Empirischer Nachtrag zur „Gretchenfrage“, oder: Religion ist überbewertet

Autumn walk 51

In mei­nem Athe­is­mus-Erklär-Pos­ting hat­te ich so ein halb erin­ner­tes 20 Pro­zent in den Raum gestellt. Aber viel­leicht geht es auch noch genau­er. Eine klei­ne Recher­che zu Athe­is­mus und Religion.

In der Wiki­pe­dia gibt es einen recht aus­führ­li­chen Absatz zu demo­gra­phi­schen Merk­ma­len – der aller­dings auch gleich mit der War­nung beginnt, dass es nicht ein­fach ist, ver­läss­li­che Aus­sa­gen zu tref­fen, weil Athe­is­mus ein unschar­fes Label ist. Eini­ge Zah­len sind den­noch inter­es­sant: die CIA geht laut Wiki­pe­dia in ihrem Fact­book von nur 2,3 Pro­zent Athe­is­tIn­nen welt­weit aus, dazu kom­men 11,7 Pro­zent „Nicht­re­li­giö­se“ (Stand 2010). Aus­sa­ge­kräf­ti­ger erscheint mir das „Euro­ba­ro­me­ter 2005« (eben­falls in der Wiki­pe­dia zitiert), dem­zu­fol­ge war die „Anzahl der Ein­woh­ner, die anga­ben, weder an Gott, noch an eine spi­ri­tu­el­le Kraft zu glau­ben, […] mit 33 % in Frank­reich am höchs­ten und betrug in Deutsch­land 25 %, in der Schweiz 9 % und in Öster­reich 8 %.“ (sie­he auch Abbil­dung rechts, die die­sen Anteil zeigt, Bild­quel­le Miche­letb u.a./Wikipedia, CC-BY-SA, Daten: Son­der­be­fra­gung Euro­ba­ro­me­ter 2005).

Wie sieht es in Deutsch­land aus? Im Sta­tis­ti­schen Jahr­buch des Bun­des­amts für Sta­tis­tik wer­den kei­ne Anga­ben zur Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit der Bevöl­ke­rung gemacht; dar­ge­stellt wer­den nur eige­ne Anga­ben der evan­ge­li­schen Kir­che, der katho­li­schen Kir­che und der jüdi­schen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten. (Hier schla­gen zwei Her­zen in mei­ner Brust: Inter­es­sant wäre es schon, wenn die amt­li­che Sta­tis­tik die Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit erfas­sen wür­de – aber eigent­lich soll­te sich ein säku­la­rer Staat dafür nicht inter­es­sie­ren, an was sei­ne Bür­ge­rIn­nen glau­ben oder nicht glauben …). 

Für den Daten­re­port 2011 greift Hei­ner Meu­le­mann im Kapi­tel „Reli­giö­si­tät und Säku­la­ri­sie­rung“ daher auf Daten aus dem ALLBUS zurück, einer sehr gro­ßen Reprä­sen­ta­tiv­be­fra­gung. Dem­nach gehör­ten in West­deutsch­land 1991 elf Pro­zent und 2008 schon 16 Pro­zent der Bevöl­ke­rung kei­ner Reli­gi­ons­ge­mein­schaft an, in Ost­deutsch­land waren es 1991 65 Pro­zent und 2008 bereits 74 Pro­zent der Bevöl­ke­rung. (Abb. 1 im Daten­re­port ist falsch beschrif­tet, Ost- und West­deutsch­land sind dort vertauscht). 

Neben Kirch­gangs- und Gebets­häu­fig­keit geht Meu­le­mann auch auf vor­herr­schen­de Welt­bil­der ein (wie­der­um nach Ost- und West­deutsch­land getrennt und auf Grund­la­ge von ALL­BUS-Daten). Das ist inso­fern für die Athe­is­mus-Debat­te span­nend, als hier tat­säch­lich danach gefragt wird, wor­an Men­schen glau­ben. Dabei wer­den vier christ­li­che Welt­bil­der (Zustim­mung zu „Es gibt einen Gott, der sich mit jedem Men­schen per­sön­lich befasst“, „Es gibt einen Gott, der Gott für uns sein will“, „Das Leben hat nur eine Bedeu­tung, weil es einen Gott gibt“ und „Das Leben hat einen Sinn, weil es nach dem Tod noch etwas gibt“) und vier „imma­nen­te“ Welt­bil­der („Das Leben hat nur dann einen Sinn, wenn man ihm sel­ber einen Sinn gibt“ (exis­ten­tia­lis­tisch), „Unser Leben wird letz­ten Endes bestimmt durch die Geset­ze der Natur“ (natu­ra­lis­tisch 1), „Das Leben ist nur ein Teil der Ent­wick­lung der Natur“ (natu­ra­lis­tisch 2) und „Das Leben hat mei­ner Mei­nung nach wenig Sinn“ (Sinn­lo­sig­keit)) unter­schie­den. Für West­deutsch­land stellt Meu­le­mann fest:

„In West­deutsch­land wird die exis­ten­tia­lis­ti­sche Aus­sa­ge stär­ker unter­stützt als die bei­den natu­ra­lis­ti­schen, die­se stär­ker als die vier christ­li­chen, und die­se wie­der­um stär­ker als die Sinn­lo­sig­keit. […] Die Welt­bil­der lie­gen gleich­sam wie Schich­ten über­ein­an­der, die die His­to­rie spie­geln: Die Reli­gi­on des Abend­lan­des wird von moder­nen Welt­an­schau­un­gen, dem Natu­ra­lis­mus und dem Exis­ten­tia­lis­mus, über­la­gert. Das Chris­ten­tum ist heu­te in West­deutsch­land nicht mehr die vor­herr­schen­de reli­giö­se Weltdeutung.“ 

Für Ost­deutsch­land sieht die Schich­tung eben­so aus, nur dass die exis­ten­tia­lis­ti­sche und die natu­ra­lis­ti­schen Aus­sa­gen näher bei­ein­an­der lie­gen und der Abstand zu den christ­li­chen Aus­sa­gen grö­ßer ist. 

