti­ons­fä­hig­keit der Kolo­nie ist, ein düs­te­res Geheim­nis mit sich trägt. Denn auch hier sind die Din­ge nicht so, wie sie schei­nen. Als ein Über­le­ben­der in der Kolo­nie auf­taucht, der ein Abkömm­ling eines ver­schol­len geglaub­ten Lan­dungs­schif­fes sein muss, rei­ßen Grä­ben auf und lan­ge zuge­deck­te Lügen wer­den öffent­lich. Neben einer Ant­wort auf die Fra­ge, was es wirk­lich mit dem inter­stel­la­ren Heils­ver­spre­chen einer pflan­zen­ar­ti­gen Lebens­form zu tun hat, gibt Pla­net­fall vor allem Ein­blick in die Psy­cho­lo­gie der ver­lo­re­nen Kolo­nie und der Hauptpersonen.

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Some­thing com­ple­te­ly dif­fe­rent: Ter­ry Prat­chetts Rai­sing Steam ist bereits 2013 erschie­nen. Im Mikro­for­mat zeigt Prat­chett hier, was in und mit einer indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on – hier auf der Schei­ben­welt – pas­siert. Inge­nieurs­kunst rückt an die Stel­le von Magie, und dank der Eisen­bahn wer­den Zwer­gen­auf­stän­de in hin­ter­wäld­le­ri­schen Gegen­den zum poli­ti­schen Pro­blem auch im Zen­trum. Das Ende eines Zeitalters.

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Ganz zum Schluss und ganz frisch das erst vor weni­gen Tagen her­aus­ge­kom­me­ne All the birds in the sky (2016) von Char­lie Jane Anders. Auch hier geht es um das Ver­hält­nis von Öko-Magie und Tech­no­lo­gie. Rasant, wit­zig und sehr nah an aktu­el­len sub­kul­tu­rel­len Debat­ten erzählt Anders die Geschich­te der Hexe Patri­cia und des Nerds Lau­rence in einer von Umwelt­ka­ta­stro­phen und sozia­len Zer­würf­nis­sen gepräg­ten Gegen­wart. Bei­de müs­sen mir ihren Fähig­kei­ten zurecht kom­men. Ich fand das Buch groß­ar­tig – nicht nur auf­grund der Geschich­te und der all­ge­gen­wär­ti­gen Anspie­lun­gen, son­dern ins­be­son­de­re auch auf­grund des Span­nungs­fel­des aus Öko und High­tech, das für mich den Kern des Buchs aus­macht, und das durch­aus in Reso­nanz zu eige­nen inne­ren Wider­sprü­chen steht.

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