Meu­le­mann kommt im Blick auf alle Kri­te­ri­en zu dem Schluss, dass die frei­wil­li­ge Säku­la­ri­sie­rung in West­deutsch­land vor­an­schrei­tet und die erzwun­ge­ne Säku­la­ri­sie­rung in Ost­deutsch­land nicht zurück­ge­dreht wird. „Von einer Wie­der­kehr der Reli­gi­on kann also in kei­nem Lan­des­teil die Rede sein.“

Im Ver­gleich zu den rela­tiv gerin­gen Zah­len, was die Selbst­be­zei­chung als Athe­is­tIn betrifft (Ste­fan Schmitt spricht in der Zeit mit Bezug auf die Euro­päi­sche Wer­te­stu­die von zehn Pro­zent bun­des­weit) erscheint die Zustim­mung zu einer nicht­re­li­giö­sen Welt­an­schau­ung deut­lich wei­ter ver­brei­tet zu sein. Zuge­spitzt gesagt: Reli­gi­on wird in Deutsch­land überbewertet.

War­um blog­ge ich das? Weil mich inter­es­siert hat, ob es hier­zu Zah­len gibt.


Lite­ra­tur
Euro­pean Com­mis­si­on (2005): Spe­cial Euro­ba­ro­me­ter 225. Social values, Sci­ence and Tech­no­lo­gy, Brussels. URL: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_225_report_en.pdf, Abruf 06.01.2013.

Meu­le­mann, Hei­ner (2011): „Reli­gio­si­tät und Säku­la­ri­sie­rung“, in: WZB, SOEP, DESTATIS (Hrsg.): Daten­re­port 2011. Ein Sozi­al­be­richt für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Band I. Ber­lin: Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung, S. 354 ff. – URL: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Datenreport/Downloads/Datenreport2011.pdf?__blob=publicationFile, Abruf 06.01.2013.

Schmitt, Ste­fan (2010): „Athe­is­mus in Zah­len: Erlö­sung uner­wünscht. Wen soll man zu den Athe­is­ten zäh­len?“, in DIE ZEIT, 09.09.2010, URL: http://www.zeit.de/2010/37/Atheismus-Empirie, Abruf 06.01.2013.

Sta­tis­ti­sches Bun­des­amt (2012): Sta­tis­ti­sches Jahr­buch, Wies­ba­den. URL: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/StatistischesJahrbuch/GesellschaftundStaat/Artikel_Bevoelkerung.html, Abruf 06.01.2013.

Wiki­pe­dia: Ein­trag „Athe­is­mus“, Abruf 06.01.2013.

Eine Antwort auf „Empirischer Nachtrag zur „Gretchenfrage“, oder: Religion ist überbewertet“

  1. Eine wei­te­re Kom­po­nen­te ist schlicht und ein­fach der Got­tes­dienst­be­such. Die Teil­nah­me an den Ritua­len wird von eigent­lich jeder Reli­gi­ons­ge­mein­schaft als das ent­schei­den­de Kri­te­ri­um ange­se­hen. Das ist auch eine Abstim­mung mit den Füßen, die wohl bes­ser als Tele­fon­um­fra­gen etc. geeig­net ist, wirk­lich zu ergrün­den, wie wich­tig die Reli­gi­on den Men­schen ist – wer am Sonn­tag Mor­gen lie­ber im Bett bleibt, als sich auf­zu­raf­fen, in die Kir­che zu gehen und so ewi­ges See­len­heil zu erlan­gen, der bezeich­net sich zwar viel­leicht noch als Christ, glaubt aber nicht mehr an wirk­lich zen­tra­le Ele­men­te sei­ner Religion.

    Sowohl EKD als auch die Katho­li­sche Kir­che füh­ren Sta­tis­ti­ken über die Got­tes­dienst­be­su­cher: Von den Katho­li­ken bequem­ten sich 2011 nur noch durch­schnitt­lich 3 Mil­lio­nen zum Got­tes­dienst. Bei den Pro­tes­tan­ten sind es 860.000 und damit 3,6% der Mit­glie­der. Auch zu den „High­lights“ taucht ein gro­ßer Teil der Kir­chen­mit­glie­der nicht auf – zu den Weih­nachts­got­tes­diens­ten etwa nur ein Drittel.

    (http://de.statista.com/statistik/daten/studie/2637/umfrage/anzahl-der-katholischen-gottesdienstbesucher-seit-1950/ / http://www.schneider-breitenbrunn.de/2012–01/ekd-statistik-der-gottesdienstbesuch-ist-ruecklaeufig/)

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